Jesuiten 2024-3 (Schweiz-Ausgabe)

Es kann dir nix g’schehn!? Was haben Wittgenstein und Paulus im Blick auf Heilsgewissheit gemeinsam? Und was haben sie uns heute zu sagen? Ein Beitrag von Martin Dürnberger. Ende des Jahres 1909 besucht ein junger Mann der gehobenen Wiener Gesellschaft eine Vorstellung im Deutschen Volkstheater. Es wird Ludwig Anzengrubers Stück Die Kreuzelschreiber aufgeführt. Was dem etwa 20-jährigen Besucher dabei grundstürzend aufgeht, wird ihn ein Leben lang begleiten, auch wenn er später kaum darüber schreibt: die Möglichkeit von Religion. Diese erschließt sich ihm in einem kurzen Satz, den eine Figur des Stücks äußert: „Es kann dir nix g’schehn!“ Es ist eine Einsicht, die der Protagonist an der Grenze von Leben und Tod befreiend erfahren hat: Ganz gleich, was dir alles widerfahren mag – im Letzten kann dir nichts passieren. Eben das, so geht dem jungen Theaterbesucher Ludwig Wittgenstein auf, ist aber die eigentliche Grundfigur des Religiösen: nicht (naturwissenschaftlich überholte) Welterklärung, nicht (spekulativ galoppierende) Metaphysik, nicht (psychologisch triviale) Stabilisierungsleistung, sondern gleichermaßen unverfügbare wie unleugbare Erfahrung existenzieller Heilsgewissheit. Was auch immer passiert, es kann dir im Letzten nichts geschehen – das ist in christlicher Lesart eine Variante dessen, was Paulus im Römerbrief schreibt: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi.“ Spätestens seit Paulus freilich begleiten das Christentum auch Herausforderungen, die mit dieser Erfahrung von Heilsgewissheit in Christus einhergehen: (Wie) kann man sie denkerisch redlich einholen – und (wie) kann man sie spirituell praktisch kultivieren? Auch wir stehen heute vor diesen Fragen, in manchen Formen entspannter, in anderen vielleicht schärfer als Glaubende früherer Tage: Wo früher die Rede von der massa damnata, der verurteilten Masse, jeden Heilsoptimismus für sich und andere zügelte, tut dies heute eher das Erschrecken über eine Welt, die ihre Kinder frisst und deren Kinder sich ermorden. Wie sollte man hier zuversichtlich oder gar gewiss sein können, dass all dieses Chaos irgendwie himmlisch heil zu werden vermag – sind hier nicht Zynismus, Resignation oder Verzweiflung näher liegende Haltungen? Erlaubt man sich einen schematischen Zugriff, kann man drei Versuche unterscheiden, die in Christus erschlossene Heilsgewissheit theologisch einzuholen bzw. zu stabilisieren. Eine erste Möglichkeit ist dogmatische Systematisierung: Die objektive Lehre soll dabei gewissermaßen die Ausfallshaftung für die subjektive Gewissheit übernehmen, die tatsächlich mitunter schwankt. Was individuell nicht immer abrufbar ist, macht die Sicherheit eines Lehrgebäudes wett, in dem möglichst fugendicht dargelegt ist, wie alles mit allem zusammenhängt bzw. wie darin die Souveränität Gottes alles zum Besten ordnet. Man muss kaum erläutern, wie sehr diese Strategie an ihre Grenzen gekommen ist. Gleichwohl hat sie eine starke Seite: Sie will die eigentümliche Klarheit der Heilserfahrung wahrheitsförmig vernünftig rekonstruieren. Eine zweite Möglichkeit, Heilssicherheit zu denken, ist uns vielleicht zeitgenössisch näher: Es ist ihre moralische Recodierung. Tatsächlich gibt es nicht nur gerade im Bereich Kann all das Chaos um uns herum himmlisch heil werden? Bild: © Jaroslav Drazil: Jesus und Magdalena (2021, Ausschnitt) 4 SCHWERPUNKT

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