Jesuiten 2024-2 Die Schönheit der Komplexität
Jesuiten 2024-2 Foto: © Francescoch/iStock.com 1 Editorial Schwerpunkt 2 Mehr als kompliziert 4 Komplexität – kein Phänomen der Gegenwart 6 Unsere Antwort auf Komplexität: Spiritualität 7 Komplexität – unser tägliches Brot 8 Die ECE-Provinz – Entdecken wir das Potenzial der Komplexität! 10 Ein Beispiel für gelebte Vielfalt 11 Stimmen in einer komplexen Zeit 12 Der Eisvogel und die schönere Welt 14 Komplexität in einem globalen Kontext 17 Neue Geschichten 18 Mehr als ein bloßes Nebeneinander 20 Komplexitätskompetenz lernen? Geistlicher Impuls 22 Gebrechlichkeit und Heilung Was macht eigentlich …? 24 Mathias Werfeli SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Christian Herwartz: Freude – Erfahrungen mit Straßenexerzitien Vorgestellt 32 Was braucht eigentlich kirchliches Personal? Schweiz 34 Archiv der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten – Archivstandort Zürich 36 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum Wie märchenhaft, sagenumwoben, rätselgleich sind eigentlich die Dinge, die uns umgeben? Die Bilder in dieser Ausgabe des Jesuiten-Magazins entführen in ganz eigene Welten. Sie stammen vom italienischen Künstler Francescoch, der sich dabei von den surrealistischen Motiven von René Magritte inspirieren lässt. Das Leben als Märchen, als Wunder, als Rätsel: Vielleicht ist es das, was wir neu entdecken, wenn wir die Komplexität unserer Welt an uns heranlassen. Stefan Weigand
wenn etwas mehr ist als nur die Summe seiner Teile, dann bedeutet das, dass wir nicht einfach verstehen können, was das Ganze einzigartig macht, indem wir nur auf die einzelnen Teile schauen. Besonders bei lebendigen Wesen wie Tieren oder Menschen ist das so. Wenn wir von Komplexität sprechen, meinen wir, dass diese Systeme nicht einfach auf ihre Bestandteile reduziert und verstanden werden können. In einem komplizierten System mögen die UrsacheWirkungszusammenhänge zwar zahlreich und verworren sein, aber es entsteht keine Eigendynamik des Ganzen. Ein Uhrwerk mag ein hoch entwickelter Mechanismus sein, aber wenn etwas nicht mehr funktioniert wie vorgesehen, kann man das herausfinden, indem man die einzelnen Bestandteile überprüft, deren Funktion jeweils eindeutig definiert ist. In der Geschichte scheint es so zu sein, dass alles immer vielfältiger wird. Gesellschaften werden immer unterschiedlicher, teilen sich in viele kleine Teile auf, die jeweils nach ihren eigenen Regeln funktionieren. Das kann dazu führen, dass unsere Welt ziemlich verwirrend wirkt. Viele Menschen verstehen das nicht so gut und wünschen sich, dass alles einfacher wäre. Manchmal versuchen sie das, indem sie nur das sehen wollen, was sie bereits kennen, und das Unbekannte ignorieren. Wir haben in diesem Heft Beiträge aus dem Themenfeld Erfahrung und Umgang mit Komplexität zusammengetragen. Nach einer Hinführung zum Thema von Maria Herrmann geben unterschiedliche Autor*innen Einblicke in Erfahrungen mit Komplexität; sei es in der Geschichte oder in ihrem konkreten Engagement heute. Unter anderem gibt der scheidende Provinzial der zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten, Bernhard Bürgler SJ, einige Einblicke in seine Amtszeit. Den Abschluss bilden Artikel, die zum weiterführenden Nachdenken anregen wollen. Paul Metzlaff stellt dar, wie die Denkfigur des Gegensatzes, die Romano Guardini Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, im politischen Diskurs der Gegenwart angewandt werden kann. Ausgehend von ihrer Arbeit mit jungen Menschen sucht Christine Klimann sa nach Rahmenbedingungen, die dabei helfen können, gut mit Komplexität umgehen zu lernen. Die Beiträge unserer Autor*innen haben uns geholfen, besser zu verstehen, warum uns Komplexität oft zu schaffen macht. Sie ermutigen uns, der Wirklichkeit, in der uns Komplexität begegnet, nicht auszuweichen und sie als eine Bereicherung unseres Lebens wahrzunehmen. Wir wünschen Ihnen eine fruchtbare Lektüre! Liebe Leserinnen und Leser, Manfred Grimm SJ und Mathias Werfeli SJ EDITORIAL 1
Mehr als kompliziert Ignatius von Loyola begleitet Maria Herrmann schon eine ganze Weile. Immer wieder fällt ihr auf, wie zeitgemäß seine Themen sind und wie sie an heutige Fragen anknüpfen. Es ist wie mit dem Rat eines älteren Verwandten, den man in jungen Jahren erhält und erst später versteht. Und gerade heute werden gute Ratschläge immer wichtiger. Was zeichnet die aktuelle Zeit aus? Besonders der Begriff der Komplexität prägt die Beschreibung unserer Gegenwart. Nicht nur bei der Bahn, sondern auch in Artikeln über Managementtheorien oder in Diskursen zur Klimakatastrophe: Es ist mehr als „kompliziert“, allermeist komplex. Schaut man genauer hin, muss man feststellen, dass es selbst in der Wissenschaft keine allgemein gültige Definition von Komplexität gibt. Dennoch lassen sich wesentliche Merkmale benennen. Komplexität hat es (buchstäblich) immer schon gegeben. Jedes Ökosystem ist zum Beispiel von Komplexität geprägt, ebenso das menschliche Gehirn oder ein Vogelschwarm. Wenn von einem komplexen System die Rede ist, ist zunächst das konkrete Zueinander einer unüberschaubaren Menge einzelner Elemente gemeint. Mal sind es Lebewesen, mal Zellen oder Akteur*innen, mal Strukturen. Deshalb taucht im Zusammenhang mit Komplexität der Begriff System auf: Er weist auf diese große Menge und ihre (bisweilen unübersichtlichen) Abhängigkeitsverhältnisse hin. Diese Verbindungen der Elemente sind nicht linear. Das bedeutet, dass schon kleine Eingriffe in die Gesamtdynamik eine ungeheure Wirkung entfalten können. Ein 2
