Jesuiten heilsam 2024-3
Jesuiten 2024-3 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. Mehr Informationen zur Berechnungsmethodik, zur Kompensation und dem gewählten GoldstandardKlimaschutzprojekt finden Sie unter klima-druck.de/ID. klima-druck.de ID-Nr. Druckprodukt CO₂ kompensiert 24178367 Foto: © Katharina Gebauer 1 Editorial Schwerpunkt 2 Heil und Heilung 4 Es kann dir nix g’schehn!? 6 Die heilvolle Wendung des traumatischen Exils 9 „Ich will es – werde rein!“ (Mk 1,41) 10 Die Sache mit dem Herrgottswinkel 12 Entfremdung überwinden 14 Heilsame Momente der Klarheit 17 Erdung und Heilung 18 „Ich weiß nicht, wie man stirbt“ 20 Heile Welt Geistlicher Impuls 22 Im Kreuz ist Heil und Leben Was macht eigentlich …? 24 P. Marco Hubrig SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Eberhard von Gemmingen SJ: Christen verändern die Welt Licht in allen Dingen finden – Adventskalender Vorgestellt 32 In welcher Kultur leben wir? Die Stimmen der Zeit 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum Sie strahlen eine anmutige Ruhe aus, die Figuren des Künstlers Jaroslav Drazil. Die großformatigen Gemälde zeigen biblische Personen und auch Menschen des Alltags. Der Würzburger Maler schafft Portraits, die den Betrachter in den Bann ziehen, weil sie so fragend und sehnsuchtsvoll blicken. Man möchte den Figuren fast Gedanken und Fragen zuschreiben: Was macht mich aus? Was erfüllt mich? Was schenkt mir Heil? Dabei ertappt man sich, dass man Fragen formuliert, die zu den menschlichen Grundfragen gehören. Und nach deren Antworten wir wohl ein Leben lang suchen. Stefan Weigand
im zwischenmenschlichen Small Talk wurden Sie bestimmt auch schon unzählige Male gefragt, ob bei Ihnen alles „gut“ sei. Das schnell geantwortete „ja“ klingt bei ehrlicher Betrachtung in den meisten Fällen eher nach Vermeidungstaktik, wenn nicht sogar nach Lüge. Dabei ist es offensichtlich: Es ist nicht alles gut in unserer Welt. Da hilft kein Schönreden, kein Augenverschließen und auch kein frommer (Kalender-)Spruch. Vielmehr gehört es zur christlichen Überzeugung, dass unsere Welt als ganze und jede*r Einzelne von uns in ihr erlösungsbedürftig sind: Krankheiten und Umweltkatastrophen, Krieg und Terror, Schuld und Not ... Leid in all seinen Facetten. Der Glaubende darf sich jedoch auch in die Hoffnung hineinwerfen, dass von Gott her ein umfassendes Heil verheißen ist, dass – schon heute beginnend – alles Leid sich einmal in der Zukunft heilsam verwandeln wird. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass einmal alles gut werden wird? Was lässt Ihren Optimismus im Klein-Klein des täglichen Wahnsinns nicht verbittern und absterben? Wir haben Autor*innen gebeten, aus verschiedenen Perspektiven der Frage nach dem Heil und dem, was in diesem Leben heilsame Kraft entfalten kann, nachzugehen. Es sind oftmals zarte Erfahrungen und einladende Suchbewegungen, die Sie zur persönlichen Auseinandersetzung einladen. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre, durch die Sie sich (neu) Ihrer heilsamen Hoffnungsquellen bewusst werden können. Lassen Sie sich auch ermutigen, im Small Talk klar zu antworten, dass im besten Fall vieles oder zumindest manches „gut“ sei. Vielleicht durchbricht dies die eingefahrenen Gesprächswege und eröffnet einen lebendigen Austausch darüber, wie man einander Hoffnung schenken und heilsam begegnen kann. Liebe Leserinnen und Leser, P. Clemens Kascholke SJ und P. Christian Lischka SJ EDITORIAL 1
Heil und Heilung Wird alles (wieder) gut? Mit dieser Frage und dem Zusammenhang von Heil, Heilung und heilig befasst sich P. Eckhard Frick SJ. Heil: Dieses Wort steht für sehnliches Wünschen und zugleich für abgrundtiefe Skepsis gegenüber allen Versprechungen einer „heilen Welt“. Obwohl wir Menschen heils- und trostbedürftige Wesen sind, so fürchten wir doch, mit leeren Vertröstungen getäuscht zu werden. Im Wortfeld heil/heilen/heilig verbinden sich sehr konkrete, an Leib und Seele gespürte Erfahrungen auf der psychischen, sozialen und spirituellen Ebene. Dieselbe Bandbreite haben auch die gegenteiligen Begriffe Wunde, Verletzung und Traumatisierung. Von Kindesbeinen an und auch im Erwachsenenalter kann durch kleinere oder größere Verletzungen das Bedürfnis nach Trost entstehen. So ist ein bekanntes Kinder-Trostlied auch zum Schlager der Mainzer Fastnacht geworden, das mitten im Klamauk von Blasmusik und Büttenreden einen Moment der Nachdenklichkeit schenkt: „Heile, heile Gänsje, ’s is bald widder gut, ’s Kätzje hot e Schwänzje, ’s is bald widder gut“. Kindliche Tränen trocknen durch die Reime des Trostliedes, trocknen dadurch, dass Mutter oder Vater trösten und vielleicht kühle Luft auf die Verletzung pusten. Worauf reimen sich jedoch die Verletzungen der Erwachsenen? Was tröstet angesichts des persönlichen oder kollektiven Unheils? Heil Das Eigenschaftswort heil bedeutet: unbeschädigt, unverletzt, gesund, und ist mit dem englischen whole (ganz, vollständig, unverletzt) verwandt. Es stammt aus dem religiös-kultischen Bereich, was beim Hauptwort Heil noch deutlicher ist: Glück, Wohlergehen, Rettung, Erlösung im Glauben. Der Wunsch nach einem ganzheitlichen, holistischen Menschenbild wird gerade 2
in der Medizin desto stärker, je kleinteiliger und spezialisierter die Heil-Kunde sich organisiert. An der Rolle, die eine naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtete und hochwirksame Medizin in der Gesellschaft spielt, lässt sich zweierlei ablesen: Vieles, sehr vieles kann wirklich „wieder gut werden“. Den hohen (Heils-)Erwartungen stehen aber auch Erfahrungen des Scheiterns der ärztlichen Kunst gegenüber. Das Scheitern erinnert daran, dass das Heil letztlich unseren menschlichen Möglichkeiten entzogen ist. Es ist nicht herstellbar, nicht machbar – menschliches Leben bleibt Fragment. heilen Das Zeitwort heilen hat zwei Bedeutungen, die ursprünglich durch zwei verschiedene Begriffe ausgedrückt wurden: gesund, ganz machen (transitive Bedeutung der Heilung) und heil, gesund werden (intransitive Bedeutung). So sagen wir bis heute: „Die Ärztin heilt die Wunde“ oder „Die Wunde heilt (von selbst)“. Trotz möglicher Heils-Erwartungen kranker Menschen und eigener Größenfantasien geht die Medizin bescheiden mit dem transitiven Gebrauch des Zeitwortes heilen um. Von dem Chirurgen Ambroise Paré stammt der Satz: „Je le pansay, Dieu le guarît.