Unterscheidung der Geister
Was meint „Unterscheidung der Geister“?
Die „Unterscheidung der Geister“ ist ein zentrales Element der ignatianischen Spiritualität, wie sie von Ignatius von Loyola, einem der Gründer des Jesuitenordens, entwickelt wurde. Sie beschreibt einen inneren Prozess, durch den Menschen erkennen können, welche Entscheidungen sie näher zu Gott führen und welche nicht.
Wann kann die Unterscheidung der Geister hilfreich sein?
Jeder Mensch steht täglich vor Entscheidungen, die seinen Lebensweg formen. Dabei gilt es, aus den vielen Möglichkeiten jene zu wählen, die auf den richtigen Weg führen. Doch was ist der „richtige“ Weg? Die ignatianische Spiritualität geht davon aus, dass wir hierfür Gottes „Stimme“ in unseren inneren Regungen wahrnehmen können. Gleichzeitig drängen sich andere Stimmen auf: die der Ungeduld, des Strebens nach Anerkennung, Macht oder Sicherheit, der Eifersucht, der Angst oder des Misstrauens. Nicht selten treffen wir Entscheidungen in guter Absicht, nur um später zu erkennen, dass sie von verborgenen, weniger heilsamen Motiven beeinflusst waren. Deshalb ist es entscheidend, inmitten des inneren Stimmengewirrs die Stimme Gottes zu erkennen.
Woher stammt die Technik der Unterscheidung der Geister?
Ignatius von Loyola entwickelte die Methode der inneren Klärung, die er „Unterscheidung der Geister“ nannte. Dabei greift er auf eine lange christliche Tradition zurück. Er fand für sich diese Praxis aus seiner eigenen Bekehrungserfahrung heraus, die er im „Bericht des Pilgers“ beschreibt. Seine Beobachtungen fasste er später in den „Geistlichen Übungen“ (Exerzitien) als Handbuch für die Exerzitienbegleitung zusammen.
Was meint „Geist“ bzw. „Geister“ im Kontext der Unterscheidung der Geister?
Mehr als von „Geistern“ spricht Ignatius von inneren Regungen (mociones) und meint dabei die Gedanken, Gefühle, Impulse oder Stimmungen, die uns bewegen. Diese können aus unterschiedlichen Quellen stammen: Der „gute Geist“ führt zu mehr Liebe, Hoffnung, Vertrauen, innerem Frieden – Zeichen, dass man sich auf Gott hin bewegt. Der „Feind der menschlichen Natur“ hingegen führt zu Unruhe, Angst, Selbstzweifel, Stolz – Zeichen, dass man sich von Gott entfernt.
Ignatius von Loyola drückt es in seinem Exerzitienbuch so aus: „Ich setze voraus, dass dreierlei Gedanken in mir sind, nämlich einmal mein eigener, der aus meiner bloßen Freiheit und meinem Wollen hervorgeht; und zwei andere, die von außen kommen: der eine, der vom guten Geist kommt, und der andere vom bösen.“
Worauf zielt die Unterscheidung der Geister?
Das Ziel der Unterscheidung der Geister ist es, Gottes Willen im eigenen Leben zu erkennen. Dabei ist die moralische Unterscheidung vorausgesetzt, dass etwas Böses nicht gewählt und angestrebt werden darf. Doch unter den in sich guten oder neutralen Dingen, die ich tun kann, geht es darum zu fragen, was hilft oder hindert, dem eigenen Lebenssinn und der Berufung – im Letzten Gott – zu folgen.
Wie funktioniert die Unterscheidung der Geister?
Die folgenden sieben Schritte bieten eine alltagstaugliche Anleitung, um gut zu entscheiden:
- Sich Zeit nehmen, um zu überlegen: Steht überhaupt eine Entscheidung an?
Bevor ich mich mit möglichen Optionen beschäftige, frage ich mich: Steht wirklich eine Entscheidung an? Manchmal bilde ich mir nur ein, wählen zu können, in Wahrheit ist der Handlungsspielraum aber durch äußere Umstände eingeschränkt. Oder ich habe mich innerlich längst festgelegt, ohne es bewusst zu merken: Auch dann gibt es möglicherweise nicht mehr wirklich etwas zu entscheiden. In solchen Momenten hilft es, ehrlich zu prüfen, ob ich tatsächlich vor einer Entscheidung stehe.
- Wirklich alle Optionen, die es gibt, sammeln.
Bevor ich mich entscheide, lohnt es sich, die Bandbreite der Optionen bewusst zu erkunden. Oft beschränke ich mich unbewusst auf zwei Alternativen. Dabei gibt es vielleicht noch ganz andere Wege. Es braucht Offenheit, Kreativität und manchmal auch den Mut, ungewohnte oder unbequeme Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, selbst wenn sie nicht sofort naheliegen oder mir zunächst widerstreben. Auch das vertrauensvolle Gespräch mit anderen, die meine Freiheit akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt.
- Möglichst unvoreingenommen abwägen, was für und was gegen eine Option spricht.
