Joseph Pignatelli: Der Wiederhersteller

Der Mai ist in Rom normalerweise ein schöner Monat, das war allerdings im Jahr 1769 zumindest für die Jesuiten nicht der Fall. Zwischen 1762und 1768 wurden sie aus Portugal, Spanien, Parma und Malta verbannt und in Frankreich, Neapel und Sizilien - Territorien, in denen die verschiedenen Zweige des Königs-hauses der Bourbonen herrschten - als religiöser Orden aufgehoben. Die gegen die Gesellschaft Jesu formell vorgebrachten Beschuldigungen, waren falsch, ja geradezu lächerlich; doch der Zorn ihrer Feinde wurde gar nicht von diesen Gerüchten ausgelöst. In einer Zeit des allgemeinen religiösen Verfalls waren die Jesuiten noch immer eine Kraft, mit der man rechnen musste, manche von ihnen hatten großen Einfluss am Königshof, viele andere waren voll mit der Erziehung der Jugend beschäftigt; in diesem Bereich war ihre Stellung vorherrschend.

Aber ihre pädagogischen Methoden wurden für veraltet gehalten, ihre Morallehre galt als zu lax, ihre Bestrebungen galten als politisch und eng mit den weltlichen Machtan-sprüchen des Heiligen Stuhls verknüpft. In der Tat identifizierte sich die Gesellschaft Jesu sowohl in ihren guten wie in den schlechten Entscheidungen so eng mit dem Papsttum, dass die Feinde der Kirche von Rom darin die erste Recht-fertigung für ihre Entfernung sahen. Im Mai 1769 gab es ein Konklave für die Wahl eines neuen Papstes als Nachfolger Clemens' XIII., der die Jesuiten durch dick und dünn beschützt hatte. Alle wussten, dass die Bourbonen nur einen Kandidaten akzeptieren würden, der gewillt war, die Gesellschaft Jesu weltweit zu verbieten. Ihre Botschafter ließen die Kardinäle nicht im Zweifel darüber, dass die Alternative eine Kirchenspaltung - von Rom getrennte Nationalkirchen - sein würde.

Leiter des Ordens war seit 1758 P. Lorenzo Ricci, ein Mann mit breitem akademischem Hintergrund, aber mit wenig Führungserfahrung. "Ich hätte ihn für höchst zuständig gehalten, um die Gesellschaft auf einer ruhigen, friedlichen See zu leiten", sagte ein Freund von ihm, "aber ich spürte, dass er wegen seines liebenswürdigen Wesens weniger dafür ausgerüstet war, inmitten heftig tobender Wogen am Ruder zu sein". Ricci beschränkte sich auf die geistlichen Möglichkeiten, ermahnte die Jesuiten zum Gebet, versäumte es aber, die vorhandene Bereitwilligkeit einig weniger Kardinäle, vieler Bischöfe in Frankreich oder der österreichischen Kaiserin Maria Theresia zu mobilisieren,von deren Entscheidung vieles, wenn nicht alles abhing.

Mit großer Freude empfing er jedoch in jenem selben Monat Mai 1769 einen 35-jährigen schlanken Spanier ausfürstlichem Geblüt: P. Giuseppe Pignatelli. Der General hatte wiederholt von vielen innerhalb und außerhalb der Gesellschaft ein Loblied über diesen Mann singen gehört. Giuseppe war als Fünfzehnjähriger in den Orden eingetreten, hatte 1762 die Priesterweihe empfangen und dann als Lehrer am Jesuitenkolleg in Saragossa und als Seelsorger für die Häftlinge im Gefängnis der Stadt gearbeitet. Sein freundlicher Dienst für die verurteilten Häftlinge hatte diesem Grande Spaniens den einzigartigen Titel eines "Vaters der zum Tod am Galgen Verurteilten" eingebracht. Das allesendete im April 1767, als König Karl III. die Jesuiten aus seinem Königreich vertrieb.