“ („Ich hab’s verbunden, Gott hat’s geheilt.“). Dass die Heilung nicht von Menschen, sondern von Gott kommt, entlastet von Allmachtsideen und vom Machbarkeitswahn. Nicht alle, die in der Medizin arbeiten, werden sich so ausdrücken wie Ambroise Paré. Aber alle müssen mit den unvermeidlichen Grenzen der Heilkunst umgehen. heilig Das Eigenschaftswort heilig bedeutet: unantastbar, von Gottes Geist erfüllt, gottgeweiht. Obwohl damit das bezeichnet wird, was über alles Irdische erhaben ist, schwingt eine durchaus irdische Ausgangsbedeutung mit, nämlich: Heil bringend, heilvoll, heilsam. Es gibt heilige Momente im Leben, nicht nur in ausgesprochen sakralen Zusammenhängen, sondern überall dort, wo wir über die Spuren Gottes staunen. Auch das Heilige können wir nicht herstellen, aber wir können solche heiligen Momente unseres Lebens dankbar anerkennen. Ignatius: Ein Heiliger und Heilung Suchender Ignatius von Loyola machte nach seiner Verwundung in Pamplona und auch durch mehrere Steinleiden vielfache Bekanntschaft mit Ärzten. Nennen wir ihn auch deshalb heilig, weil er durch seinen Glaubensweg Heil und Unheil aus Gottes Hand anzunehmen lernte? In der Nummer 23 der spirituellen Exerzitien lässt er uns eine Haltung der Gelassenheit gegenüber Krankheit und Gesundheit einüben, die er „sich-indifferent-machen“ nennt: „Wir sollen also nicht unsererseits mehr wollen: Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Ehrlosigkeit, langes Leben als kurzes; und genauso folglich in allem sonst, indem wir allein wünschen und wählen, was uns mehr zu dem Ziel hinführt, zu dem wir geschaffen sind.“ So erstrebenswert es sein mag, von einer Krankheit zu genesen: Heilung ist immer nur ein vorläufiges Ziel. Das Heil setzt Ignatius mit dem letzten Ziel gleich, zu dem wir geschaffen sind, das wir uns nicht selbst gesetzt haben. Aber wir können dieses Ziel „wünschen und wählen“, uns über Gesundheit freuen, Krankheiten entweder bekämpfen oder annehmen, wenn wir die Vaterunser-Bitte tiefer verstehen: „Dein Wille geschehe!“. P. Eckhard Frick SJ lehrt als Psychiater und Psychoanalytiker Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit an der TU München: Gegenüber Heil ist Heilung höchstens ein vorletztes Ziel. Mehr erfahren: Eckhard Frick, Sich heilen lassen. Ignatianische Impulse Band 12, echter-Verlag, ISBN 978-3-429-02698-1 Bild: © Jaroslav Drazil: Gebet (2021, Ausschnitt) 3 SCHWERPUNKT
Es kann dir nix g’schehn!? Was haben Wittgenstein und Paulus im Blick auf Heilsgewissheit gemeinsam? Und was haben sie uns heute zu sagen? Ein Beitrag von Martin Dürnberger. Ende des Jahres 1909 besucht ein junger Mann der gehobenen Wiener Gesellschaft eine Vorstellung im Deutschen Volkstheater. Es wird Ludwig Anzengrubers Stück Die Kreuzelschreiber aufgeführt. Was dem etwa 20-jährigen Besucher dabei grundstürzend aufgeht, wird ihn ein Leben lang begleiten, auch wenn er später kaum darüber schreibt: die Möglichkeit von Religion. Diese erschließt sich ihm in einem kurzen Satz, den eine Figur des Stücks äußert: „Es kann dir nix g’schehn!“ Es ist eine Einsicht, die der Protagonist an der Grenze von Leben und Tod befreiend erfahren hat: Ganz gleich, was dir alles widerfahren mag – im Letzten kann dir nichts passieren. Eben das, so geht dem jungen Theaterbesucher Ludwig Wittgenstein auf, ist aber die eigentliche Grundfigur des Religiösen: nicht (naturwissenschaftlich überholte) Welterklärung, nicht (spekulativ galoppierende) Metaphysik, nicht (psychologisch triviale) Stabilisierungsleistung, sondern gleichermaßen unverfügbare wie unleugbare Erfahrung existenzieller Heilsgewissheit. Was auch immer passiert, es kann dir im Letzten nichts geschehen – das ist in christlicher Lesart eine Variante dessen, was Paulus im Römerbrief schreibt: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi.“ Spätestens seit Paulus freilich begleiten das Christentum auch Herausforderungen, die mit dieser Erfahrung von Heilsgewissheit in Christus einhergehen: (Wie) kann man sie denkerisch redlich einholen – und (wie) kann man sie spirituell praktisch kultivieren? Auch wir stehen heute vor diesen Fragen, in manchen Formen entspannter, in anderen vielleicht schärfer als Glaubende früherer Tage: Wo früher die Rede von der massa damnata, der verurteilten Masse, jeden Heilsoptimismus für sich und andere zügelte, tut dies heute eher das Erschrecken über eine Welt, die ihre Kinder frisst und deren Kinder sich ermorden. Wie sollte man hier zuversichtlich oder gar gewiss sein können, dass all dieses Chaos irgendwie himmlisch heil zu werden vermag – sind hier nicht Zynismus, Resignation oder Verzweiflung näher liegende Haltungen? Erlaubt man sich einen schematischen Zugriff, kann man drei Versuche unterscheiden, die in Christus erschlossene Heilsgewissheit theologisch einzuholen bzw. zu stabilisieren. Eine erste Möglichkeit ist dogmatische Systematisierung: Die objektive Lehre soll dabei gewissermaßen die Ausfallshaftung für die subjektive Gewissheit übernehmen, die tatsächlich mitunter schwankt. Was individuell nicht immer abrufbar ist, macht die Sicherheit eines Lehrgebäudes wett, in dem möglichst fugendicht dargelegt ist, wie alles mit allem zusammenhängt bzw. wie darin die Souveränität Gottes alles zum Besten ordnet. Man muss kaum erläutern, wie sehr diese Strategie an ihre Grenzen gekommen ist. Gleichwohl hat sie eine starke Seite: Sie will die eigentümliche Klarheit der Heilserfahrung wahrheitsförmig vernünftig rekonstruieren. Eine zweite Möglichkeit, Heilssicherheit zu denken, ist uns vielleicht zeitgenössisch näher: Es ist ihre moralische Recodierung. Tatsächlich gibt es nicht nur gerade im Bereich Kann all das Chaos um uns herum himmlisch heil werden? Bild: © Jaroslav Drazil: Jesus und Magdalena (2021, Ausschnitt) 4 SCHWERPUNKT