komplexes System wie etwa ein Regenwald ist als Ganzes größer als die Summe seiner Teile. Bei einem Ökosystem (vergleiche dazu: Kirche) können Veränderungsprozesse nicht einfach beschlossen „gemacht“ oder durchgesetzt werden: Sie „entwickeln“ sich und „entstehen“ aus den Umständen heraus. Fachleute nennen dies auch „Emergenz” – Entstehung. Diese Emergenz lässt sich positiv beeinflussen, die Umstände lassen sich verbessern, sodass Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Emergenzen höher werden. Negativer Einfluss wirkt in komplexen Systemen meist weiterhin direkt. Ein komplexes System hat eine Geschichte, die in ihm weiter besteht. Die einzelnen Elemente entwickeln sich in Abhängigkeit voneinander und von ihrer Umwelt. Diese Entwicklung ist nicht umkehrbar. Auch ist es nicht möglich, Voraussagen zu treffen oder direkte (positive) Wirkung zu entfalten, weil sich die Bedingungen und das System selbst permanent ändern. Mehr als kompliziert Viele Thesen zu Veränderungsprozessen gehen aber immer noch von komplizierten Kontexten aus. Sie basieren auf der Annahme, dass Analysen und daraus folgende Strategie-Entwicklungen zu (mehr oder weniger) klaren Entscheidungen führen, die absehbare Wirkungen entfalten und so Ziele verwirklichen. Das klingt auf den ersten Blick logisch: Problem – Problemanalyse – Möglichkeitsanalyse – Entscheidung – Ausführung – Wirkung – Ziel. Dafür ist aber ein direkter Zusammenhang zwischen Aktion und Effekt notwendig. Mit der Komplexität ist das allerdings vorbei. Es lässt sich nachweisen, dass die Umstände in vielen Bereichen unserer Gesellschaft so komplex sind, dass diese Herangehensweise – aufgrund der skizzierten Eigenschaften der Komplexität – an ihre Grenzen gekommen ist. Ob in der Wirtschaft, in der Politik oder auch in der Kirche: Der Ansatz einer Lösungsfindung durch eine vorweggenommene Analyse oder auch das Durchsetzen rein hierarchischer Mechanismen funktioniert nicht (mehr), jedenfalls nicht ausschließlich (falls es das jemals hat). Deshalb ist es wichtig zu unterscheiden: Ist eine Situation nur komplizierter, das heißt, lässt sich wirklich direkt auf sie einwirken? Lohnen Mehraufwand, genauere Analyse, größere Expertise, der Einsatz von mehr Ressourcen etc. oder liegt eine komplexe Situation vor, die komplexitätssensibler Formen von Führung zur Lösungsentstehung erfordert? Warum passt Ignatius dazu? All das kann überfordern, Angst machen. Faszinieren kann aber auch die Erkenntnis aus der Innovationsforschung, dass dieser „Kontrollverlust“ der Komplexität der Ort ist, an dem Neues und Veränderung entstehen. Konstruktive, partizipative und von Vielfalt geprägte Haltungen fördern jene Kreativität, die notwendig ist, damit Lösungen entstehen und sich zeigen können. Darum glaube ich, dass ignatianische Werte in diese komplexen Zeiten passen. Werte, die ich in den Exerzitien wahrnehme, aber auch in verschiedenen Formen von geistlichen Prozessen, besonders in Gruppen. Schließlich muss ich immer wieder auch an einen Satz denken, der zwar unterschiedlich überliefert ist, aber meines Erachtens (in jeder Form) eine gute Spur legt für komplexitätssensibles Handeln: „Auf Gott vertrauen, als ob alles von Gott, und auf die eigenen Kräfte vertrauen, als ob alles von dir abhängt.“ Diese Freiheit und dieses Vertrauen sind notwendig, um in diesen komplexen Zeiten Gesellschaft und Kirche konstruktiv und hoffnungsvoll zu gestalten. Maria Herrmann ist Theologin und lebt mit ihrer Familie in Hannover. Dort denkt sie nach über Zukünfte und die Ewigkeit. In ihrer Promotion verbindet sie Komplexitätsforschung mit Fragen zu Innovationen (in) der Kirche. Bild: © francescoch/iStock.com 3 SCHWERPUNKT
Komplexität – kein Phänomen der Gegenwart Komplexe gesellschaftliche Veränderungen prägten die Lebensstationen des Ignatius von Loyola. P. Paul Oberholzer SJ wirft anhand einiger Beispiele einen Blick in die Geschichte. Schauen wir zunächst auf Spanien: Durch die Vereinigung der Kronen von Kastilien und Aragon wurde das Reich zur führenden Macht der westeuropäischen Christenheit. Eine weitere Verbindung mit dem Haus Habsburg ließ Karl V. über große Teile Europas regieren. Die Juden 1492 vor die Wahl Taufe oder Auswanderung zu stellen, ist ein dunkler Punkt. Tatsache bleibt aber, dass darauf Neuchristen in Verwaltung und Kirche mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut wurden. Auf diesem Weg fand nicht nur jüdische Gelehrsamkeit, sondern auch rabbinisches Gedankengut Eingang in das spanische Bewusstsein. Mit der Eroberung Granadas im selben Jahr fiel der letzte Stützpunkt muslimischer Herrschaft in Westeuropa. Spanien fühlte sich bestätigt, Werkzeug des göttlichen Planes zu sein, seine Herrschaft über Nordafrika auszudehnen und in Jerusalem eine christliche Universalmonarchie eschatologischen Charakters ins Leben zu rufen. Dass Kolumbus zeitgleich seinen Fuß in die Neue Welt setzte, verband die heilsgeschichtliche Dynamik des Vordringens zu den christlichen Wurzeln mit der wachsenden Überzeugung, dass viele Völker und Hochkulturen existierten, die noch nie in Berührung mit der christlich-europäischen Welt gekommen waren – und nun in das neue christliche Reich integriert werden mussten. Ebenso machte sich ein intellektueller Aufbruch bemerkbar: Die 1499 gegründete Universität Alcalá de Henares wurde ein Zentrum des spanischen Humanismus. Bedeutendstes Erzeugnis ist eine Bibelkonkordanz, die hebräische, aramäische und griechische Quellen mit der Septuaginta, der altgriechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, und der Vulgata, der lateinischen Übersetzung der biblischen Schriften, verglich. Damit einher ging eine geistliche Erneuerung, die sich von der in Flandern entstandenen Devotio moderna inspirieren ließ. Zentrum war das Kloster Montserrat, dessen Mönche Kontakte zu diesen Reformkreisen unterhielten. Begeistern ließen sich vor allem gebildete Lai*innen. Großer Beliebtheit erfreuten sich die Imitatio Christi von Thomas a Kempis, die Vita Christi von Ludolf von Sachsen und das Flos Sanctorum von Jacobus de Voragine. Allseits anerkannte spirituelle Größen waren Katharina von Siena und Girolamo Savonarola. Dem Aufbruch in die noch nicht erkundete Welt entsprach eine ebenso starke Dynamik im Bereich persönlicher, unvermittelter geistlicher Erfahrung. Ein verstärktes Bewusstsein der Zugehörigkeit zur institutionell verfassten Kirche, eine wachsende kritische Auseinandersetzung und eine neue spirituelle Sensibilisierung führten zu einer komplexen Erneuerung der Gesellschaft. Damit verbundene Divergenzen bedurften einer Koordinierung in einer permanenten und wachen Reflexion. All diese komplexen Prozesse auf politischmentaler, intellektueller und geistlicher Ebene Erziehung wurde zum Instrument der Integration. 4 SCHWERPUNKT