Zuerst delegierten der Rektor des Kollegs und dann der Provinzial ihre Autorität an P. Pignatelli, und machten ihn, der damals noch nicht einmal seine Letzten Gelübde abgelegt hatte, zum Verantwortlichen für 600 Jesuiten. Er wurde ihrem Vertrauen sicherlich gerecht, als er sich um seine vertriebenen Brüder auf See und zu Land kümmerte, bis sie Ende 1768 die im Päpstlichen Staat gelegene Stadt Ferrara erreicht hatten. "Da wir uns des Namens Jesu rühmen", hörte man ihn wiederholt sagen, um ihnen immer von neuem Mut zu machen, "ist es aber vernünftig, dass wir seine Schmach, seine Schmerzen und sein Kreuz teilen!" Haben er und Ricci die Bedeutung ihrer ersten und einzigen Begegnung erkannt? Ricci hat sich damit abgefunden, dass er Zeuge des offensichtlichen Sterbens der Gesellschaft sein sollte, zu deren Leiter er bestellt worden war; während es Pignatellis Bestimmung war, den scheinbar toten Leib vor dem Zerfall zu bewahren, zu leben, um seine zerschlagenen Glieder zusammenzuhalten. Am Ende ihres Gesprächs fiel Giuseppe auf die Knie und Pater General segnete ihn.

Am 18. Mai 1769 wurde der neue Papst gewählt, Clemens XIV. Er war kein Feind der Gesellschaft Jesu, aber er war auch kein so starker Papst, wie es sein Vorgänger gewesen war.

Fast vier Jahre lang war er imstande, dem Druck vonseiten der Botschafter Spaniens, Portugals und Frankreichs standzuhalten, aber sie gaben nicht auf. Jedes Zugeständnis, jede gegen die Jesuiten vorgenommene kleine Maßnahme, um die Bourbonen zu besänftigen, brachte sie der Erfüllung ihres einzigen Wunsches näher, nämlich der vollständigen Aufhebung der Gesellschaft Jesu. Sie erfolgte am 21. Juli1773, als Clemens XIV. unter beträchtlichem Druck das Breve Dominus ac Redemptor unterschrieb. Der einzige wirkliche Beweggrund dazu war für ihn die Erhaltung deschristlichen Friedens; und gerade das hat der Papst nicht er-reicht. Am Ende könnte - wie ein moderner Historiker ver-mutet hat - die Aufhebung des Ordens "bestenfalls als ein nackter Staatsführungsakt des 18. Jahrhunderts verstanden werden: Etwas, das nicht hatte geschehen müssen, und etwas..., das Päpste und katholische Monarchen schon bald bedauern würden."

Giuseppe Pignatelli, der im Februar 1771 seine Letzten Gelübde abgelegt hatte und sich damit für immer an den Leib band, dessen freie Existenz bedroht war, wird die Auf-hebung nur einmal kommentieren, nämlich an dem Tag, an dem das Breve für die spanischen Jesuiten in Ferrara verlesen wurde. "Warum", so fragte er seine schmerzerfüllten Mitbrüder, "warum sollten unsere Herzen in dieser Bedrängnis bluten? Warum sollten unsere Augen sorgenvoll weinen? Wir wissen, dass wir in dieser ganzen unseligen Geschichte keinen Fehler begangen haben. Jene, die unsere Aufhebung verursacht oder zu ihr beigetragen haben, sind es, die allen Grund haben, niedergeschlagen zu sein - nicht wir". Und während er an die Opfer so vieler Jesuiten, besonders in den Kollegien, erinnerte, sagte er abschließend: "Es wird der Zeitpunkt kommen, wo sie laut nach diesen Patres rufen werden, sie sollten zu ihnen zurückkehren, doch ihr Schreiwird vergeblich sein; sie werden sie nicht finden".

Pater Ricci, der auch in der Engelsburg in Rom eingekerkert war, bestand darauf, dass die Aufhebung der Gesellschaft Jesu genauso ungerechtfertigt war wie seine eigene Einkerkerung, aber vergebens: In Isolation und schlecht behandelt, starb er zwei Jahre später im Gefängnis. Der neue Papst, Pius VI., der gleichfalls von den Bourbonen schikaniert wurde, ergriff die Gelegenheit und, um den Jesuitengeneral zu rehabilitieren, bereitete er ihm die feierlichste Begräbnisfeier, ließ seinen Leichnam mit höchsten Ehren zur Kirche Il Gesù überführen und in der Generalsgruft beisetzen. Ricci's großer Nachfolger als General im 19. Jahrhundert, Pater Jan Roothaan, ließ für Lorenzo Riccidie Grabinschrift anbringen: "Dem großen Märtyrer unseres Ordens".