der Moral Gewissheiten, sondern zugleich auch eine eigentümliche Form existenzieller Ruhe. Diese rührt daher, dass man im Blick auf das, was in Sachen Klimakrise, Geschlechtergerechtigkeit und Migration gefordert ist, schlicht und ergreifend tut, was man kann: Wer sollte uns verurteilen, was sollten wir uns vorwerfen, wenn wir uns daran halten? Es wäre spannend, diese Denkfigur in ihren Ambivalenzen zu rekonstruieren. An dieser Stelle interessiert uns nur eine ihrer Grenzen: Es gibt auch eine spezifische Verzweiflung, die aus moralischer Praxis stammt – weil man gerade in ihr erst wahrnimmt, wie weit man hinter den Forderungen der Gerechtigkeit bleibt. Eine dritte Möglichkeit, Heilsgewissheit einzuholen, ist folglich spiritueller Natur: Wenn uns weder Wahrheit noch Moralität jene tiefe innere Sicherheit in Sachen Heil zu vermitteln vermögen, die in Wittgensteins „Es kann dir nix g’schehn!“ zum Ausdruck kommt – liegt es dann nicht nahe, sie in Gebet, Stille, Meditation zu verorten? So richtig es mir scheint, dass all das durch nichts ersetzt werden kann, so wahr ist auch, dass spirituelle Übungen nicht magisch zu mehr Ruhe, Trost und Frieden führen – sich in die Gegenwart Gottes zu versetzen, ist immer auch von Zerstreuung und Bedrängnis begleitet. Was bleibt nach diesem Durchgang? Lässt sich nirgends jene Form existenzieller Heilsgewissheit finden, mit der Wittgenstein die Möglichkeit von Religion schlechthin verband? Zum einen darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Die Einübung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Gebet eröffnet zweifellos immer wieder Momente lebenstragender Heilszuversicht für sich und andere. Zum anderen sollten wir aber auch nicht in falscher Form darauf fixiert sein. Denn mit Paulus lässt sich auch ein zweites notieren: Wenn uns nichts von der Liebe Christi trennen kann, dann auch nicht die Fragilität eigener Heilsgewissheit. Martin Dürnberger ist Leiter der Salzburger Hochschulwochen und empfindet es als heilsam, wenn er Beiträge gerade noch fristgerecht abliefert. Autorenfoto: © Luigi Caputo 5
Die heilvolle Wendung des traumatischen Exils Welche Spuren alttestamentlicher Heilssuche strahlen in die Gegenwart hinein? Beobachtungen von Achim Schwarz anhand von Deuterojesaja. Das existenzielle Streben nach Sinn und Erfüllung ist genuin an das Menschsein gekoppelt und wird seit jeher spirituell gedeutet. Das sogenannte Alte Testament, das in weiten Teilen der jüdischen hebräischen Bibel entspricht, gibt Einblick in die Suche Israels nach Heil(ung). Dieses Suchen rief immer auch Sinnkrisen hervor. Spannungen dieser Krisen des Gottesvolkes in einer ambivalenten Umwelt strahlen deutlich in die Gegenwart hinein – anders als es der Begriff „Altes“ Testament vermuten ließe. Ein solcher Abschnitt mit Strahlkraft befindet sich im Bereich der Prophetie: Bei Deuterojesaja, so bezeichnen Exeget*innen die Kapitel 40 bis 55 des Jesajabuchs, wird das Trauma des Babylonischen Exils in den heilsvollen Kontext eines untrennbaren Bundes mit dem einzigen Schöpfergott JHWH gestellt. Die erste Eroberung Jerusalems 587 vor Christus durch den babylonischen König läutete diese dunkle Epoche der Geschichte des israelitischen Volkes ein. Diese Exilierung zog eine massive Identitätskrise der Israelit*innen nach sich. Hierdurch änderten sich nicht nur persönliche Sozialisationsumstände, sondern auch der Mittelpunkt der JHWH-Religion: Der erste 6
Achim Schwarz arbeitet als studentischer Mitarbeiter für Biblische Theologie an der HU Berlin. Das Erkennen des Geschöpflichen im Gegenüber empfindet er als heilsame Einübung. Tempel in Jerusalem wurde zerstört. So kam insbesondere die Frage auf, wie ein Unglück solchen Ausmaßes geschehen konnte. Ins Zentrum rückte die persönliche sowie theologische Reflexion dieser Frage, die zu einer faszinierenden Erneuerung führte. Eindrücke des Bestraftseins und der Gottverlassenheit wurden (und werden) durch die Zuversicht des erneuerten Bundes mit Gott und dessen Unzerbrechlichkeit ausgetauscht. Elementar für das Verständnis von Jesaja und somit auch des Alten Testaments ist, dass das hebräische Denken schwerlich in nicht-semitischen Sprachen zur vollen Blüte gelangt. So ist bei Übersetzungen eine Bedeutungsverschiebung unvermeidlich. Das hebräische Wort, welches im Deutschen mit Bund übersetzt wird, lautet ברית (berit). ברית kommt aus dem profanen Bereich und kann als Synonym im Sinne von Gesetz benutzt werden; bei den Hebräer*innen war die Vorstellung von Gesetz im Sinne von Vertrag vorherrschend. Diese begriffliche Verbindung gibt Einblick, wie der Bund zwischen JHWH und seinem Volk verstanden werden kann: ein Bund zweier nicht ganz gleichberechtigter Partner*innen. Hierbei schwingt eine gewisse Verpflichtung für die Bündnispartner*innen mit, den Bund einzugehen. Der Mensch als kreatürliches Geschöpf darf auf den auferlegten Bund vertrauen, und so handelt es sich meiner Ansicht nach um einen der wenigen Kontexte, in dem eine Verpflichtung – zum Bund mit Gott – ein großes Geschenk darstellt. „Das Land öffne [seine Ackerfurchen], und sie sollen fruchtbar sein mit Heil, und es lasse Gerechtigkeit hervorwachsen zugleich! Ich, JHWH, habe es geschaffen.“ (Jes 45,8) Hier wird dem Versprechen – des durch das Exil als gebrochen empfundenen Bundes – neue Gültigkeit eingehaucht. Gott befreit Israel durch den persischen König Kyros II. aus dem Exil. Somit erscheint die Frage nach der Schuld Israels hintergründig. Vielmehr tritt das Versprechen des Heils hervor. Auch hier lohnt sich eine Betrachtung der vielseitigen Bedeutung, die in der hebräischen Wurzel ישע (jascha) steckt, die im Deutschen oft mit Heil übersetzt wird. Sie beschreibt ein von Gott gewährtes, absolutes Gut und findet überwiegend Verwendung in Kontexten, in denen JHWH in schwierigen Situationen helfend eingreift. So auch im Kontext des erschütternden Babylonischen Exils. Keinesfalls wurde der Bund Gottes mit seinem Volk aufgelöst, im Gegenteil: Vor dem Abgrund darf Israel das göttliche Heil schauen, welches religionsphilosophisch als Vervollständigung gedeutet werden kann. Eine Vervollständigung, die das anfangs erwähnte Streben nach Sinn füllen kann. Die Wandlung hin zu einer heilszugewandten Theologie Deuterojesajas vollzog sich durch die Notwendigkeit, dem Bund neu zu vertrauen. Dies gelingt wahrlich nicht allein, sondern ist der vielseitigen Gotteserfahrung während des Exils zu verdanken. Mich persönlich begeistert dieser alttestamentliche Abschnitt, da er die Sinnkrisen des israelitischen Volkes fassbar hält und die Vertrauensfrage hinsichtlich Gottes Bundes stellt, die zu jedem Glaubensleben zwangsläufig dazugehört. So strahlt diese einzigartige Geschichte noch in die Gegenwart hinein und kann Kraftquelle für Gottes Wirken sein. Deuterojesaja inspiriert, jene Sicherheit in die Welt tragen zu dürfen, dass Gott den Bund mit dem Menschen nicht kündigt, obgleich in manchen Lebenslagen das Wirken Gottes schwerlich zu erkennen sein mag. Die Exilierung zog eine Identitätskrise der Israelit*innen nach sich. Bild: © Jaroslav Drazil: Joesf und Jesus (2021, Ausschnitt) 7 SCHWERPUNKT