berührten Ignatius tief. So hielt er sich als junger Page am Hof auf, als Julius II. 1510 Ferdinand von Aragon zum König von Jerusalem ausrief. Nach seiner Genesung pilgerte er zuerst nach Montserrat und verbrachte im nahen Manresa nahezu ein Jahr, zusammen mit suchenden Menschen, die im fortwährenden Austausch über ihre geistliche Erneuerung standen. Alcalá de Henares war eines der ersten Ziele auf Ignatius’ universitärem Bildungsweg – wie auch von Laínez, Salmerón, Bobadilla und Nadal. Die nächste prägende Station war Paris. An der renommierten Universität wurden in Rückbesinnung auf Aristoteles und Thomas von Aquin die ins Rollen gebrachte Globalisierung, die neu wahrgenommenen Völker und deren Integration in die Heilsgeschichte reflektiert. Paris war aber auch ein Ort wachsender Präsenz von reformatorischem Gedankengut. Kontrovers diskutiert wurden die traditionelle Volksfrömmigkeit und das Messopfer. Die ersten Jesuiten sollten sich ganz auf den Katholizismus verpflichten, standen während ihrer Studien aber im Kontakt mit Vertretern verschiedener Denkrichtungen. Italien wiederum blickte auf ein traditionsreiches Bildungswesen zurück. Jede Stadtgemeinde hatte eine Schule unterhalten, die die Jugend auf lokale Verantwortung vorbereitet hatte. Erziehung wurde aber zu Ignatius’ Zeiten neu zum Instrument der Integration in einen größeren Herrschaftsverband und in die institutionell verfasste Kirche. Im Zuge dieses Prozesses, verbunden mit einer breiten Klerikalisierung des Lehrerberufs, stellte Ignatius die meisten seiner Mitbrüder für den Gymnasialunterricht frei. Humanistisches Bildungsideal und Katechismuswissen sollten die Schüler für die Zugehörigkeit zur sich global ausbreitenden Kirche sensibilisieren und zu einer persönlichen religiösen Erfahrung hinführen. P. Paul Oberholzer SJ lehrt seit 2015 an der päpstlichen Universität Gregoriana mittelalterliche Geschichte. Der Reichtum der Gesellschaft Jesu geht ihm immer wieder neu auf, wenn er sich der komplexen Bedingungen bewusst wird, unter denen Ignatius in umsichtigem Abwägen seinen Orden aufbaute. Bild: © francescoch/iStock.com 5
Unsere Antwort auf Komplexität: Spiritualität Wie gelingt es, zentrale Inhalte der Spiritualität des Jesuitenordens für Menschen in Führungspositionen fruchtbar zu machen, denen Religiosität fremd oder fremd geworden ist? Auf der Suche nach einem Anknüpfungspunkt wird man schnell fündig: Komplexität. Seit den 1990er Jahren geistert nämlich eine englischsprachige Abkürzung, ein Akronym, durch die Managementliteratur: VUCA. Demnach leben und arbeiten wir in einer VUCA-Welt, die durch vier Begriffe charakterisiert ist: volatility (Unbeständigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Auch wenn es nicht so klar ist, wie sich diese Begriffe genau voneinander unterscheiden und ob sie die Bedingungen, unter denen Unternehmen tätig sind, zutreffend beschreiben: Interessant ist, dass in dem Akronym Komplexität in einem bewussten Gegensatz zu kompliziert steht. Ein Problem ist kompliziert, wenn es nicht ganz so einfach zu lösen ist. Aber man kann es lösen, wenn man die richtigen Methoden anwendet, und diese Methoden kann man prinzipiell lernen. Bei einem komplexen Problem allerdings gibt es keine Methoden, die man so einfach lernen könnte und die uns sagen, wie wir mit der Unsicherheit, die mit der Komplexität gegeben ist, gut umgehen können. Und diese Unsicherheiten sind in der Tat groß: Ob eine unternehmerische Entscheidung erfolgreich sein wird, hängt in einer globalisierten Welt von Faktoren ab, die ein Unternehmer weder vollständig einschätzen noch beeinflussen kann. Um mit der Komplexität und der damit verbundenen Unsicherheit umzugehen, hilft eine fachliche Ausbildung nicht weiter. Hier braucht es Formate, die auf die Persönlichkeitsentwicklung zielen. Es braucht Menschen, die der Komplexität der äußeren Welt einen klaren inneren Kompass entgegensetzen können. Die sich auf sich selbst verlassen können. Die mit sich selbst im Reinen sind. Auch wenn die Literatur zu VUCA suggeriert, Komplexität sei ein ganz neues Phänomen, so reicht ein kurzer Blick in die Geschichte, um zu sehen, dass es immer Zeiten großer Unsicherheit und Komplexität gegeben hat. So etwa die Zeit, in der Ignatius von Loyola lebte: die Entdeckung Amerikas und neuer Kulturen in Asien, die Reformation, die kopernikanische Wende. Eine Zeit großer geistiger Unsicherheit und Komplexität! Ignatius‘ Antwort darauf ist klar: Die Meditation, die Exerzitien führen zu einer tiefen persönlichen Erfahrung, so dass man der äußeren Unsicherheit ein inneres Fundament entgegensetzen kann, aus dem Hingabe und Vertrauen wächst. Diesen reichen Schatz an Menschen in hoher Verantwortung weiterzugeben, ist eine sehr bereichernde Aufgabe! P. Michael Bordt SJ ist Professor an der Hochschule für Philosophie und Geschäftsführer des Instituts für Philosophie und Leadership. Er findet, dass Religion und Spiritualität nicht helfen, Komplexität zu reduzieren, sondern um angesichts der Komplexität dennoch selbstbestimmt tätig zu sein. Johannes Lober ist Geschäftsführer des Instituts für Philosophie und Leadership und begleitet als Meditationslehrer Menschen in Führungspositionen. Für ihn ist das Zulassen und Wahrnehmen der Komplexität des eigenen Innenlebens der Schlüssel zum Umgang mit Komplexität im Äußeren. 6
Komplexität – unser tägliches Brot Was könnte komplexer sein, als von heute auf morgen ein neues Leben anfangen zu müssen? Für Geflüchtete gibt es nichts Verlässliches mehr und oft auch keinen Schutz vor Gewalt auf der Flucht. Begleitung von Geflüchteten bedeutet, das nächste Stück ihres Lebens mit ihnen gemeinsam zu gehen. Das Team des Jesuiten-Flüchtlingsdiensts in Rumänien hat diese Erfahrung in den letzten zwei Jahren mit den Menschen gemacht, die aus der Ukraine gekommen sind, darunter viele Frauen und Kinder. Am Tag des russischen Angriffs haben sie die ersten Geflüchteten an der gemeinsamen Grenze getroffen, um zu sehen, was diese brauchen. Zunächst ging es um eine warme Mahlzeit. Dann um ein Bett für die Nacht in der Notunterkunft. Schließlich um eine Bleibe für die ersten Wochen und um eine Betreuung der Kinder. Und das alles in dem Wissen, dass Familienmitglieder in der Ukraine jederzeit sterben könnten. Heute sind Geflüchtete aus der Ukraine ein wesentlicher Teil unserer Arbeit in Rumänien. Keiner von uns wusste am Anfang, was zu tun ist. Komplexität kann zum Gefühl der Überforderung führen und vielleicht auch zur Versuchung, einfach aufzugeben, weil das die einfachere Lösung ist. Komplexität, die nicht beherrschbar scheint, kann Angst machen, weshalb wir sie gerne fernhalten. Durch