Jesuiten 2024-3 (Schweiz-Ausgabe)

Die Sache mit dem Herrgottswinkel Ist der Herrgottswinkel altes Brauchtum, längst überholt? Oder doch gefüllt mit einer Weisheit, die die Zeiten überdauert? Sr. Martina Winklehner SDS fragt: Kann Schauen heil machen? Ich stamme aus dem Mühlviertel, einer ländlichen Region in Oberösterreich. Damals wie heute findet man in manchen Häusern eine Stelle im Wohnbereich, die ein Kruzifix ziert. Andachtsstücke, Bilder von wichtigen Personen oder Zettel mit Anliegen werden dem Ort anvertraut. An Festtagen wird er geschmückt, im Alltag ist er vom Küchentisch aus nicht zu übersehen – der sogenannte Herrgottswinkel. Bei Ignatius von Loyola stoßen wir im Exerzitienbuch (EB) auf ein ähnliches Motiv. Als Schlusspunkt der ersten Übung der ersten Exerzitienwoche lädt Ignatius dazu ein, den Blick auf IHN, den Gekreuzigten, zu richten. Das eigene Leben soll ins Gebet gebracht werden. Hinschauen auf einen, ja sogar reden mit jemandem, dessen Leib gezeichnet ist von zugefügtem Leid und Tod – ist das eine für unsere Zeit unangebrachte bzw. unverständliche Verherrlichung von Selbstaufopferung? Oder doch eine nutzbringende, heilsame Begegnungszeit? Ignatius empfiehlt jedenfalls diesen wiederholenden Blick auf den Gekreuzigten: „Indem man sich Christus unseren Herrn vorstellt, vor einem und ans Kreuz geheftet, ein Gespräch halten: Wie er als Schöpfer gekommen ist, Mensch zu werden, und von ewigem Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben.“ (EB 53) „Das Gespräch wird gehalten, indem man eigentlich spricht, so wie ein Freund zu einem anderen spricht oder ein Knecht zu seinem Herrn, indem man bald um irgendeine Gnade bittet, bald sich wegen einer schlechten Tat anklagt, bald seine Dinge mitteilt und in ihnen Rat will.“ (EB 54) Das Gespräch mit dem Gekreuzigten ist nicht nur für die Exerzitien gedacht, sondern auch als Teil des alltäglichen Gebets. Es ist herauszuspüren, dass es Ignatius nicht um ein Gespräch mit einem historischen Jesus der Passionsgeschichte geht, sondern mit einem beinahe angreifbaren Gegenüber, das auch aktuell berühren und verwandeln will. Es will in die heilsgeschichtliche Bewegung hineinnehmen, die im gesamten Leben Jesu sichtbar wurde und die immer noch von Gott ausgeht. „Aus seiner Fülle haben wir empfangen Gnade über Gnade … Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“, heißt es schon im Johannesevangelium (Joh 1, 16–18). Zugegeben – der Blick auf das Schöne, das einem Menschen zufällt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben auch geprägt ist von Durchkreuzungen. Dazu gehören Erfahrungen wie das Scheitern bei einem Projekt sowie in Beziehungen oder das schmerzhafte Fühlen einer Leerstelle, weil ein liebgewordener Mensch stirbt. Wir leben in einer Zeit, in der durch die Kriege in Europa und im Nahen Osten wieder stärker ins Bewusstsein rückt, was Menschen anderen Menschen antun können. Die unvorstellbaren Tragödien, die sich darin und in den anderen kleineren und größeren Konfliktherden dieser Welt ereignen, brinBild: © Jaroslav Drazil (2024, Ausschnitt) 10 SCHWERPUNKT

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