„Ich will es – werde rein!“ (Mk 1,41) Sr. Inga Kramp CJ stellt sich die Frage, was hinter den Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im Neuen Testament steht. Im Markusevangelium wird uns erzählt, wie Jesus einen Mann heilt, der an Aussatz erkrankt ist (Mk 1,40–45). Dieser bittet ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen!“ Jesus berührt den Mann und sagt: „Ich will es – werde rein!“ Was steht hinter den Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit im Neuen Testament? Um das zu verstehen, müssen wir uns mit den Weisungen der Tora beschäftigen, also den Geboten, die Gott Israel beim Bundesschluss am Sinai gegeben hat. In ihnen ist vielfach von Reinheit und Unreinheit die Rede. Dahinter stehen verschiedene Konzepte, die man nicht vermischen sollte. Insbesondere gilt es zwischen kultischer und ethischer Reinheit zu unterscheiden. Kultisch unrein wird man nach der Tora zum Beispiel durch die Berührung von Toten, von Blut und anderen Körperflüssigkeiten. In dieser Zeit darf man die Sphäre des Heiligen nicht betreten und muss sich von anderen Menschen fernhalten, weil die Berührung mit einem unrein gewordenen Mitmenschen auch unrein macht. Nach einer festgesetzten Zeit und in der Regel einer rituellen Waschung darf der Mensch wieder am Kult teilnehmen und Umgang mit anderen Menschen pflegen. Diese kultische Unreinheit hat keine ethische Qualität. Sie geschieht unter bestimmten Umständen, die oft unvermeidlich sind: etwa Regelblutung, Samenerguss, Aussatz. Manchmal ist es in der Tora sogar ethisch geboten, sich kultisch unrein zu machen. So ist ein Sohn verpflichtet, seinen Vater zu begraben, macht sich dabei aber kultisch unrein. Man könnte das damit vergleichen, dass man, wenn man auf der Toilette war, sich erst die Hände waschen muss, ehe man wieder mit anderen Menschen umgeht. Es gehörte einfach zur religiösen Praxis, ab und zu unrein zu sein. Zu einem großen Leiden führte Unreinheit erst, wenn sie zum Dauerzustand wurde, beispielsweise bei dem aussätzigen Mann, den die Unreinheit, obwohl nicht schuldhaft, in die totale Isolation brachte. Hier handelt Jesus ganz unerwartet: Er berührt den an Aussatz erkrankten Mann und heilt ihn. Das erwartete Verhalten wäre gewesen, einen Bogen um den Aussätzigen zu machen. Hier wird etwas sehr Grundsätzliches an der Haltung Jesu deutlich: Er hat ein offensives Konzept von Heiligkeit. Das heißt, er geht davon aus, dass andere an ihm heil und rein werden und befürchtet nicht, sich selbst an den anderen unrein zu machen. Angesichts dessen sollten wir uns fragen: Welches Konzept von Heiligkeit herrscht in unserer Kirche? Vertrauen wir darauf, dass Menschen, wer sie auch seien und wo immer sie gerade im Leben stehen, in der Kirche in der Berührung mit Jesus heil(ig) werden, oder fürchten wir, dass die Heiligkeit der Kirche an ihnen Schaden nimmt? Sr. Igna Kramp CJ leitet den Entwicklungsbereich Geistliche Prozessbegleitung in Fulda. Sie findet das Heil mit den Jahren weniger klar und zugleich realer. Bild: © Jaroslav Drazil: Judas (2021, Ausschnitt) 9 SCHWERPUNKT
Die Sache mit dem Herrgottswinkel Ist der Herrgottswinkel altes Brauchtum, längst überholt? Oder doch gefüllt mit einer Weisheit, die die Zeiten überdauert? Sr. Martina Winklehner SDS fragt: Kann Schauen heil machen? Ich stamme aus dem Mühlviertel, einer ländlichen Region in Oberösterreich. Damals wie heute findet man in manchen Häusern eine Stelle im Wohnbereich, die ein Kruzifix ziert. Andachtsstücke, Bilder von wichtigen Personen oder Zettel mit Anliegen werden dem Ort anvertraut. An Festtagen wird er geschmückt, im Alltag ist er vom Küchentisch aus nicht zu übersehen – der sogenannte Herrgottswinkel. Bei Ignatius von Loyola stoßen wir im Exerzitienbuch (EB) auf ein ähnliches Motiv. Als Schlusspunkt der ersten Übung der ersten Exerzitienwoche lädt Ignatius dazu ein, den Blick auf IHN, den Gekreuzigten, zu richten. Das eigene Leben soll ins Gebet gebracht werden. Hinschauen auf einen, ja sogar reden mit jemandem, dessen Leib gezeichnet ist von zugefügtem Leid und Tod – ist das eine für unsere Zeit unangebrachte bzw. unverständliche Verherrlichung von Selbstaufopferung? Oder doch eine nutzbringende, heilsame Begegnungszeit? Ignatius empfiehlt jedenfalls diesen wiederholenden Blick auf den Gekreuzigten: „Indem man sich Christus unseren Herrn vorstellt, vor einem und ans Kreuz geheftet, ein Gespräch halten: Wie er als Schöpfer gekommen ist, Mensch zu werden, und von ewigem Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben.“ (EB 53) „Das Gespräch wird gehalten, indem man eigentlich spricht, so wie ein Freund zu einem anderen spricht oder ein Knecht zu seinem Herrn, indem man bald um irgendeine Gnade bittet, bald sich wegen einer schlechten Tat anklagt, bald seine Dinge mitteilt und in ihnen Rat will.“ (EB 54) Das Gespräch mit dem Gekreuzigten ist nicht nur für die Exerzitien gedacht, sondern auch als Teil des alltäglichen Gebets. Es ist herauszuspüren, dass es Ignatius nicht um ein Gespräch mit einem historischen Jesus der Passionsgeschichte geht, sondern mit einem beinahe angreifbaren Gegenüber, das auch aktuell berühren und verwandeln will. Es will in die heilsgeschichtliche Bewegung hineinnehmen, die im gesamten Leben Jesu sichtbar wurde und die immer noch von Gott ausgeht. „Aus seiner Fülle haben wir empfangen Gnade über Gnade … Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“, heißt es schon im Johannesevangelium (Joh 1, 16–18). Zugegeben – der Blick auf das Schöne, das einem Menschen zufällt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben auch geprägt ist von Durchkreuzungen. Dazu gehören Erfahrungen wie das Scheitern bei einem Projekt sowie in Beziehungen oder das schmerzhafte Fühlen einer Leerstelle, weil ein liebgewordener Mensch stirbt. Wir leben in einer Zeit, in der durch die Kriege in Europa und im Nahen Osten wieder stärker ins Bewusstsein rückt, was Menschen anderen Menschen antun können. Die unvorstellbaren Tragödien, die sich darin und in den anderen kleineren und größeren Konfliktherden dieser Welt ereignen, brinBild: © Jaroslav Drazil (2024, Ausschnitt) 10 SCHWERPUNKT
