Jesuiten 2024-3 (Schweiz-Ausgabe)

Heilsame Momente der Klarheit In seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger erlebt P. Thomas Curran SJ, zu welchen Veränderungen Bildung bei den Inhaftierten führt. Was in den Biografien über Ignatius von Loyola oftmals wenig Beachtung findet, ist die Zeit, die er in einer Gefängniszelle verbracht hat. Doch diese Erfahrungen im Gefängnis waren für ihn Momente der Klarheit. Ignatius wurde 1527 unter dem Vorwurf der Ketzerei inhaftiert. Das erste Mal wurde er für 42 Tage in Alcalá inhaftiert, weil er sich öffentlich zu theologischen Fragen geäußert hatte, ohne über eine theologische Ausbildung zu verfügen. Seine zweite Haftzeit in Salamanca dauerte immerhin 22 Tage. In Ignatius reifte die Überzeugung, dass er eine Ausbildung in Theologie und anderen Studienbereichen absolvieren musste, wenn er öffentlich predigen wollte. Die Haft verschaffte ihm Klarheit: Entweder erlangt er die akademischen Qualifikationen, um das Evangelium zu verkünden, oder er verbringt weiterhin Zeit hinter Gittern, weil er erneut der Ketzerei beschuldigt werden wird. In meiner Arbeit beim Jesuit Prison Education Network (JPEN) erlebe ich regelmäßig ähnliche Momente der Klarheit, wenn ich in Gefängnissen unterrichte. Anders als in Europa liegt der Schwerpunkt amerikanischer Gefängnisse nicht auf Resozialisation, sondern auf Bestrafung und Schutz der Gesellschaft vor den Straftätern. Ein solches Konzept beraubt die Inhaftierten ihrer Menschenwürde, da sie durch die Isolation zu Fremdkörpern der Gesellschaft gemacht werden. Es entstehen unheilvolle Parallelgesellschaften. Nicht selten nehmen sich Inhaftierte selbst nicht mehr als Menschen wahr. Genau hier setzt JPEN an. Wir hoffen, dass die Inhaftierten – wie Ignatius – einen „heilsamen Moment der Klarheit“ erleben werden, der ihr Leben transformieren wird. Durch höhere Bildung in den Gefängnissen erleben die Insassen eine unvorstellbare Transformation. Einer unserer Studenten drückte es folgendermaßen aus: „Ich erlebe eine unglaubliche Verwandlung: Ich sehe mich nicht mehr als Straftäter, sondern als Student.“ Gefängnisstudierende verstehen sehr genau, dass Bildung ein Weg zu einer vorzeitigen Entlassung sein kann und die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit deutlich verringert. Zu diesen „Momenten der Klarheit” gehört eine grundlegend heilsame Erfahrung: sich wieder als Mensch zu fühlen! Bildung schenkt den Inhaftierten Selbstwertgefühl. Sie gewinnen die Überzeugung, dass auch ehemalige Straftäter*innen einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Somit stellen sie das auf Aussonderung ausgelegte System in Frage. Zuallererst erkennen sie, dass sie trotz ihrer Straftaten zur Gesellschaft gehören. Wenn sie — was nicht selten geschieht — wieder in den Arbeitsmarkt integriert sind, helfen sie, eine Transformation in der Gesellschaft herbeizuführen. Denn auch dort kommt „Ich sehe mich nicht mehr als Straftäter, sondern als Student.“ Bild: © Jaroslav Drazil: Adenauer-Platz 3 (2024, Ausschnitt) 14

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==