Jesuiten 2023-3 (Österreich-Ausgabe)

Balanceakt auf dem Tellerrand Philipp Räubig sieht Essen als Austragungsort von (Selbst-)Kritik und entdeckt ein dreifaches „Du“ jenseits des Tellerrands. Auf meinem Teller spiegeln sich Konflikte zwischen meinen ethischen Überzeugungen, meinen Gewohnheiten, Vorlieben und sozialen Beziehungen. Ein Beispiel: Ich bin mir ethisch sehr sicher, dass die Produktionsbedingungen von Käse nicht in Ordnung sind, weil Kühe, obwohl sie sehr soziale Wesen sind, in zu engen Ställen in ihrem eigenen Mist leben und dort stetig geschwängert, von ihren Kindern getrennt und möglichst effizient abgemolken werden. Aber dennoch kann ich oft nicht widerstehen, wenn meine Partnerin Wildblumenkäse in den Kühlschrank legt. Wenn ich dann beherzt in mein Käsebrot beiße, habe ich schon vergessen, unter welchen Produktionsbedingungen diese Leckerei entsteht. Wie kritisch ich auch eingestellt bin, wie viele Dokumentationen, Artikel und Vorträge ich auch gesehen habe: Ich scheitere an meinen Gewohnheiten und an meiner Verdrängung. Es gibt gleich zwei Konflikte, wenn man zu einem Grillabend kommt, ohne anzukündigen, dass man keine tierischen Produkte essen möchte. Erstens: Trockenbrot und Gurkensalat allein machen nicht glücklich. Mein Wunsch ist offensichtlich noch nicht normal. Und hinzukommt, dass allein mein anormales Verhalten als solches ein kritisches Moment hat. Verzichte ich auf Fleisch oder andere tierische Produkte, fühlen sich andere oft genötigt, ihr eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Es geht ihnen wie mir: Man weiß oder ahnt, dass vieles an unserer Essensproduktion nicht stimmt, aber man vergisst so schnell, und die eigenen Gewohnheiten und sozialen Normen machen Veränderung schwerer als man denkt. So wird das Essen immer wieder Ort der (Selbst-)Kritik und damit auch Ort von offenen oder unterschwelligen Konflikten. Vielleicht kennen Sie auch die angespannte Situation bei einer Familienfeier, wo sich entweder jemand nicht traut, Essen abzulehnen, oder für den Verzicht auf Wurst und Käse spöttisch beäugt wird. Dabei ist das gemeinsame Essen eigentlich ein Ort gelassener Gespräche, wo man Gemeinschaft leben kann, ohne zu streiten. Denken Sie an das Essen nach schwierigen Besprechungen oder das Gemeindefest, wo sich alle beim Buffet treffen und locker in Kontakt kommen. Denken Sie an Abende mit guten Freund*innen, an eine sichere Atmosphäre, in der man sich traut, über Sorgen, das eigene Scheitern, aber auch über naiv-utopische Vorstellungen der Welt ins Gespräch zu kommen. Für mich sind diese Erfahrungen von Gemeinschaft etwas, das man auch im Abendmahl wiederentdecken kann. Wir kommen in einer Gemeinschaft zusammen und feiern gemeinsam, unabhängig von ökonomischem Stand, politischer Gesinnung oder schwelenden Konflikten. Dabei sind wir so verschieden wie in jedem anderen Teil der Gesellschaft. Und Konflikte gibt es in und unter uns genug. Wir können also die Erfahrung machen, dass hinterm Tellerrand ein „Du“ ist. Und das in dreifacher Weise: Erstens ist dort ein „Du“, welches betroffen ist von den Produktionsbedingungen meines Essens. Menschen, die für unser Essen arbeiten und unzählige Tiere, die dafür leben, leiden und sterben. Essen ist politisch. Zweitens ist dort ein „Du“, das entweder mit mir diese Bedingungen stillschweigend akzeptiert 8 SCHWERPUNKT

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