Sr. Martina Winklehner SDS ist Biomedizinische Analytikerin aus Linz. Sie erlebt immer wieder: Versöhnt zu sein mit der Gegenwart, ist ein heilsamer Moment. gen das Thema Unheil, Leiden und Sterben fast täglich vor unsere Augen. So ist als betender Mensch auch die große Spannung spürbar, die darin liegt, auf den Gekreuzigten, auf einen dem Unheil ausgesetzten Menschen zu blicken und gleichzeitig der Verheißung zu glauben, dass sich in diesem Menschen das Heil der Welt zeigt. Klar ist – Beten birgt keinen Heilsautomatismus. Aber sich betreffen lassen von Gottes entschiedener und bedingungsloser Liebe, die im Leben, Sterben und in der Auferstehung Jesu sichtbar wird, kann unsere Bereitschaft erneuern, uns Menschen zuzuwenden, die unserer Hoffnung und unserer Hilfe bedürfen und uns nicht vor Anspruchsvollerem zu drücken. Wir sind eingeladen, alles daran zu setzen, Leid neben uns zu mindern, aber auch dazu befähigt, Unlösbares und selbst das Lebensende Gott anzuvertrauen, in dem letzter Halt bleibt. Wenn wir erinnert werden und glauben dürfen, dass wir noch vor unserer Leistung von Gottes Liebe umfangen sind und dass Gott selbst das Scheitern Jesu in seinen Heilsplan integrieren konnte, kann es uns leichter fallen, die gebrochene Welt zu umarmen und selbst mit den eigenen Schattenseiten in einer neuen Ganzheit zu leben. Das regelmäßige lebensbezogene, betende Schauen auf den Gekreuzigten kann mehr und mehr zum mutigen, entschiedenen, ja manchmal auch unkonventionellen Gehen und Schauen in jene Richtung werden, in die Gott geht und schaut. „Das Wort vom Kreuz ist uns Gottes Kraft“, heißt es bei Paulus (vgl. 1 Kor 1,18). Anders ausgedrückt: Wer das Herz im Herrgottswinkel der Gottesbegegnungen mitten im Leben verankert hat, durch den geschieht Heil. 11
Entfremdung überwinden P. Gerard Ryan SJ wirft einen Blick auf die Schnittstelle von Erlösung und politischen Versprechen. In einer Zeit des schwindenden Vertrauens in Institutionen verstärkt sich die Einsamkeitserfahrung vieler Menschen: Die Distanz zwischen Lebenswirklichkeit und Institution wächst und führt zum Verlust des Zugehörigkeitsgefühls und zu spiritueller Einsamkeit. Für viele Christ*innen, die sich von den Kirchenleitungen nicht respektiert fühlten, wurde die Gewissheit der geistlichen Beheimatung in Frage gestellt. Dennoch wünschen sich viele eine Christusbeziehung, und diese bedarf eines Ortes der institutionellen und gemeinschaftlichen Zugehörigkeit. Die Überschneidungen (intersection) zwischen Einsamkeit, Begegnung, Zugehörigkeit, Christus und Erlösung sind eine Herausforderung. Da es um Beziehungen geht, ist der Kontext entscheidend für das Verstehen dieser menschlichsten aller Spannungen: Einsamkeit und Zugehörigkeit. Jede Überschneidung findet in einem bestimmten Kontext statt, und Beziehungen entstehen oft ungeplant und zufällig. Die Überschneidungen zwischen der Erlösung durch Christus und der politischen Verheißung der Erlösung sind schwer zu erfassen, weil die Bedeutung des Begriff „Überschneidung“ je nach Kontext verschieden ist. Ich verstehe Überschneidung im spirituellen Sinn als eine Begegnung mit Christus in einer kirchlichen Gemeinschaft, in der man sich durch die Anerkennung der eigenen Berufung als Jünger*in wertgeschätzt fühlt. Daher soll der 12
Begegnungsaspekt im Vordergrund stehen. Ein Beispiel: Wie verändert die Begegnung mit einem Menschen mit Behinderung die Wahrnehmung meiner eigenen Verwundbarkeit und meine Gottesbeziehung? Einsamkeit verstehe ich als interpersonelle und institutionelle Erfahrung, die beeinflusst, wie wir unsere Erlösung durch Christus wahrnehmen. Erlösung bedeutet somit auch, dass wir von unserer Einsamkeit erlöst werden. Dabei erfahren wir nicht nur Trennung von Christus, sondern auch, dass Christus selbst diese Entfremdung erfährt, etwa, wenn ein Überlebender klerikaler sexueller Gewalt kein Mitgefühl von Seiten der Amtskirche erhält. Oder wenn einem Getauften die Erfahrung der sakramentalen Zugehörigkeit verweigert wird, weil seine Lebensweise kirchlich nicht anerkannt ist. Christus erfährt diese Entfremdung auch, wenn Kirchenmitglieder ihre Glaubensgemeinschaft verlassen, weil sie das Gefühl haben, nicht vermisst zu werden. Kirchliche Gemeinschaften haben heute das Bedürfnis, das Leben der Nachfolge zu erneuern. Die Synode ist ein Beispiel für dieses institutionelle Bedürfnis und den Wunsch der Menschen nach einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Kirche. Andersheit soll einen Platz in den Kirchen finden und nicht zu Diskriminierung führen, die die Anerkennung als Jünger*in Christi verweigert. Zwei Beispiele verdeutlichen, wie der/die Andere an den Rand gedrängt wird. Erstens, die Notlage schutzbedürftiger Migrant*innen und das Leid der Zivilbevölkerung in den vom Krieg zerrissenen Regionen, die in die EU, nach Großbritannien oder in die USA fliehen, werden zunehmend durch diskriminierende Äußerungen in einem breiteren politischen Diskurs instrumentalisiert. Stattdessen sollte die Begegnung mit der/ dem Anderen und die Anerkennung ihrer/seiner Geschichte dazu führen, dass Nationalstaaten politische Entscheidungen nicht an vorgegebene Ergebnisse knüpfen. Die Begegnung mit der Verwundbarkeit der/des Anderen befreit uns aus unserer ideologischen Blase, sodass Entscheidungen über das Bleiberecht nicht mehr auf Symbolpolitik, sondern auf Anerkennung der gemeinsamen Menschlichkeit beruhen. Zweitens wird niemand, der das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine, in Haiti, in Israel und dem Gaza-Streifen erlebt hat, unverhältnismäßige militärische Interventionen als Lösung sehen. Stattdessen entlarvt die Begegnung mit den leidenden Menschen, wie sehr unsere politische Sprache von Gewaltrhetorik durchtränkt ist. Der Weg zum politischen Heil ist also kein Weg der realen oder emotionalen Abschottung oder Gewalt. Er ist vielmehr geprägt von dem Frieden, den Christus uns in jeder Eucharistiefeier schenkt, und den er uns durch die Sendung des Heiligen Geistes ermöglicht hat. Unsere Sprache ist nicht nur ein Mittel, um ein Narrativ des Friedens zu verbreiten. Unsere Sprache schafft auch Frieden. Somit kann sie uns von Vorurteilen, Diskriminierung und Einsamkeit befreien. Mehr als je zuvor müssen wir mit unserer kirchlichen und theologischen Sprache aus unseren kirchlichen Blasen heraustreten und mit anderen zusammenarbeiten, um wirklich eine friedensstiftende Sprache zu entwickeln. Dadurch können wir die Entfremdung zwischen Christus und der Welt überwinden und vielen Menschen eine Zukunft der Hoffnung bieten. P. Gerard Ryan SJ ist Assistant Professor für Politische Theologie am Regis College (Toronto) und dankt Michael Dineen, Stephen Sharpe und Prof. Colleen Shantz für ihre Unterstützung. Andersheit soll einen Platz in den Kirchen finden. Bild: © Jaroslav Drazil (2024, Ausschnitt) 13 SCHWERPUNKT