Gesetze und Regelungen und indem wir die Menschen fernhalten, mit deren Problemen wir nicht zurechtkommen. Natürlich wissen wir, dass das die Komplexität nicht reduziert. Wer geflüchtete Menschen begleitet, wird mit ihnen an Grenzen geführt: an Staatsgrenzen, Grenzen der Menschlichkeit und an die eigenen. Hier entscheidet sich, was geschieht. Ignatius erinnert uns in den Exerzitien, wie wir auf die Welt blicken sollen. Er war sich der Gewalt und der Verwerfungen sehr bewusst und lädt uns ein, diese Welt mit Gottes Augen zu betrachten: liebend. Das vereinfacht nicht die Probleme, aber es reduziert die Komplexität ungemein, weil wir wissen, wie wir an Gottes Liebe für die Welt teilhaben können. Begleitung von Geflüchteten bedeutet in diesen Situationen, zusammen mit ihnen ein neues Leben zu beginnen. Es geht nicht nur um Dienstleistungen und Hilfe in der Not, sondern darum, mich für eine Beziehung zu öffnen, in der neues Leben entstehen kann für uns gemeinsam. Diese Art von Liebe ist einfach, weil sie eine eindeutige Orientierung gibt und uns zu Menschen macht, die an Gottes schöpferischer Kraft teilhaben können. Auch in der Suche nach konkreten Lösungen. Ein amerikanischer Jesuit, der viele Jahre Präsident einer Elite-Universität war, kam erst nach seiner Pensionierung mit Geflüchteten in Kontakt. In dieser für ihn ganz neuen und komplexen Welt haben ihn das Zuhören und die ersten Begegnungen dazu geführt, die Menschen lieben zu lernen, die er kennenlernt. Erst kürzlich sagte er mir: „Und ich habe beschlossen, für den Rest meines Lebens bei der Entscheidung für diese Liebe zu bleiben.“ Michael Schöpf SJ lebt in Rom und leitet den JesuitenFlüchtlingsdienst, in dem knapp 9.000 Freiwillige und Mitarbeitende weltweit Geflüchtete begleiten. Komplexität ist für ihn eine tägliche Herausforderung und eine Einladung zur Liebe. 7 SCHWERPUNKT
Die ECE-Provinz – Entdecken wir das Potenzial der Komplexität! Seit 2021 gibt es die neue Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten. Ein Gespräch mit P. Provinzial Bernhard Bürgler SJ über die komplexe Situation in der neuen ECE-Provinz, die Vielfalt der Regionen, die Herausforderungen und das Potenzial dieser Vielfalt. Was ist Komplexität und wie begegnet sie dir? Komplexität – das beschreibt für mich eine Situation mit vielen verschiedenen Aspekten und unterschiedlichen Faktoren und Einflüssen, die alle beachtet werden wollen, um dem Ganzen gerecht zu werden. Im Blick auf die Provinz ist das, neben der Verschiedenheit der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Situation in einzelnen Regionen, ein unterschiedliches Jesuit-Sein und Mitarbeiter*in-Sein, und damit verbunden unterschiedliche Sichtweisen auf das Ganze. Was hat dir am meisten geholfen, mit Komplexität umzugehen? Das war die persönliche Begegnung. Wenn sich die Leute getroffen und einander kennengelernt haben, sich erzählt und zugehört haben, war das hilfreich für das gegenseitige Verständnis. Und das geschah im tatsächlichen Hingehen und Hinfahren an Orte, in Einrichtungen, zu Menschen. Wir alle mussten lernen, vom eigenen Werk oder Land hinaus auf die neue große Provinz zu schauen. Da habe ich in den letzten Jahren sowohl bei Jesuiten als auch Nicht-Jesuiten eine Weitung der Sicht miterlebt. Gibt es Beispiele? Ein gutes Beispiel ist Litauen, das sowohl sprachlich wie geografisch, kulturell und geschichtlich sehr verschieden von den deutschsprachigen Regionen ist. Durch das Kennenlernen der Orte, der Menschen, auch der Mitbrüder, die unter dem Sowjetregime verfolgt wurden, wurde unser Blick unglaublich geweitet. Ein anderes Beispiel ist Schweden, wo der Besuch wirklich geholfen hat zu spüren, dass die katholische Kirche und das katholische Leben eine ganz andere Dynamik und Lebendigkeit als bei uns haben, eine Dynamik, die von Wachstum und Freude geprägt ist. Ein drittes Beispiel ist das Zusammenspiel von apostolischer und ökonomischer Sichtweise. In der neuen Provinz sind die einzelnen apostolischen Felder über alle Regionen hinweg durch eine Delegatin bzw. einen Delegaten vernetzt, während die Verwaltung und die wirtschaftlichen Belange, bedingt durch die unterschiedliche rechtliche Situation, regional verankert sind. Das Zusammenbringen der Menschen beider Bereiche war wichtig, um sich zu begegnen, die je andere Sichtweise kennenzulernen und voneinander zu lernen. Bild: © francescoch/iStock.com 8 SCHWERPUNKT
P. Bernhard Bürgler SJ ist ein ausgewiesener Experte in den Bereichen Spiritualität, Exerzitien, Meditation und Psychoanalyse. Seit April 2021 ist er der erste Provinzial der neuen Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Seine Amtszeit endet Ende Juli 2024. Jetzt könnte man sagen, die Rücksichtnahme auf komplexe Situationen ist hinderlich für die Effizienz. Was sagst du dazu? Unsere Sendung ist die Verkündigung der Botschaft Jesu. Das bedingt, dass wir auf die einzelnen Menschen und deren Situationen eingehen müssen. Daher sehe ich Komplexität auch als Ermöglichung und Chance. Es ist eine gegenseitige Bereicherung, ein gegenseitiges Lernen und Inspiration, die ich für meine eigene Situation nutzbar machen kann. Was dabei hilft, ist der gemeinsame Grund in der ignatianischen Spiritualität, die wir durch Aus- und Weiterbildung der Jesuiten und Nicht-Jesuiten vertiefen und erweitern. Sie betont die Wichtigkeit des Innehaltens, der Reflexion, und, bei aller Treue zu den Grundsätzen, die Flexibilität für die konkrete Situation vor Ort. Wo siehst du die Herausforderungen der Zukunft? Eine große Herausforderung bleibt die Anpassung der Provinzstrukturen an die konkreten Orte, Menschen und Tätigkeiten, auch an unsere Ressourcen. Da stellen sich Fragen wie „Wo wollen wir sein?“, „Was wollen wir tun?“, und „Wie helfen wir jungen Mitbrüdern und Mitarbeiter*innen, dass sie gut miteinander arbeiten können im Einsatz für das Reich Gottes, da wo sie sind?“. Spontan ist man oft gegen Komplexität, weil man sich überfordert fühlt. Das ist normal. Aber ich wünsche mir, dass wir uns davon nicht lähmen lassen, sondern das Potenzial der Komplexität entdecken. Interview: Mathias Werfeli SJ 9