Mit gleichem Recht könnte Giuseppe Pignatelli "der große Beichtvater des Papstes" genannt werden. Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu brachte der Kirche keinen Frieden. "Wir haben den Sohn getötet", erklärte einer der spanischen Agenten in Rom, "nun bleibt uns nichts anderes übrig, als auf gleiche Weise gegen die Mutter vorzugehen, unsere Heilige Römische Kirche". Pius VI. war nicht in der Lage, der militärischen Macht und den revolutionären Ideen standzuhalten. Von den alten Feinden der Jesuiten in der Kirche erhielt er keine Hilfe; sie unterstützten einen moralistischen, aufgeklärten Glauben in einer Nationalkirche.

Im Februar 1798 besetzten die französischen Truppen die Ewige Stadt und riefen die Römische Republik aus. Der Papst verweigerte den Verzicht auf seine weltliche Macht, wurde gefangen genommen und vom Vatikan nach Sienagebracht und von dort in ein Kloster in der Nähe von Florenz. Als Pater Pignatelli diese Nachricht erreichte, war er tief betrübt. Er hatte von 1773 bis 1779 in Bologna gelebt, mit der Tröstung durch die Zeichen der Zustimmung, die ihm Papst Pius bezüglich seiner Versuche zur Weiterführung oder Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu hatte zugehen lassen. Der letzte dieser Versuche war die Rückkehr des Ordens in das Herzogtum Parma im Jahr 1794. Giuseppe Pignatelli hatte sich nach Parma begeben und dort am 6. Juli 1797 seine Ordensgelübde, unter dem Banner des Kreuzes zu kämpfen, erneuert, um nach dem Willen des Stellvertreters Christi ausgesandt zu werden.

Danach eilte er, selber ein Bettler, aber durch die Gelübdeerneuerung innerlich gestärkt, mit dem ganzen Geld, das er besaß, nach Florenz, um es dem gefesselten Papst anzubieten. Geschockt vom Anblick der ausgezehrten Gestalt des Papstes, brach Pignatelli in Tränen aus und kniete vor ihm nieder.Pius dankte ihm, nannte ihn seinen wahren Sohn und er-teilte ihm den Apostolischen Segen. Bei dieser Gelegenheit dürfte der Papst Pater Pignatelli die Erlaubnis zur Eröffnung eines Noviziats in Colorno bei Parma gegeben haben. Es war damals das einzige Jesuitennoviziat in Westeuropa. Die ersten sechs Novizen trafen im November 1799 ein. Inzwischen war Pius VI. in einem französischen Gefängnis gestorben, die Kardinäle wurden vertrieben, die Feinde der Kirche prahlten, sie hätten den letzten Papst begraben.

Als Novizenmeister betonte Pater Pignatelli vor allem die Notwendigkeit des geistlichen Lebens in der Einheit mit Christus, ohne dabei die Übung solider Tugenden und der Abtötung zu vergessen. Es genügte, auf ihn als Vorbild zuschauen: Er fegte die Gänge des Hauses, ersetzte, wenn nötig, jeden im Haus, einschließlich des Kochs; er ging hinaus auf die Straßen, erbettelte Almosen von den Passanten; er besuchte die Spitäler und die Gefängnisse. Die einzigen Bitten, auf die er nicht hörte, waren die seiner Mitbrüder, die ihn besorgt baten, sich in seinem Eifer etwas zurückzuhalten.