Eine gute Entscheidung braucht Klarheit und Sachlichkeit. Ich versuche, möglichst unvoreingenommen das Für und Wider jeder Möglichkeit zu betrachten. Dabei frage ich mich: Was ist realistisch umsetzbar? Was entspricht meinen Werten und ist ethisch vertretbar? Oft hilft es, andere um ihre Sichtweise zu bitten. Ein ehrlicher Blick von außen kann auch hier neue Perspektiven eröffnen und blinde Flecken aufdecken.
- Die inneren Regungen verkosten: Was schmeckt nach mehr Vertrauen, Hoffnung und Liebe? Was riecht nach Angst, Enge, Fremdbeeinflussung oder Selbstbezogenheit?
Ich nehme mir Zeit, um meine inneren Regungen bewusst wahrzunehmen. Welche Gefühle, Gedanken oder Stimmungen lösen die verschiedenen Optionen in mir aus? Mit feinem Gespür koste ich diese inneren Bewegungen aus – wie ein Sommelier, der einen edlen Tropfen prüft. Ich bin offen für alles, was sich zeigt: Freude, Unruhe, Frieden, Widerstand. Jede Regung kann ein Hinweis darauf sein, was wirklich in mir lebt. Ignatius weist dabei darauf hin, dass die „Richtung“ der Entscheidung ausschlaggebend sein kann: Bin ich auf dem Weg vom Besseren zum weniger Guten, wird Gottes Geist mich eher unruhig lassen, beim Weg vom Guten zum Besseren schenkt er mehr und mehr innere Klarheit und Ruhe, auch wenn deutlich wird, dass dieser Weg mir etwas abverlangt.
- Im Gebet oder in der Stille die Entscheidung vor Gott bringen und um Klarheit bitten.
In Momenten der Unterscheidung wende ich mich an Gott als meinen inneren Kompass. Ich bitte um Mut, Klarheit und die innere Freiheit, mich nicht von Ängsten, dem Bedürfnis nach Anerkennung, dem Streben nach Einfluss, Gewohnheiten oder falschen Sicherheiten leiten zu lassen. Mit Gottes Hilfe kann ich besser erkennen, welche Entscheidung dem Leben aus innerer Freiheit heraus dient. Ich möchte Gottes Willen spüren können. Darum bitte ich Gott im Gebet und in einem Moment der Stille.
- Nach reiflicher Abwägung eine Wahl treffen, die zukunftsfähig ist.
Ich betrachte die Alternativen noch einmal im Licht der Zukunft: Welche Entscheidung lässt mich innerlich freier, gelassener und lebendiger werden – nicht nur heute, sondern auch morgen und darüber hinaus? Wo spüre ich Wachstum, Hoffnung und Weite? Ignatius unterscheidet zwei Grundbewegungen der Seele, wo Menschen sich darum bemühen, ihr Leben an Gott auszurichten: Trost, der zum Leben führt, und seinen Gegensatz, der mich einengt oder lähmt: „Untrost“, „Misstrost“. Diese Unterscheidung kann mir helfen, die Richtung zu erkennen, die wirklich trägt.
- Die getroffene Entscheidung in eine Handlung umsetzen.
Eine Entscheidung wird erst dann wirklich wirksam, wenn ich sie in die Tat umsetze. Sie darf nicht nur im Kopf oder im Herzen bleiben, sondern braucht konkrete Schritte. Dabei ist mir bewusst: Auch eine wohlüberlegte Entscheidung ist nicht in Stein gemeißelt. Ich bleibe wachsam und bereit, sie immer wieder neu zu prüfen, wenn sich die Umstände ändern oder neue Einsichten auftauchen. So kann es wichtig sein, dass meine Entscheidung auch von denen angenommen wird, die in dem betreffenden Bereich Verantwortung tragen, z.B. beim Engagement in einem sozialen Projekt oder der Entscheidung zu einer Ehe oder einer geistlichen Gemeinschaft.
Was kann neben diesen sieben Schritten der Unterscheidung der Geister helfen, eine gute Entscheidung zu treffen?
Wenn wichtige Entscheidungen anstehen, ist es unverzichtbar, sich bewusst eine Zeit der Stille und des Innehaltens zu nehmen. Das kann etwa in Form von Exerzitien geschehen. Exerzitien sind Zeiten des Rückzugs, der Stille und des Gebets. Sie bieten den Raum, um sich intensiv mit einer Lebensfrage auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht nur um Nachdenken, sondern um ein inneres Hören auf Gottes Stimme.
Auch das Gespräch mit einem geistlichen Begleiter bzw. einer geistlichen Begleiterin kann Klarheit bringen. Im Prozess der geistlichen Begleitung wird das eigene Leben im Licht des Glaubens betrachtet. Dabei geht es nicht um Beratung, sondern um das gemeinsame Hören auf Gottes Wirken im eigenen Leben. Geistliche Begleitung hilft, innere Bewegungen (Trost, Unruhe, Klarheit, Zweifel usw.) besser wahrzunehmen und zu deuten.