Ein Beispiel für gelebte Vielfalt Verschiedene Religionen, Nationen und Lebensstände: Die große Vielfalt in der Gemeinschaft Chemin Neuf bringt viel Freude und reichen Austausch, aber auch große Herausforderungen. Die Gemeinschaft Chemin Neuf ist 1973 in Frankreich entstanden. Sie ist eine katholische Gemeinschaft mit ökumenischer Berufung, in der Mitglieder verschiedener Kirchen engagiert sind. Heute zählt die Gemeinschaft über 2.000 Mitglieder in 35 verschiedenen Ländern, die sich auf das Abenteuer des Lebens in Gemeinschaft einlassen, um Christus nachzufolgen und sich in den Dienst der Kirche und der Welt zu stellen. Eine interkulturelle Gemeinschaft Für mich ist das erste Geschenk unseres Gemeinschaftslebens, dass unsere vielen Unterschiede uns einen weiteren Horizont verleihen. Die Gemeinschaft als Ganzes sowie jedes einzelne Mitglied ist aufgerufen, sich für Neues zu öffnen. Grundsätzlich versucht die Gemeinschaft soweit wie möglich, sich jeweils an die Kultur des Landes, in dem wir leben und arbeiten, anzupassen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass wir eine Art und Weise zu sein und zu handeln haben, die uns, egal wo wir sind, als „Chemin Neuf“ auszeichnet. Im alltäglichen Gemeinschaftsleben teilt jeder etwas von seiner Kultur mit den anderen, gibt auch Gewissheiten und Gewohnheiten auf und empfängt etwas von den anderen. Unsere Vielfalt in der Gemeinschaft ermöglicht, dass Leute unterschiedlicher Herkunft sich willkommen geheißen fühlen. „Damit alle eins seien“ (Johannes 17, 21) Ich war sechs Jahre in Berlin missionarisch tätig. Eines der größten Geschenke dieser Zeit waren die Begegnungen und die Zusammenarbeit mit Christen*innen aus unterschiedlichen Kirchen. Der lebendige Glaube, das Engagement der freikirchlichen und evangelischen Schwestern und Brüder, ihre Liebe zu Jesus und ihr Hören auf den Heiligen Geist haben mich persönlich auf meinem Weg mit Gott sehr gestärkt und aufgebaut. Ich habe auch die katholische Kirche tiefer kennen und schätzen gelernt. Den Austausch und die Begegnung verschiedener Christ*innen erlebe ich in Frankreich weitaus weniger und sehne mich oft nach dieser Einheit. Versöhnung Die Geschenke der Interkulturalität und der Ökumene können nicht ohne ein drittes Geschenk gelebt werden: echte Versöhnung. Versöhnung zu leben ist keine Theorie, sondern wird schnell sehr konkret. Versöhnung ist in den Situationen nötig, in denen ich merke, dass meine Identität trotz meines guten Willens andere verletzen kann. Ich erlebe immer mehr, wie das „Aneinanderreiben“ unserer Geschichten uns tiefer zusammenbringt und wie sehr wir Versöhnung brauchen. Ich bin sehr dankbar für diese Vielfalt und könnte mir keine andere Art und Weise des Zusammenlebens vorstellen. Gleichzeitig merke ich aber auch, wie ich immer wieder und sogar immer mehr, an meine eigenen Grenzen stoße, was das Annehmen dieser Unterschiede angeht. Versöhnung mit den anderen ist sicherlich die wertvollste Erfahrung, die ich Tag für Tag erleben darf. Sr. Annadeline Burgnard ccn ist Französin und seit 2011 geweihte Schwester in der Gemeinschaft Chemin Neuf. Die letzten zehn Jahre war sie in der Pastoral mit und für junge Erwachsene in Berlin und Paris tätig. Jetzt studiert sie Philosophie an der jesuitischen Hochschule Loyola Paris. 10 SCHWERPUNKT
Stimmen in einer komplexen Zeit Als im 19. Jahrhundert die Welt immer komplexer wurde, gründeten die Jesuiten in vielen Ländern Europas sogenannte Kulturzeitschriften. Für den deutschsprachigen Raum heißt diese Zeitschrift heute Stimmen der Zeit und erscheint monatlich. Die Kulturzeitschriften verbreiteten Wissen und Kommentare und wollten in christlicher Perspektive gebildeten Menschen Orientierung bieten. „Kultur“ wird dabei weit verstanden: Gesellschaft und Religion, Naturwissenschaft und Geschichte, Philosophie und Politik, Kunst und Kirche – das komplexe Feld menschlicher Lebenswelten wird beackert, mit einem weltweiten und zugleich lokalen Blick, differenzierend und zusammenfassend, durchaus katholisch, meinungsstark. Die Komplexität wird ständig größer und die Entwicklung in allen Lebenswelten schneller – viele Zeitgenoss*innen haben den Eindruck, den Überblick zu verlieren und mit Informieren und Verstehen kaum nachzukommen. Herausgefordert sind die Autor*innen der Stimmen der Zeit nun, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen und gut begründete Lösungsansätze knapp und zielgerichtet vorzuschlagen. Daher ist die Lektüre bisweilen anspruchsvoll, aber die Beiträge sind so geschrieben, dass sie fachlich qualifiziert, aber sprachlich auch für Nichtfachleute verständlich sind. Ein Beispiel: Im Februarheft 2024 widmeten sich die Stimmen – so kürzen wir ab – neben anderem dem weltweiten und sehr komplexen Rechtspopulismus. Olivier Roy stellte dar, dass wir heute weniger einen Clash der Kulturen erleben, sondern die Konflikte sich an Werten entzünden: Fremdenfeindlich, queerfeindlich, antisemitisch, radikal abtreibungsfeindlich, demokratiefeindlich, autoritär usw. sind heute rechte politische Strömungen in vielen Ländern sowie fundamentalistische Bewegungen vieler Religionen; diese verbünden sich nun gegen alles Liberale, Selbstbestimmende, Minderheiten Schützende, Demokratische … Der Artikel ist ein globaler kultureller Durchblick, der aber durch den komplexen Dschungel hilfreich die Schneise schlägt. Ergänzt wird er durch Texte zum Antisemitismus, zum Nahostkrieg sowie zur Diplomatie des Vatikans. Vielleicht ist das in der komplexen Welt die größte Herausforderung: Aus der eigenen Spezialisten- und Meinungsblase herauszugehen und so zu kommunizieren, dass ein wirkliches Verstehen und ein Dialog unterschiedlicher Menschen über unsere so zerrüttete und widersprüchliche Welt möglich ist. Und dann das Vielwissen so zusammenzubinden, dass – wie Ignatius sagt – ein Verspüren und Verkosten möglich ist und für die Arbeit an der Zukunft gute Wege erkennbar werden. Nur dieses Reflektieren wird helfen, Gesellschaft, Kirche und Kultur so weiterzuentwickeln, dass sie künftig lebenswert bleiben. Maßgebend für die Stimmen der Zeit sind dafür die Schwerpunkte des Jesuitenordens: Spiritualität und Glaube, Soziales und Ökologisches, Jugend und Bildung. www.stimmen-der-zeit.de P. Stefan Kiechle SJ ist Chefredakteur der Kulturzeitschrift Stimmen der Zeit und Beauftragter für Exerzitienarbeit. Komplexität ist für ihn wie ein Knoten, der sich mit gründlicher Reflexion dann doch lösen lässt. 11