Bestürzung löste bei ihm andererseits 1803 die Ernennung zum Provinzial von Italien aus. In dieser Eigenschaft fiel es ihm zu, mit König Ferdinand, dem Sohn Karls III., über die Wiedererrichtung der Gesellschaft Jesu in Neapel zu sprechen. Diesmal gab der Papst, der 1800 gewählte Pius VII., seine Zustimmung schriftlich ab und bestätigte am 30.Juli 1804 die Zugeständnisse, die den Jesuiten in Weißrussland gewährt worden waren und weitete sie auf das Königreich der Beiden Sizilien aus. Viele ehemalige Jesuitenbegaben sich darauf in jenes Königreich, um wieder in den Orden aufgenommen zu werden, und begannen von neuem, ihre apostolische Aktivität zu entfalten. Dass auf dem Werk von Pater Pignatelli der Segen Gottes ruhte, wurde nicht nur durch den spirituellen Eifer der Jesuiten, sondern auch durch die Vorsehung Gottes offenkundig, durch die sein treuer Diener enorme Summen für Werke der Nächstenliebe ausgeben konnte. Doch auch das Kreuz war nicht weit weg: Im Februar 1806 zog Napoleons Armee in Neapel ein, und trotz der von Pignatelli versuchten diplomatischen Manöver mussten er und seine Männer Neapel verlassen. Sie gingen nach Rom, wo Giuseppe Pignatelli sofort eine Audienz bei Papst Pius erhielt. Der Papst war tief bewegt und versicherte ihm, dass er nur zu gut um den von den Jesuiten gelobten loyalen Gehorsam gegenüber dem Stellvertreter Gottes Bescheid wusste, und versprach, dass sie in ihm immer einen liebenden Vater finden würden. Er verfügte, dass die verbannten Jesuiten sich wieder in Rom niederlassen und die Kirche Il Gesù und das Römische Kolleg übernehmen sollten. Für Pater Pignatelli muß es ein tiefergreifendes Erlebnis gewesen sein, als er wieder Il Gesù betreten konnte. Man kann ihn geradezu vor sich sehen, wie er vor dem Grab des Hl. Ignatius kniet und dann zur Generalsgruft hinabsteigt, um einen Augenblick für die Seelenruhe des allergehorsamsten Lorenzo Ricci zu beten.

Die Anwesenheit so vieler Jesuiten in Rom würde wahrscheinlich für die Feinde der Gesellschaft eine ständige Quelle des Ärgernisses darstellen. Deshalb suchte und fand Pignatelli andere Apostolate für sie außerhalb des Päpstlichen Staates: Er besetzte mehrere Diözesanseminare mit Jesuiten und verlegte seine eigene Wohnung in das Spital Sankt Pantaleon, im Schatten des Kolosseums, nahe der Kirche der Madonna vom Guten Rat. Hier führte der 70-jährige Jesuit ein verborgenes Leben in intensiver Abtötung und Gebet, stand mit seinem Rat hohen Würdenträgern der Kirche und des Staates bei und unterstützte viele Arme mit Almosen, deren Quellen nie zu versiegen schienen. Seine Freunde waren Legion; zu ihnen gehörte vor allem Papst Pius VII., der ihn zum Kardinal gemacht haben würde, wenn ihm nicht ein befreundeter Jesuit davon abgeraten hätte.

Im Juni 1809 erhielt der "große Beichtvater des Papstes" eine weitere Gelegenheit, seine unerschütterliche Loyalität zu beweisen. Die französischen Truppen hatten neuerlich Rom besetzt, um den Widerstand des Papstes angesichts der gegen die Vorherrschaft der Kirche gerichteten Politik Napeleons zu brechen. Pius zog sich als freiwilliger Gefangener in den Quirinalsplast zurück und weigerte sich, mit dem Kaiser zu verhandeln, der dann als Rache alle päpstlichen Besitzungen beschlagnahmte und ihn zum Armenmachte. Als Giuseppe Pignatelli von der schrecklichen Situation des Papstes hörte, brachte er sofort eine hohe Geldsumme zusammen, die er zum Quirinal schickte. Als Piushörte, dass das Geld vom Provinzial im Namen der Gesellschaft Jesu kam, hob er voller Staunen und Freude darüber, dass von den Verbannten Hilfe gekommen war, seine Blicke zum Himmel und lehnte es mit einer taktvollen Geste ab, mehr als die Hälfte davon anzunehmen. Kurz danach wurde der Papst aus Rom entführt und drei Jahre lang als Gefangener in Savona festgehalten.

Pater Pignatelli sollte weder den Papst je wiedersehen noch den Tag im Jahr 1814 erleben, an dem Pius VII. die volle Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu verkündete. Pignatelli starb in Sankt Pantaleon am 15. November 1811, nachdem er sich im Dienst der Kirche und der Gesellschaft Jesu mit einer bevorzugten Option für die Armen, die Gefangenen und die Verbannten erschöpft hatte. Ein anderer Papst Pius - der Elfte dieses Namens - sprach Pater Pignatelli 1933 selig, wobei er vor allem an die Akte der Barmherzigkeit des Jesuiten gegenüber seinen päpstlichen Vorgängern erinnerte. 1954 erfolgte dann durch Pius XII. seine Heiligsprechung.

Marc Lindeijer SJ, Rom

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