Jesuiten 2021-4

SCHWERPUNKT 12 Der vermessene Schlaf Eine Kurzgeschichte von Michael Röth Der Straßburger Somniometer des Matthieu Emile Roullande ein Schlafregulator gibt bis heute Rätsel auf. Roulland, Erfinder der Hypnodaesie, der Schlafvermessung, würde heute als einer der bedeutendsten Forscher des Barock gelten, hätten seine Experimente auch nur den geringsten Standards der Wissenschaftlichkeit genügt. So jedoch blieb er alleine durch das bekannte Spottgedicht in Erinnerung, das jedem müden Schüler aus Lehrermund entgegenhallt: „Es schläft Matthieu, der Hypnodät, von mittags früh bis morgens spät.“ Roullandes Maschine gilt dagegen als einzige Hinterlassenschaft des Elsässers. Sie entstand nach seinen Plänen in der Werkstatt des genialen Konstrukteurs und Wissenschaftlers Christiaan Huygens um 1678 in Den Haag. Vermutlich wollte Roullande damit seinen Schlaf in bestimmten Traumphasen unterbrechen und gleichzeitig vermessen. Hätte Roullande die Möglichkeiten moderner Schlafforscher gehabt, wer weiß, ob seine Forschungen so zu einem Ziel gelangt wären. Andererseits verfügte er schon in frühen Jahren über die Fähigkeit, Klarträume selbst zu steuern, ein Phänomen, das erst jüngst erforscht und bestätigt wurde. Schon dem jungen Roullande fiel dabei auf, dass er auf diese Weise komplexe Schulaufgaben seines Hauslehrers meistern konnte. Erst als ihn seine Versuche mit dem Somniometer nicht weiterbrachten, entsann er sich dieser Methode zur Lösung großer wissenschaftlicher Fragen seiner Zeit. Vermutlich trieb ihn hierbei die Verzweiflung an, endlich originäre Erkenntnisse zu erreichen und nicht nur vorhandenes Wissen zu rezipieren. Dazu versuchte er wohl in den Traumphasen ganz bewusst zu verbleiben und die dabei äußerst kreative Hirntätigkeit zur Problemlösung auszunutzen. Leider können wir heute nur erahnen, welchen damals aktuellen astronomischen, mathematischen oder physikalischen Fragen er sich wohl zuwandte. Im Sommer 1705 wies er seinen Hausdiener an, ihn unter keinen Umständen zu stören, was dieser auch konsequent über drei Monate befolgte. Als man dann das Schlaf- und Arbeitszimmer Roullands betrat, hatte ihn die sommerliche Trockenhitze bereits zu einer unversehrten Mumie konserviert, dass es wirkte, als schlafe er immer noch. Auch wenn die moderne Forschung von einem Herzstillstand ausgeht, wünsche ich mir, dass der Hypnodät von einer Erleuchtung überwältigt zur nächstgrößeren Einsicht gelangte und sich in der unendlichen Weite der Erkenntnis verlor. Als 1809 Napoleon erneut in Straßburg weilte, ausgerechnet neben Roullandes Haus, und seine Nachtruhe durch das laute Ticken des immer noch funktionierenden Somniometer empfindlich gestört fühlte, wies er mit den berühmten Worten „Nicht durch Träume, nur durch Taten erringt man Ruhm“, seinen Adjutanten an, drei Schüsse in das filigrane Zahnräderwerk zu feuern. Der Apparat stand sogleich still, und es gelang nie wieder, ihn in Gang zu setzen. © MartinPBGV iStock.com Michael Röth ist freier Schriftsteller in Ludwigshafen. Der Historiker schreibt gern Kurzgeschichten und Miniaturen. Die obige Erzählung ist unveröffentlicht.

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