Der Eisvogel und die schönere Welt Eine Interpretation von As kingfishers catch fire von Gerard Manley Hopkins SJ Seit ich Hopkins (1844–1889) vor zehn Jahren hören gelernt habe, spiele ich eines seiner Gedichte immer wieder durch. Man kann darin hören, wie Kelten sich die Welt erklärt haben. Da sind Stabreime und harte Konsonanten: As kingfishers catch fire, dragonflies dráw fláme; Die Stabreime ki fi ke fei, dra flei dro fla kann ich in der Übersetzung imitieren: ei fö feu ei fa, li li li ma. Doch sehe ich keine Flammen, wenn Libellen fliegen, sondern das gebündelte Laserlicht. So beginnt das Gedicht in meinem Erleben: Wie Eisvögel Feuer einfangen, Libellen Lichtlinien malen, Wie Steine, die über den Brunnenrand rollen und ins Runde stürzen, Ein Geläut machen, wie jede gezupfte Saite erzählt, jede Haustürschelle ihren Klöppel schwingt im Bogen als Zunge herauszuschleudern ihren Namen, So tut auch jedes sterbliche Wesen ein und dasselbe Es gibt dieses Etwas, was ihm im Innern wohnt, nach außen Selbstet, wird es selbst, „ich selbst“ sagt es, stammelt Und schreit auf: „Was ich tue, bin ich. Dazu bin ich gekommen.“ Eine Welt tut sich auf: kein altertümliches Keltenreich, sondern eine geliebte moderne Welt: subjektiv, spontan, das Individuum im Blick. Es ist die beste und schönste aller möglichen Welten im Sinne des Barockgelehrten Leibniz: Die Spiegelung von allem in allem sichert maximale Erfahrung, und der Selbstausdruck aller Kreatur bezeugt maximale Freiheit. In Freiheit kreiert der Dichter neue Worte: „selbsten“ („selves“). Ein Kind sagt Worte zum ersten Mal. „Ich selbst“ sagt auch der Schauspieler, der beim Spielen des Hamlet seine Rolle gefunden hat. Der Weltzustand ist überhaupt wie ein Bühnenspiel: Eine Extra-Bühne für jeden Eisvogel, jeden Stein und jede Haustürschelle – nicht zuletzt für jeden Menschen. Andere Wesen kommen auf meiner Bühne auch vor, aber sie sind nur Staffage für mein „Ich selbst“, das sich frei entfaltet. Ein lieber Gott hat maximale Freiheit möglich gemacht. Er koordiniert es so, dass die Aktionen anderer meine Freiheit nicht beschränken. Fehlt in diesem erhabenen Blick auf die Welt eine wichtige Komplexität? Ja! Es fehlt echte Interaktion auf der Bühne. Ohne sie gibt es keine Beziehungen zwischen den Lebewesen, keine spürbaren Konsequenzen aus den Handlungen, die auszuhalten sind, und keine Verantwortung, die übernommen wird. Die zweite Hälfte des Gedichts geht darauf ein: „the just man justices“, mag „der Gerechte tut Recht“ bedeuten. Aber wofür steht justices, wieder ein neu erfundenes Wort? Ich mache zwei Vorschläge: 12
Ich aber sage mehr: Der faire Mensch erfairt, der gerechte Mensch macht den richtigen Unterschied: Er lässt den Augenblick der Gnade nicht gehen, so geht er selber voller Grazie. Hopkins deutet justices in der nachfolgenden Zeile [The just man] „Kéeps gráce: thát keeps all his goings graces“: das Festhalten an der Grazie (des „Ich selbst“-Rufens) bewirkt, dass die Gnade bleibt. Die Grazie und das Selbsten nicht lassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, was mag das heißen? Drei Vorschläge für drei Situationen: Wer einer Überwältigung gerecht wird, wird demütig. Wer eine emotionale Erschütterung erfairt, kommt zum Anhalten. Wer seine festliche Stimmung ernst nimmt, wird zum Handeln geführt. Der gerechte Mensch gibt eine – jetzt interaktive – Bühnenvorstellung. Er tritt auf, und Gott sieht es und sieht darin, was dieser Mensch ist: Christus – denn der eine Christ spielt an zehntausend Orten - und hier: Voll Liebe in den Gliedmaßen, voll Liebe in den Augen, auch wenn sie ihm gar nicht gehören, Vor dem Vater spielt er durch die Eigenarten der Menschengesichter. Auch der Eisvogel lebt direkt vor Gott, wenn er leuchtet und selbstet. Aber er hat dem Detailverliebten und Großherzigen nicht ins Auge gesehen, nicht als Weisheit vor ihm gespielt, nicht dabei seinen Körper gespürt: keine Konsequenz aus der Komplexität und Schönheit gezogen. Kein böser Wille des Eisvogels, er kennt nur die Gerechtigkeit nicht. Wir kennen sie. Wie kann es sein, dass wir alle, jede und jeder, nicht nur diese Auszeichnung haben, sondern dieser eine Christus sind? Bild: © francescoch/iStock.com Matthias Rugel SJ ist Mathematiker und Philosoph. Nach seinem Tertiat in Manila und einem Lehrauftrag dort im Sommer wird er nach Ludwigshafen ins Heinrich Pesch Haus zurückkehren. 13 SCHWERPUNKT
Komplexität in einem globalen Kontext Auch in der Gesellschaft Jesu gibt es Komplexität. John Dardis SJ, Berater des Generaloberen der Jesuiten, gibt Einblicke in interne Entscheidungsprozesse. Was bedeutet Komplexität für dich? Die Gesellschaft Jesu ist eine komplexe Organisation, weil sie Menschen in Beziehungen mit anderen einbezieht. Die Ergebnisse sind nie einfach oder garantiert. Das menschliche Wesen ist außerordentlich komplex, und wenn man das leugnet, wird man früher oder später in Schwierigkeiten geraten. Sitzungen mit 150 Personen sind sehr kompliziert zu organisieren. Aber das ist etwas anderes als Komplexität. Wenn man über die Ausbildung von Jesuiten nachdenkt, kann man nicht einfach über den Mann, der ins Noviziat geht, sagen, dass er in acht oder zehn Jahren der perfekte Jesuit sein wird. Wo begegnen dir am häufigsten komplexe Situationen? Als Berater von Pater General werden viele Fragen an uns als Rat herangetragen. Wir lesen das Material vorher, wir überlegen, was passiert, wir beten, wir tauschen uns aus. Wir hören zu und wir beraten Pater General. Er nimmt all das mit und trifft dann eine Entscheidung. Die Komplexität ist also sehr präsent in meinem Leben. Würdest du sagen, dass die Schaffung deiner Funktion als Delegat für Unterscheidung und apostolische Planung ein Zeichen für eine komplexere Welt ist? Unsere Welt wird immer komplexer und bei Entscheidungen müssen viel mehr Fragen berücksichtigt werden. Positiv ist, dass die Kirche und die Gesellschaft immer synodaler werden. Und das ist wichtig, um mit der Komplexität umzugehen. Synodalität hat viel mit gemeinsamer Unterscheidung und dem Anhören verschiedener Standpunkte zu tun. Wir sind immer noch eine hierarchische Gesellschaft Jesu. Der Obere entscheidet, aber je besser er zuhört und je mehr er sich berät, desto besser wird die Entscheidung sein. Gibt es einen spezifischen ignatianischen Ansatz für den Umgang mit komplexen Situationen? Die Unterscheidung war in der Kirche seit der Apostelgeschichte, Kapitel 15 – dem Konzil von Jerusalem – präsent. Danach hatten die Benediktiner, die Franziskaner und andere Orden jeweils ihre eigene Art der Unterscheidung. Die Gesellschaft ist nicht Eigentümerin dieses Prozesses. Unser Beitrag besteht darin, dass der heilige Ignatius die Regeln für die Unterscheidung aufgestellt hat, wobei der Schwerpunkt auf Trost und Trostlosigkeit lag und darauf, wie diese in einem Entscheidungsprozess zu verstehen sind. In Nordamerika entwickelte Pater John English die Methode in den 1970er Jahren weiter, Jules Toner schrieb ein bahnbrechendes Buch, in dem er die Überlegungen und Diskussionen der ersten Jesuiten studierte, und in Frankreich wurde die Methode weiterentwickelt. „Die Anerkennung von Komplexität geht Hand in Hand mit Trost.“ 14
