Jesuiten 2024-4 (Schweiz-Ausgabe)

Widersprüche der Alltagsmystik In der Mystik spielen besondere Lebensmomente visionärer Schau eine entscheidende Rolle. Sie sind der Inbegriff des Nicht-Alltäglichen. Frank Berzbach fragt: Kann es angesichts der schillernden Gottesschau der Auserwählten überhaupt eine Alltagsmystik geben? Die Geistesgrößen haben das Alltägliche zwischen Arbeit und Schlaf, Ankleiden und Essen, selten thematisiert. An die windige Unterscheidung von kontemplativem Leben und vita activa hat man sich hingegen gewöhnt. Das eine erscheint immer etwas feiner und edler als das andere. Dabei müssen das Essen zubereitet, der Flur geputzt und an der Pforte die Leute empfangen werden. Das durchgängig akademische Publikum der Exerzitienhäuser vergisst das sporadisch, es sei denn, man überträgt den in Stille Meditierenden die Arbeit und definiert sie selbst als Übung. Gott auch zwischen den dreckigen Töpfen und Pfannen zu finden, ist allerdings ebenso herausfordernd wie das Erleben eines visionären Augenblicks, man hat nur mehr Versuche. In buddhistischen Klöstern wird nicht so viel geputzt, weil man dort neurotisch wäre, sondern weil die ewige Wiederkehr des Staubs vor allem eins lehrt: Nicht alle Probleme sind lösbar, und das Leben besteht keineswegs nur aus Problemlösen. Am nächsten Tag ist der Schmutz wieder da, das wird so bleiben. Schon unter „Alltag“ stellen sich die, die darüber nachdenken, etwas ganz anderes vor als die, die dafür gar keine Zeit haben. In den Milieus prekärer Beschäftigung stehen spirituelle Ratgeber nicht hoch im Kurs. Hier sind die Rahmenbedingungen so, dass der Materialismus näher liegt – in immer atheistischeren Milieus haben oft nur noch Ideologien eine Chance. Dabei wäre es gerade dort notwendig, dass eben nicht nur Geistvolles wie revolutionäre politische Theorien oder Geistloses wie der grassierende Rassismus, sondern auch der Heilige Geist einkehren könnte. Eine Alltagsmystik existiert allerdings meist nur dann, wenn wir von den Angestellten mit weißen Kragen sprechen und weniger von den Arbeiter*innen im Blaumann. Der/die Akademiker*in bleibt Sinnsucher*in, die Mystik fungiert auch als Schmuck. Die Zeiten, in denen Arbeiterpriester sich hinab wagten zu den ganz anderen, sind lange her. Aber es wäre eine ehrenwerte missionarische Arbeit – eine in der Nachfolge Madeleine Delbrêls – wenn man hinabstiege in die Arbeitskeller des Elfenbeinturms. Sie jedenfalls könnte als Alltagsmystikerin durchgehen; ein Blick in ihre Schriften und ihr Leben geben darüber Auskunft, welche Herausforderung das bleibt. Dr. Frank Berzbach lebt auf St. Pauli und in Köln. Zuletzt erschienen: Die Kunst zu glauben. Eine Mystik des Alltags. bene, München: 2023. Es ist herausfordernd, Gott zwischen dreckigen Töpfen und Pfannen zu finden. Portraitfoto Frank Berzbach: © Irene Zandel 13 SCHWERPUNKT

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