Jesuiten 2023-3 (Schweiz-Ausgabe)

Es kann krank machen und zur Genesung beitragen. Essen wird politisch, wenn sich etwa vegetarisch und vegan Ernährende für Tierschutz, artgerechte Haltung oder den Verzicht auf Fleischkonsum einsetzen, oder wenn bestimmte Lebensmittel boykottiert werden, weil deren massenhafte Produktion die Natur nachhaltig schädigt. Unterdrückerische Anbau- und Verarbeitungsmethoden führen zu Aufrufen, gewisse Marken zu meiden und auf Siegel wie „Fair Trade“ zu achten. Politisch wirksam wollen Essen beziehungsweise der Verzicht darauf besonders beim Hungerstreik sein, mit dem heute in der Tradition Gandhis Asylsuchende, inhaftierte Personen und Aktivist*innen der „Letzten Generation“ Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen wollen. Bioprodukte und Gemüsekisten stehen für einen Teil der Gesellschaft, der nicht so sehr auf das Geld achten muss, wie die Tafeln oder Suppenküchen für Menschen, die es sich nicht leisten können zu wählen. Regionale Esstraditionen und lokal spezifische Gerichte besitzen enorme Symbolkraft, immer auch verbunden mit dem, was die Natur in bestimmten Gegenden hervorbringt – man denke hier nur an die bunte Vielfalt von Knödeln, Spätzle oder Fischsemmel in Deutschland. Im Essen verbinden sich Natur und Kultur auf besonders tiefgreifende Weise. Wie sehr es identitätsstiftend (auch stereotypbildend) sein kann und zugleich durch die Begegnung unterschiedlicher Kulturen neue Formen annimmt, zeigt das sogenannte Fusion Food – kreatives Resultat eines Fundus von Zutaten, Gewürzen und Zubereitungsformen. Diese „Hypercuisine“ (Byung-Chul Han) wirft die Vielfalt der Esskulturen jedoch nicht einfach blind in einen Topf, sondern lebt von den Unterschieden. Wie elementar-urwüchsig, zugleich geistigemotional und kulturell feinsinnig Essen sein kann, ist mir während meiner Zeit unter Inuits in der Arktis Kanadas deutlich geworden. Ich war mit Jugendlichen und zwei Ältesten im Frühwinter mit Schneemobil und Schlitten aufgebrochen, um den Fischvorrat für die kleine Gemeinde Ulukhaktok zu fangen. Neben der Subsistenzwirtschaft ging es dabei vor allem um die Weitergabe der Tradition. Der Fisch steht auch für die geistig-spirituelle Nahrung für die geschundenen Seelen der Jugendlichen, die durch den kulturellen Genozid und das damit zusammenhängende Trauma geschädigt wurden. Das Essen und alle damit verbundenen Wörter und Rituale sind Ausdruck einer vom Aussterben bedrohten Lebensform. Auch nicht vergessen werde ich das gemeinsame „Brezenbacken“ mit den Frauen im Ort. Ich erinnere mich sehr gut an den „ProustEffekt“, als ich durch den Duft von frischen Brezen – ebenso wie Marcel Proust im Buch Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den von Madeleines – unwillkürlich zurückversetzt wurde in meine Heimat und mich darüber freute, etwas davon teilen zu können. Essen ist wichtig für Körper, Geist und Seele, für die Beziehung zur Natur und zu den Menschen. Indigene Menschen danken dem Geist der Tiere und der Pflanzen, die sie nähren – wenn sie etwas nehmen, lassen sie ein Geschenk zurück. Essen zeigt uns wie kaum sonst etwas, wie sehr wir verflochten sind mit dem Kreislauf der Natur. Mit dem, was wir zu uns nehmen, sollten wir ebenso sie wie auch unseren Körper achten und ehren. Barbara Schellhammer ist Professorin für Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie München und leitet dort das Zentrum für Globale Fragen. Neben Brezen liebt sie Grünzeug in allen Variationen. Neuer Studiengang „Ethics of Intercultural Dialogue“ Wie geht Ethik in einer globalisierten Welt voller Unterschiede, Brüche und Ungerechtigkeiten? Mit ihrem innovativen Online-Zertifikatsstudium bietet die Hochschule für Philosophie Orientierung. Tiefgründige philosophische Reflexion trifft auf konkrete Anwendungsfelder in Wirtschaft, Medizin und Medien. Mehr Informationen gibt es auf der Website der Hochschule unter https://hfph.de/en/study-programmes/ ethics-of-intercultural-dialogue und bei Prof. Dr. Barbara Schellhammer. Foto: © Hanna Hoffmann 3 SCHWERPUNKT

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