Jesuiten 2023-4 (Österreich-Ausgabe)

ten Frau und jedem getöteten oder verwaisten Kind steht die Ablehnung einer Begegnung. Jede Rakete, gerichtet auf Zivilisten*innen, bedeutet die Weigerung, einem anderen Volk zuzuhören. Die Fähigkeit und der Wille zum Zuhören sind entscheidend auf dem Weg zur Begegnung. Zuhören bedeutet, Unterschiede zuzulassen und anzunehmen. Die menschliche Gemeinschaft lebt von dieser Weise der Begegnung. Ohne zuerst auf Gott zu hören, ist eine zwischenmenschliche Begegnung kaum möglich. Er kommt zu uns als Mensch, um uns aus Liebe zuzuhören. Ohne auf sich selbst zu hören, ist ein Mensch nicht in der Lage, einem anderen Menschen zu begegnen. Ohne die Wahrnehmung der Zerbrechlichkeit und des Ausmaßes der Ängste im eigenen Herzen ist es unmöglich, auf das verletzte Herz eines anderen Menschen zu hören. Ängste erzeugen Misstrauen und können Beziehungen schaden. Liebevolles Zuhören ist ein Zeichen der Demut, ohne die keine Begegnung möglich ist. Demut ist die Grundlage für eine dauerhafte Begegnung und eine reife Gemeinschaft freier Söhne und Töchter großer Staaten und Nationen. Der heilige Ignatius von Loyola hinterließ uns ein gutes Werkzeug für die Begegnung: Die Exerzitien und die Gewissenserforschung sind eine Hilfe, Gott, einander und sich selbst durch achtsames Zuhören zu begegnen. Eine tiefe Begegnung mit Gott und anderen Menschen erfuhr ich in Charkiw, als der Krieg ausbrach und ich in eine Stadt kam, die von fast einer Million Einwohner*innen verlassen wurde, weil sie an der Grenze zu Russland liegt. Was mich in die Begegnung führte, war mein ständiger Blick auf den Gekreuzigten oder eher sein liebevoller Blick auf mich. Die tägliche Reflexion über die Dritte Woche der Exerzitien (Leidensphase), die sich spontan in mir abspielte, schenkte mir immer wieder die Kraft, durchzuhalten. Die Dritte Woche half, im Glauben an das Kreuz Jesu Christi und an seine verborgene und wahre Kraft zu wachsen. Alles war wirklich und wahr: die Kraft seines Kreuzes, die die Todesangst und den Tod selbst überwindet. Im Hof unserer Kirche in Charkiw durfte ich täglich Zeuge eines Spektakels sein, als stiege der Herr vom Kreuz herab, um den Menschen in Not zu dienen, auch durch mein Herz, meine Ohren und Hände. Manchmal streckte Er seinen Arm einladend herunter oder Er lächelte uns einfach trostvoll vom Kreuz zu, uns, die wir im Schmutz, in Kälte, in Hungersnot und oft schlicht ahnungslos in Seiner Gegenwart verweilten. Dort, unter dem Kreuz, begegnete ich meiner tiefen Angst und einem lauten Wutschrei gegenüber den Feinden. Der Gekreuzigte stand uns allen bei, um die ständige Todesangst zu überwinden. Er schenkte die Kraft, nicht wegzulaufen, sondern Widerstand zu leisten, zusammen mit Ihm, an Seinem und an unserem Kreuz. Diese sechs Monate langen „Exerzitien“ und die tägliche Gewissenserforschung waren gerade zu Beginn des Krieges meine einzige Stütze und ein wirksames Mittel täglicher Begegnung: zuerst mit mir selbst in den eigenen Tiefen der menschlichen Würde, dann aber auch mit der Zerbrechlichkeit anderer Menschen und mit der bedingungslosen Liebe Gottes zu uns allen, und zwar weltweit. Diese Begegnung ruft zur täglichen Nachfolge, in die größere Tiefe der Beziehung und zum Wachstum in Hoffnung, Glauben und Liebe. Was im Krieg wirklich Halt gibt, ist Glaube als Begegnung. P. Mykhailo Stanchyshyn SJ ist in Lwiw (Lemberg) geboren. Nach seinem Promotionsstudium in Theologie trat er 2007 ins Noviziat der deutschen Jesuitenprovinz ein. 2014 wurde er in Lwiw im byzantinischen Ritus zum Priester geweiht und lebt und wirkt in der Ukraine, derzeit in Charkiw. Bild: © Martin Weis – Portal 7 SCHWERPUNKT

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