Wir lesen die Daten, beten, beraten uns mit anderen auf geistliche Weise, aber wir prüfen auch unsere eigene Indifferenz in dieser Frage. Dann können wir eine vorläufige Entscheidung treffen und sehen, ob sie sich bestätigt, und schließlich eine endgültige Entscheidung treffen, so gut wir können. Aber mit diesem Prozess kann man sicher sein, dass man alle notwendigen Schritte unternommen hat, die menschenmöglich sind, und es ist wahrscheinlicher, dass die getroffene Entscheidung eine gute Entscheidung ist. Wie reagieren die Menschen in deinem Umfeld auf diesen Ansatz? Hat es in den letzten Jahren eine Entwicklung gegeben? Wenn ich verschiedene Provinzen besuche, treffe ich Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, die von Krieg oder Armut geprägt ist. Was ich ihnen anbiete, ist ein Weg, der ignatianisch und vom Heiligen Geist geleitet ist und der Hoffnung gibt. Er hilft ihnen auch, zu einem praktischen Ergebnis zu kommen. Sie haben manchmal Zweifel, ob diese gemeinsame Unterscheidung zu einer Entscheidung führen wird. Meine Aufgabe ist es, sie in diesem Prozess zu begleiten und zu zeigen, wie er zu einer praktischen Entscheidung führen kann. Wie reagieren die Lai*innen auf die gemeinsame Unterscheidung? Gibt es etwas Besonderes an ihrem Beitrag? Lai*innen können einen echten frischen Wind einbringen. Manchmal gibt es bei Jesuiten einen ungesunden Skeptizismus. Das Wichtigste, sowohl für Jesuiten als auch für Lai*innen, ist Indifferenz. Eine wichtige Forderung, die sich herauskristallisiert, ist die, die Ausbildung unserer Laienmitarbeiter*innen viel ernster zu nehmen. Es gibt verschiedene Stufen der Ausbildung: ein Grundwissen über die Gesellschaft, eine mittlere Stufe für diejenigen, die sich für Mission und Spiritualität interessieren, und eine dritte Stufe für jene Laien, die sich wirklich berufen fühlen, eine „Wahl“ zu treffen, um Partner*innen in der Sendung zu sein. Wir müssen die Unterschiede zwischen den Personen, Zeiten und Orten berücksichtigen. Es gibt kein „Einheitsmodell“ für die Ausbildung von Missionspartner*innen, genauso wenig wie es ein „Einheitsmodell“ für die Ausbildung von Jesuiten gibt. Einer meiner wichtigsten Berater ist eine Frau, eine Laiin aus Singapur, Dr. Christina Kheng. Pater General lud sie ein, die Ratssitzung zu begleiten, auf der die Universalen Apostolischen Präferenzen erörtert wurden. Sie hörte jeden Tag aufmerksam zu und teilte am Ende eines jeden Tages ihre Sichtweise mit. Lai*innen haben manchmal ein größeres Fachwissen und sind besser in der Begleitung von Gemeinschaftsprozessen als wir Jesuiten. Sicher ist, dass die Begleitung von Gremien, Provinzen und Institutionen in den kommenden Synodenjahren immer notwendiger werden wird. Sind wir dafür bereit? Haben wir Menschen mit den erforderlichen Fähigkeiten und der nötigen Sensibilität? Interview: Mathias Werfeli SJ P. John Dardis SJ ist ehemaliger Provinzial von Irland und Präsident der Konferenz der europäischen Provinziäle. Er ist heute Delegat für „Unterscheidung und apostolische Planung“ des Generaloberen der Jesuiten in Rom. „Am Ende müssen wir eine Entscheidung treffen.“ 15
16 SCHWERPUNKT
Alma Philomena Elefant studiert nach ihrem Abitur am St. Benno Gymnasium in Dresden und ihrem Freiwilligenjahr mit „Jesuit Volunteers“ derzeit im Master Psychologie an der Humboldt-Universität Berlin. Neue Geschichten Alma Philomena Elefant wurde 2018 von „Jesuit Volunteers“ in die Stadt Piura in Peru entsandt. Sie teilt mit uns ihre Erfahrungen. Die nigerianische Autorin C. N. Adichie beschreibt in The Danger of a Single Story die Gefahren einer einseitigen Erzählung und wie diese bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen und anderen begegnen. Sie berichtet von den USA: „Meine Mitbewohnerin hatte eine einzige Geschichte von Afrika. In dieser gab es keine Möglichkeit, dass die Afrikaner*innen ihr ähnlich waren. Keine Möglichkeit einer Verbindung als gleichwertige Menschen.“ Meine Einsatzstelle, die mir immer noch am Herzen liegt, heißt CANAT (Centro de Apoyo a Niños*as y Adolescentes Trabajadores). Hauptziel des Projektes ist es, benachteiligten Kindern eine grundlegende Schulbildung zu ermöglichen und ihnen bei ihrer persönlichen Entwicklung zu helfen. Vor diesem Jahr kannte ich vor allem eine einseitige Geschichte von Peru. Ich kannte Vorurteile und durch Postkolonialismus geprägte Erzählungen. Obwohl ich eine gute, kritische Vorbereitung bekam und versuchte, mich reflektiert mit meinem Vorhaben auseinanderzusetzen, wirkten diese Narrative im Hintergrund weiter. So habe ich lange geglaubt, den Menschen vor Ort „helfen“ zu können, obwohl ich weder die Sprache sprach noch eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen konnte. Als ich zu CANAT kam, merkte ich schnell, dass ich diejenige war, die Hilfe benötigte. Anfangs war ich auf Menschen angewiesen, die mir Spanisch beibrachten oder mir die Stadt zeigten. Im Laufe des Jahres wurde ich mit der Sprache und den Abläufen vertrauter und konnte dadurch immer besser bei der Kinderbetreuung unterstützen. Vor allem aber hatte ich die Zeit, den Kindern, mit denen ich arbeitete, auf Augenhöhe zu begegnen und „Verbindungen als gleichwertige Menschen“ zu erleben. Ich habe in diesem Jahr viel von den Menschen um mich herum gelernt und viele schöne, traurige und beeindruckende Erzählungen gehört. Ich habe mehr über mich selbst sowie über Deutschland gelernt. Außerdem bekam ich einen Einblick in die peruanische Kultur und lernte andere, neue Narrative kennen. Unter anderem lernte ich meine Chefin Gaby kennen: eine beeindruckende Frau, die Leiterin von