Heilsame Momente der Klarheit In seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger erlebt P. Thomas Curran SJ, zu welchen Veränderungen Bildung bei den Inhaftierten führt. Was in den Biografien über Ignatius von Loyola oftmals wenig Beachtung findet, ist die Zeit, die er in einer Gefängniszelle verbracht hat. Doch diese Erfahrungen im Gefängnis waren für ihn Momente der Klarheit. Ignatius wurde 1527 unter dem Vorwurf der Ketzerei inhaftiert. Das erste Mal wurde er für 42 Tage in Alcalá inhaftiert, weil er sich öffentlich zu theologischen Fragen geäußert hatte, ohne über eine theologische Ausbildung zu verfügen. Seine zweite Haftzeit in Salamanca dauerte immerhin 22 Tage. In Ignatius reifte die Überzeugung, dass er eine Ausbildung in Theologie und anderen Studienbereichen absolvieren musste, wenn er öffentlich predigen wollte. Die Haft verschaffte ihm Klarheit: Entweder erlangt er die akademischen Qualifikationen, um das Evangelium zu verkünden, oder er verbringt weiterhin Zeit hinter Gittern, weil er erneut der Ketzerei beschuldigt werden wird. In meiner Arbeit beim Jesuit Prison Education Network (JPEN) erlebe ich regelmäßig ähnliche Momente der Klarheit, wenn ich in Gefängnissen unterrichte. Anders als in Europa liegt der Schwerpunkt amerikanischer Gefängnisse nicht auf Resozialisation, sondern auf Bestrafung und Schutz der Gesellschaft vor den Straftätern. Ein solches Konzept beraubt die Inhaftierten ihrer Menschenwürde, da sie durch die Isolation zu Fremdkörpern der Gesellschaft gemacht werden. Es entstehen unheilvolle Parallelgesellschaften. Nicht selten nehmen sich Inhaftierte selbst nicht mehr als Menschen wahr. Genau hier setzt JPEN an. Wir hoffen, dass die Inhaftierten – wie Ignatius – einen „heilsamen Moment der Klarheit“ erleben werden, der ihr Leben transformieren wird. Durch höhere Bildung in den Gefängnissen erleben die Insassen eine unvorstellbare Transformation. Einer unserer Studenten drückte es folgendermaßen aus: „Ich erlebe eine unglaubliche Verwandlung: Ich sehe mich nicht mehr als Straftäter, sondern als Student.“ Gefängnisstudierende verstehen sehr genau, dass Bildung ein Weg zu einer vorzeitigen Entlassung sein kann und die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit deutlich verringert. Zu diesen „Momenten der Klarheit” gehört eine grundlegend heilsame Erfahrung: sich wieder als Mensch zu fühlen! Bildung schenkt den Inhaftierten Selbstwertgefühl. Sie gewinnen die Überzeugung, dass auch ehemalige Straftäter*innen einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Somit stellen sie das auf Aussonderung ausgelegte System in Frage. Zuallererst erkennen sie, dass sie trotz ihrer Straftaten zur Gesellschaft gehören. Wenn sie — was nicht selten geschieht — wieder in den Arbeitsmarkt integriert sind, helfen sie, eine Transformation in der Gesellschaft herbeizuführen. Denn auch dort kommt „Ich sehe mich nicht mehr als Straftäter, sondern als Student.“ Bild: © Jaroslav Drazil: Adenauer-Platz 3 (2024, Ausschnitt) 14
es zu „Momenten der Klarheit“: Ein Straftäter hat einen gravierenden Fehler gemacht, aber er ist nicht „unheilbar böse“ und hat nach dem Strafvollzug einen Platz in der Gesellschaft verdient. Schließlich erlangen die JPEN-Studierenden ein Gefühl der eigenen Heiligkeit vor Gott, ihrem Schöpfer, der sie, wie jeden anderen Menschen auch, aus Liebe gewollt hat. Diese „Momente der Klarheit“, das Engagement für ein ernsthaftes Studium und eine ernsthafte Reflexion überzeugen mich davon, dass die Arbeit von JPEN genau auf der Linie liegt, die Ignatius und Jerónimo Nadal, einer der einflussreichsten und prägendsten ersten Jesuiten, für die Jesuiten im Sinn hatten. So schrieb Nadal im Jahre 1557, „dass wir von Gott … die Fürsorge für diejenigen annehmen, um die sich niemand kümmert, auch wenn es jemanden gibt, der sich um sie kümmern sollte.“ Damit meinte er genau jene, die durch Inhaftierung Ausgrenzung und Entmenschlichung erfahren. Jesuitische Bildung fördert Transformation. Bei der jesuitischen Bildungsarbeit von JPEN in den Gefängnissen geht es um gegenseitige Transformation. Somit bedeutet Bildungsarbeit bei JPEN – ganz im Sinne der Gründungsintention des Ordens – „den Seelen zu helfen“. Die Seelen, denen hier geholfen wird, sind sowohl diejenigen, die Unterricht erhalten, als auch diejenigen, die ihn erteilen. Denn letztere können erkennen, an welchen Stellen sie selbst an ausgrenzenden und entmenschlichenden Strukturen mitwirken. Die Grundlage der gegenseitigen Transformation ist die Erfahrung der gemeinsamen Menschlichkeit. Es ist ein intensiver und echter „Moment der Klarheit“. P. Thomas Curran SJ fühlt sich heil, wenn er bei seinen Studenten im Gefängnis ist. Sie erinnern ihn an unsere gemeinsame Menschlichkeit. 15
