„Ich will es – werde rein!“ (Mk 1,41) Sr. Inga Kramp CJ stellt sich die Frage, was hinter den Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im Neuen Testament steht. Im Markusevangelium wird uns erzählt, wie Jesus einen Mann heilt, der an Aussatz erkrankt ist (Mk 1,40–45). Dieser bittet ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen!“ Jesus berührt den Mann und sagt: „Ich will es – werde rein!“ Was steht hinter den Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im Neuen Testament? Um das zu verstehen, müssen wir uns mit den Weisungen der Tora beschäftigen, also den Geboten, die Gott Israel beim Bundesschluss am Sinai gegeben hat. In ihnen ist vielfach von Reinheit und Unreinheit die Rede. Dahinter stehen verschiedene Konzepte, die man nicht vermischen sollte. Insbesondere gilt es zwischen kultischer und ethischer Reinheit zu unterscheiden. Kultisch unrein wird man nach der Tora zum Beispiel durch die Berührung von Toten, von Blut und anderen Körperflüssigkeiten. In dieser Zeit darf man die Sphäre des Heiligen nicht betreten und muss sich von anderen Menschen fernhalten, weil die Berührung mit einem unrein gewordenen Mitmenschen auch unrein macht. Nach einer festgesetzten Zeit und in der Regel einer rituellen Waschung darf der Mensch wieder am Kult teilnehmen und Umgang mit anderen Menschen pflegen. Diese kultische Unreinheit hat keine ethische Qualität. Sie geschieht unter bestimmten Umständen, die oft unvermeidlich sind: etwa Regelblutung, Samenerguss, Aussatz. Manchmal ist es in der Tora sogar ethisch geboten, sich kultisch unrein zu machen. So ist ein Sohn verpflichtet, seinen Vater zu begraben, macht sich dabei aber kultisch unrein. Man könnte das damit vergleichen, dass man, wenn man auf der Toilette war, sich erst die Hände waschen muss, ehe man wieder mit anderen Menschen umgeht. Es gehörte einfach zur religiösen Praxis, ab und zu unrein zu sein. Zu einem großen Leiden führte Unreinheit erst, wenn sie zum Dauerzustand wurde, beispielsweise bei dem aussätzigen Mann, den die Unreinheit, obwohl nicht schuldhaft, in die totale Isolation brachte. Hier handelt Jesus ganz unerwartet: Er berührt den an Aussatz erkrankten Mann und heilt ihn. Das erwartete Verhalten wäre gewesen, einen Bogen um den Aussätzigen zu machen. Hier wird etwas sehr Grundsätzliches an der Haltung Jesu deutlich: Er hat ein offensives Konzept von Heiligkeit. Das heißt, er geht davon aus, dass andere an ihm heil und rein werden und befürchtet nicht, sich selbst an den anderen unrein zu machen. Angesichts dessen sollten wir uns fragen: Welches Konzept von Heiligkeit herrscht in unserer Kirche? Vertrauen wir darauf, dass Menschen, wer sie auch seien und wo immer sie gerade im Leben stehen, in der Kirche in der Berührung mit Jesus heil(ig) werden, oder fürchten wir, dass die Heiligkeit der Kirche an ihnen Schaden nimmt? Sr. Igna Kramp CJ leitet den Entwicklungsbereich Geistliche Prozessbegleitung in Fulda. Sie findet das Heil mit den Jahren weniger klar und zugleich realer. Bild: © Jaroslav Drazil: Judas (2021, Ausschnitt) 9 SCHWERPUNKT
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