CANAT ist und darüber hinaus jedes Wochenende ans Meer fährt, um Fischerkindern die Möglichkeit zum Spielen zu geben. Ich lernte Viviana kennen, eine Künstlerin, die zum Amazonas reist, um indigene Geschichten sichtbar zu machen. Und ich traf Guido, der berichtete, dass „Freiwilligendienste den Freiwilligen helfen, ihren Blick zu öffnen“. In diesen Begegnungen liegt für mich rückblickend die Schönheit meiner Erfahrungen. Dass ich viele der einfachen Erzählungen durch die Komplexität meiner Erfahrungen ergänzen konnte. Dass ich durch persönliche Begegnungen ein komplexeres Bild von meinem Einsatzort bekam und mich für meine Privilegien sensibilisieren konnte. Ich glaube, ich werde noch lange „Freiwillige“ bleiben. Die eigentlichen Aufgaben beginnen, wenn man in sein Heimatland zurückkehrt. Vielleicht kann man etwas Kleines verändern, indem man andere, komplexere Geschichten erzählt, und die Schönheit der Welt so spürbar wird. Bild: © francescoch/iStock.com 17 SCHWERPUNKT
Mehr als ein bloßes Nebeneinander Romano Guardini: Priester, Lehrer der Jugend, bald Seliger der katholischen Kirche und nicht zuletzt Vorbild, wie in einer komplexen und vielfältigen Welt gelingend gelebt werden kann? Romano Guardini (1885–1968) stand Zeit seines Lebens in vielfältigen Spannungen: Geboren in Italien emigrierte die Familie bald nach Mainz. In Deutschland bildete das italienische Elternhaus einen geschlossenen Bereich. Der Vater eröffnete Romano in der Heranführung an Dantes Divina Commedia (Göttliche Komödie) die Welt der italienischen Sprache und Geistlichkeit. Die Mutter verließ das Haus nur zu notwendigen Besorgungen und zum Kirchgang. In Mainz besuchte Guardini das humanistische Gymnasium. Die Sprache der Bildung und des freundschaftlichen Austausches war somit das Deutsche. Er stand also im Spannungsfeld zwischen Geburts- und Wahlheimat, wie dies heute auf viele Menschen zutrifft. Zudem lebte er in der Vielfältigkeit der Wirklichkeit und befasste sich mit zeitgenössischer Kunst, Literatur, Philosophie, Theologie und Psychologie. In diese Fülle begab er sich beständig en parrhesia („freimütig“) hinein. Seit 1905 hatte er, ausgelöst von einem Umkehrerlebnis hin zu Christus und der Kirche, an einer denkerischen Existenzbewältigung seiner komplexen Innen- und Umwelt gearbeitet. 1914 erschien ein erstes Manuskript unter dem Titel Gegensatz und Gegensätze, dem 1925 sein philosophisches Hauptwerk Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten folgte. Darin bestimmt Guardini das Verhältnis des Gegensatzes als eine lebendig-konkrete konträre Relation zweier Momente, „deren jedes unableitbar, unüberführbar, unvermischbar in Bild: © francescoch/iStock.com 18
sich steht, doch unablöslich miteinander verbunden sind; ja gedacht nur werden können an und durch einander“ (Der Gegensatz, S. 42). Er grenzt seine Definition der Relation der Polarität bzw. des Gegensatzes vom Widerspruch und von der Synthese ab. Der Widerspruch wäre die reine Ausschließung der einen Seite insofern die andere gegeben ist, und die Synthese würde die Identität der beiden Pole bedeuten, bzw. die Aufhebung beider Seiten in einem höheren Dritten. Guardini hingegen lässt die qualitative Eigenständigkeit eines Wirklichkeitsbereichs bestehen und zugleich setzt er ihn in die spannungsvolle Relation zum anderen. Er löst die Komplexität der Wirklichkeit also weder in das Zerbrechen des Miteinanders auf (Widerspruch) noch erliegt er der Versuchung der Einebnung der Unterschiede (Synthese). Aus seinen Beobachtungen destilliert er acht Gegensatzpaare. Eines ist das von Einzelheit und Ganzheit. Er sah in seiner Zeit zunächst die Gefahr durch die Freideutsche Jugend, den Einzelnen aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu lösen, und ihn in sich selbst zu begründen. Dadurch verliere sich aber der Mensch, weshalb Guardini eine stärkere Einbindung in die Gemeinschaft fordert. In den 1930er Jahren beobachtete er mit Grauen die Verstaatlichung und Vermassung des Einzelnen im verabsolutierten Volk. Demgegenüber hob er den Wert des Einzelnen und der Eigenverantwortung hervor. Der/die Einzelne und die Gemeinschaft bedürfen einander und können nicht ohne einander sein. Trete aber eine Seite allein für sich auf, drohe gemäß Guardini der Tod der lebendigen Haltung. Sein Gegensatzdenken ist also eine Schule des Sehens. Sie besteht im Einordnen eines einzelnen Phänomens in die Ganzheitlichkeit, womit eventuelle Einseitigkeiten und Verabsolutierungen korrigiert werden. Guardini verwendet das gefundene Verhältnis des Gegensatzes als Denkstruktur für seine zahlreichen Werke. Zugleich dient ihm diese auch als Methode des Dialogs, eine „Theorie für die Auseinandersetzung, welche nicht durch Kampf gegen einen Gegner, sondern durch Synthese fruchtbarer Spannung, das heißt durch Aufbau der konkreten Einheit geschieht“ (Brief von Romano Guardini an Dr. Laubach vom 21. November 1967). Die Einheit wird also im Dialog verschiedener Akteure aufgebaut, und sie ist dort gefährdet, wo der Andere nicht als Gegenüber, sondern als Gegner angesehen, und die eigene Haltung bzw. Nation verabsolutiert wird. Guardinis Lebensspannung zwischen Italien und Deutschland treibt ihn zur Suche nach Einheit, die er denkerisch in seiner Gegensatzlehre und existentiell als Europäer findet: „Ich erkannte [Europa] als die Basis, auf der ich allein existieren könne: hineingewandt in das deutsche Wesen, aber in Treue festhaltend die erste Heimat; und beides nicht als bloßes Nebeneinander, sondern eins in der Realität ‚Europa‘“ (Stationen und Rückblicke, 21995, S. 296). Europäer zu sein bedeutet für Guardini weder eine Ablösung von den eigenen Wurzeln noch einen Widerspruch zu anderen Nationen. Europa ist für ihn der Einheitsgrund und der Zusammenhang für das Leben-Können in den Spezifika der eigenen Herkunft. 1962 wird dem Deutsch-Italiener Romano Guardini schließlich der Erasmuspreis in Brüssel als einem „der größten Europäer von heute“ verliehen. An seine Methode des Gegensatzes und des Dialogs sollte in einem komplexen Europa vor der anstehenden Wahl erinnert werden. Paul Metzlaff promoviert an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Erfurt über die Gegensatzlehre Romano Guardinis und ist im Dikasterium für Laien, Familie und Leben in Rom tätig. 19
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