P. Fabian Loudwin SJ ist Seelsorger im Hamburger Marienkrankenhaus und in der Gemeinde am Kleinen Michel. Beschäftigung mit Kunst, Musik und Kreativität ist für ihn heilsam. Erdung und Heilung Gottes Gegenwart und Mitgefühl greifbar machen – P. Fabian Loudwin SJ schreibt über die spirituelle Kraft der Krankensalbung. Ignatius von Loyola sendete theologische Berater zum Konzil nach Trient. Für ihn war klar, dass die Mitbrüder nur dann gute Berater sein konnten, wenn sie durch seelsorgerliche Arbeit geerdet waren. Daher trug er ihnen auf, „die Spitäler zu besuchen und die Armen zu trösten“. In seinen Ausführungen finden sich ganz praktische Hinweise: Die Kranken sollen täglich zu der Zeit besucht werden, die für deren Gesundheit die zuträglichste ist. Viele Gespräche mit Kranken, Angehörigen und Mitarbeitenden gehören zu meinen Aufgaben im Krankenhaus. Ich bin überzeugt, dass Gott immer dabei ist, ganz gleich ob mir dies bewusst ist oder nicht. Augenblicke, in denen diese Präsenz für mich in ganz besonderer Weise sichtbar wird, sind Krankensalbungen. In der Stille lege ich die Hände auf und bete; wenn Angehörige oder Freunde da sind, ermutige ich sie, dies auch zu tun. Für mich hat diese Stille eine besondere Qualität. Es geschieht etwas – mir fehlen aber die Worte, diesen heiligenden Moment zu beschreiben. Ehrfurcht ist in mir. Bei der Salbung bete ich um Gottes heilende Gegenwart: „Der Herr, der dich von den Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“ In meinen eigenen Worten lautet die hier formulierte Zusage: „Du kannst dir gewiss sein – egal wie verfahren oder ausweglos deine aktuelle Situation ist – Gott ist dabei und will das Beste für dich.“ In der Krankensalbung werden Gottes Zugewandtheit zu uns Menschen und sein Mitgefühl deutlich. Oft erlebe ich, wie dieses Sakrament Kranken und Angehörigen Ruhe und Gelassenheit schenkt. Es wird eine Realität greifbar, die über gute Pflege und Medizin, über Therapie und Besuche hinausgeht. Selbst dort, wo die Krankensalbung am Lebensende gespendet wird, bleiben die Texte bei „gesund werden an Seele und Leib“. Manchmal sind diese Worte für mich eine schiere Herausforderung, wenn ich zum Beispiel bei einer kranken Person bin, die der Krebs zerfrisst, oder wenn der Tod schon deutlich wahrnehmbar im Zimmer steht. Und doch drücken diese Worte so viel heilsame Hoffnung aus: Der irdische Tod hat nicht das letzte Wort. Dann werden die Verstorbenen bei Gott im Himmel sein, dann gibt es keine Krankheit mehr, dann werden alle gesund sein. In allen menschlichen Situationen gilt Gottes liebendes Angebot, es wird für mich in jeder Krankensalbung greifbar. Der Auferstandene trägt mir auf, seine Heilszusage in den Realitäten von Krankheit und Tod zu bezeugen. Das erdet seine Heilszusage ebenso wie meinen Glauben an sie. Ein Sakrament, das Menschen Ruhe und Gelassenheit schenkt Bild: © Jaroslav Drazil: Jesus und Magdalena (2022, Ausschnitt) 17 SCHWERPUNKT
„Ich weiß nicht, wie man stirbt“ Wie können wir mit Trauer umgehen? Und wie trauernden Menschen helfen? Carsten Habermann teilt mit uns seine persönlichen Erfahrungen. In einer Dankeskarte schreibt mir die Ehefrau eines Bewohners, den ich als Seelsorger im Hospiz begleitet habe: „Sie haben mir gezeigt, dass man auch mit seinem Schmerz und seinem Kummer weiterleben kann.“ Der Satz berührt mich. Ich habe die beiden Eheleute in Gedanken vor mir: ein eingespieltes Team, beruflich wie privat, seit vielen Jahrzehnten gemeinsam unterwegs. Die Frau sitzt am Bett ihres Mannes, der Krankheitsverlauf nach der Diagnose ist rapide. Die gemeinsame Zeit im Hospiz: kurz bemessen. Verzweiflung, Angst und Trauer erfüllen das Zimmer. Der Ehemann kann nicht mehr verbal kommunizieren. Er ist präfinal, wie es in der Sprache der Medizin und Pflege heißt. In diese Situation komme ich als Seelsorger. Was kann ich tun? Was kann ich sagen? Konfrontiert werde ich in meiner seelsorgerlichen Begleitung mit meiner eigenen Geschichte, mit meinen persönlichen Erfahrungen in Abschied, Sterben und Trauer. Vor neun Jahren verstarb meine Frau nach fünfjähriger Krebserkrankung. Sie wurde nur 49 Jahre. Mein Sohn war damals gerade mal 15. Meine Frau, Lehrerin für Katholische Religion und Latein, wollte leben und kämpfte gegen die Erkrankung. Sie sagte Ja zu allen ihr angebotenen Therapien. Sie wollte möglichst lange für unseren Sohn da sein. Sie wünschte sich so sehr, noch sein Abitur miterleben zu können. Die Krankheit aber war stärker. „Ich weiß nicht, wie man stirbt“, sagte meine Frau zu mir. Am Ende ging das Sterben schnell. So konsequent, wie sie über fünf Jahre Bild: © Jaroslav Drazil: Lazarus (2021, Ausschnitt) 18
gekämpft hatte, nahm sie, nachdem sie spürte und es ihr klar wurde, dass es keine weiteren Therapieoptionen mehr gab, Abschied vom Leben. So als hätte sie einen inneren Schalter umgelegt. Selbstbestimmt bis zum Schluss. Das Bild meiner verstorbenen Frau, gezeichnet von ihrer schweren Erkrankung, hat sich fest in mir eingeprägt. Eine Zeit lang war dies das dominierende Bild, das alles andere überdeckte. Mit der Zeit kamen andere Bilder dazu. Bilder von gemeinsamen Erlebnissen, heilsame Bilder, von Dankbarkeit erfüllt. So ließen sich die eher dunklen und schweren Bilder und Erinnerungen aushalten. Ich für mich spürte zutiefst, dass meine Frau in die Liebe Gottes hinein gestorben ist. Familie und Freund*innen kamen zum Abschiednehmen zu uns nach Hause. Mein Sohn saß fast die ganze Zeit am Sterbebett seiner Mutter. Er konnte erzählen, weinen und lachen, sich gemeinsam mit den Besucher*innen erinnern und in der Erinnerung seine Mutter ganz tief in seinem Herzen verankern. Alle Gefühle, die zur Trauer gehören und in ihrer Ambivalenz da sein und ausgedrückt werden dürfen, hatten ihren Platz: Wut, Erleichterung, Dankbarkeit, Verzweiflung, tiefste Traurigkeit. Trauer ist vielfältig und individuell. Jede*r hat das Recht, sie auf eigene Weise zu zeigen. Verletzend ist es, wenn man genau dieses Individuelle abgesprochen und gesagt bekommt, wie man richtig zu trauern habe oder gar, wie lange Trauer akzeptabel sei. Verletzend sind die nur scheinbar tröstenden und aufrichtenden Worte wie: „Du bist ja noch jung, du findest jemand Neues an deiner Seite.“ Oder zu meinem Sohn von einer Lehrerin: „Streng dich an in der Schule, deine Mutter im Himmel freut sich darüber.“ Hilfreich hingegen sind Freud*innen, die nicht nur sagen, „Du kannst dich immer bei mir melden“, sondern die von sich aus konkrete Kontaktangebote machen. Zum Spazierengehen, zum Abendessen, zum Konzertbesuch. Hilfreich ist es, der oder dem Trauernden nicht aus dem Weg zu gehen, sondern die eigene Unsicherheit im Umgang auszudrücken: „Mir fehlen die Worte“. Die Trauer begleitet das gesamte weitere Leben. Das Sterben meiner Frau hat mich verändert und auch meinen Sohn. Scheinbar Selbstverständliches ist nicht selbstverständlich. Es entwickelt sich eine Dankbarkeit für die kleinen Dinge im Leben, für die alltäglichen Wunder. Und es gibt immer wieder Momente, während deren die Traurigkeit und der Schmerz des Abschiedes da sind und Tränen fließen. Hilfreich sind da Menschen, die mitweinen, mitlachen, die sich mit mir erinnern, denen ich Geschichten immer wieder erzählen kann, die mich nicht mit gut gemeinten Ratschlägen oder frommen Floskeln trösten wollen. Jene, die mit mir die Situationen in all ihren Dimensionen aushalten, dabeibleiben, ohne große Worte. „Da sein, wenn Worte fehlen. Zuhören, wenn es schreit in Menschen. Ohnmacht aushalten Bei durch-kreuzten Hoffnungen nicht davonspringen, sondern standhalten“. Pierre Stutz Und genau dies kann ich als Seelsorger in der Klinik und im Hospiz tun. Wie ich es beim Betreten des Zimmers des Ehepaares tat: mit aushalten und einfühlsam dabeibleiben, mich berühren lassen, eine Wegstrecke mitgehen, Beziehung anbieten und zulassen, spüren, was mein Gegenüber braucht. Antwort geben zu (meinen) spirituellen Kraftquellen und Haltepunkten. Carsten Habermann ist Hospiz- und Klinikseelsorger in Erfurt und empfindet es als heilsam, immer authentischer im Hier und Jetzt zu leben. 19
Heile Welt Wie sieht die heile Welt aus? Was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Florian Kleeberg bewegt sich in seinem Text zwischen Kneipe und christlicher Utopie. Es gibt sie wirklich – die „Heile Welt“. Soeben hat man sich als Brautpaar vor der Standesbeamtin mit dem „Ja“ der gegenseitigen Liebe versichert. Anschließend stellt man sich zum obligatorischen Foto vor den barocken Mauern auf der Freitreppe im Kreise der Verwandten, Bekannten und Freunde auf. Und dann wird man ihrer ansichtig – der „Heilen Welt“ – einer Kneipe genau gegenüber des Standesamts. Wer immer den geistreichen Namen für diese Lokalität an diesem Ort wählte, verspricht einen verheißungsvollen Gegenentwurf zur (unheilen) Welt gegenüber. Das lässt Raum zur Spekulation, was die Einstellung zur bzw. die Erfahrung mit der Ehe betrifft. „Heile Welt“ – dieser Ausdruck steht für eine Wirklichkeit, in der alles umfänglich gut zu sein scheint und nichts Belastendes vorherrscht. Weder Leid, Angst, Missgunst, Krieg, Krankheit noch Tod überlagern die positive Atmosphäre und verdüstern das Bild. Stattdessen steht diese Chiffre für unbeschwertes Leben, ungetrübte Freude, gelingendes Miteinander und erfüllenden Frieden. Menschen, denen man ein Leben in einer solchen Wirklichkeit nachsagt, bescheinigen böse Zungen eine weltfremde Naivität. Ob Christ*innen als naiv bezeichnet werden können, wenn sie eine solche Wirklichkeit erhoffen, mag an anderer Stelle verhandelt werden. Fest steht, dass eine solche Überzeugung zum christlichen Glauben gehört und mit dem Bild des Himmels und der liebenden Gemeinschaft bei und in Gott umrissen wird. Dass diese Vorstellung alles andere als leichte Kost ist und jeden Vorwurf von Naivität einbüßt, eröffnet sich allen, die in dieses theologische Themenfeld eintauchen. Die Rede ist von der Eschatologie – der Lehre von den letzten Dingen. Jahrhundertelang prägten Vorstellungen wie Gericht, Fegfeuer, Himmel und Hölle diesen Komplex mit allem, was an Schrecken und Angst für den einzelnen Menschen damit verbunden war. Dabei folgte man einer dualistischen Auffassung, in der Gott den Sünder mit Hölle bestraft, während er sich derer erbarmt, die den Sündern zum Opfer fielen. Der Fokus lag auf der Beziehung Gottes mit dem Einzelnen – einem Heilsindividualismus. Die Überlegungen der letzten Jahrzehnte dazu haben die Vorstellung verkompliziert. Mit der Vorstellung eines liebenden Gottes, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausprägte, lässt sich nicht mehr plausibilisieren, warum Gott auch nur eines seiner geliebten Geschöpfe zur Hölle verdammen sollte. Ein liebender Gott will das Heil aller Menschen – mögen sie auch noch so sündhaft sein. Flankierend zu diesem Gedanken hat sich im Katholizismus zur selben Zeit der Subjektgedanke profiliert. Damit hat sich der Blick vom Heilsindividualismus auf das intersubjektive Miteinander und damit auch auf die soziale Dimension der Menschen untereinander verschoben. Für die Hoffnung auf die „heile Welt“ einer liebenden Gemeinschaft aller Menschen bei und in Gott bedeutete das dreierlei: Zum einen muss man sich mit der Frage beschäftigen, wie sich die aus Gottes Liebe ergebende Barmherzigkeit zu allen seinen Geschöpfen mit seiner Gerechtigkeit vereinbaren lässt, die man Gott ebenfalls zuschreibt. Hier gilt es, Gottes Gerechtigkeit nicht zugunsten einer geschichtsvergessenden billigen Barmherzigkeit preiszugeben. Zum anderen muss dem Sub20 SCHWERPUNKT
Bild: © Jaroslav Drazil: Caspars Reise (2021, Ausschnitt) jektdenken Rechnung getragen werden, indem bei allen Überlegungen die damit verbundene, unhintergehbare Autonomie und Würde eines jeden Einzelnen unbedingt Beachtung findet. Darüber hinaus kann ein heiles Miteinander aller Menschen mit und in Gott nur dann erhofft werden, wenn zuvor das unheilvolle, von der Geschichte geprägte Miteinander der Menschen gewürdigt und versöhnt worden ist. Dazu bedarf es einer Einsicht, Verantwortungsübernahme und Reue für die Verhaltensweisen und Taten auf Seiten derer, die sich an ihren Mitmenschen verfehlt haben. Es bedarf aber auch einer Würdigung des Erlittenen und der Versöhnungsbereitschaft derjenigen, die dem zerstörerischen Verhalten der anderen zum Opfer fielen. In der deutschsprachigen Theologie ist dieses Thema nicht selten mit Bezug auf das Konzentrationslager Auschwitz durchdekliniert worden, was alle Prämissen noch einmal gedanklich geschärft hat. Zugespitzt formuliert ging es dabei um die Frage, ob und wie man begründet erhoffen kann, dass sich ein im KZ vergaster Jude und Adolf Hitler in versöhnter Gemeinschaft mit und in Gott befinden. Und dies, ohne die Geschichte und die Verantwortung zu negieren und ohne die Würde der Beteiligten – beispielsweise durch billige Gnade an den Betroffenen vorbei – zu missachten. Obgleich solche Überlegungen das Denken bis zum Äußersten herausfordern, sei hier festgestellt: Man kann sie denken – eine solche heile Welt versöhnter Erlösung. Sie ist alles andere als naiv, geschichtsvergessen und die Würde und Freiheit aller geringschätzend oder missachtend. Aber sie bleibt Hoffnung – aus guten Gründen! Florian Kleeberg ist Lehrbeauftragter für systematische Theologie und Dogmatik. Er empfindet es als heilsam, wenn sich Menschen durch seine Impulse weiterentwickeln. 21
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