Die Straße ist Gottes so voll Die Menschen von der Straße haben ihre eigene Art zu glauben und ihre eigene Spiritualität, ist Obdachlosenseelsorger Stefan Burtscher überzeugt. Ein Einblick in seine Erfahrungen von der Straße. Sie haben keine Kathedralen, keine Kirchen oder Tempel. Statt duftendem Weihrauch steigt bei ihnen Tabakqualm zum Himmel empor – oder was sich sonst so rauchen lässt. Bei ihnen spiegelt sich die Sonne nicht in prachtvollen Kirchenfenstern, sondern in meist zu schnell leer werdenden Schnaps- und Weinflaschen. Kein Psalmengesang bringt ihr Beten und Flehen zu Gott zum Ausdruck. Manche von ihnen bringen ihre Klage über die eigenen Lebensumstände mit lautem Gegröle vor Gott, andere stimmen ein in das allgemeine Stimmengewirr vorbeiziehender Passant*innen. Viele schweigen einfach, weil sie längst den Glauben daran verloren haben, dass sie jemand erhört. Und doch hoffen sie trotz aller Widrigkeiten ihres Lebens und ohne jeden Grund, dass sie irgendwann einmal von ihrem täglichen Kreuzweg erlöst werden. Die Menschen von der Straße haben ihre eigene Art zu glauben und ihre eigene Spiritualität. Oft weit entfernt von kirchlicher Tradition, katholischem Lehramt und akademischer Theologie und doch ganz nah bei ihrem Gott. Die Beziehung zu Gott – direkt und unmittelbar – ist für manche von ihnen das Fundament ihres Lebens und der einzige Grund, die Tristesse des Lebens auf der Straße – ihr persönliches Kreuz – Tag für Tag auf sich zu nehmen. Sie verehren nicht die Wundmale Jesu oder gedenken irgendwelcher längst verstorbener frommer Menschen, die von der Kirche heiliggesprochen wurden. Sie haben selbst genug Wundmale. Sichtbare, weil sie im Schlaf angezündet worden sind, weil die Spritze beim letzten Schuss nicht sauber gewesen ist oder als Resultat von einer Auseinandersetzung, die eskaliert ist. Und unsichtbare, verursacht von einer Gesellschaft, die stigmatisiert und ausgrenzt. Trotz allen erfahrenen Leids sind viele von ihnen solidarisch untereinander, helfen, wo sie können, und leben füreinander. Nicht selten schenken sie sich so gegenseitig das Sakrament der Fußwaschung und werden selbst zu Heiligen des Alltags. Sie teilen nicht nur Brot und Wein miteinander. Sie teilen ihr ganzes Leben – manchmal auch nur für einige Augenblicke. Sie teilen das Nichts, das sie haben: das erbettelte Essen, den Tabak, die Freude, das Leid, das Bier und den Schnaps. Sie teilen alles, was sie haben und feiern so manchmal Eucharistie mit Pommes und längst kalt gewordenem Kaffee. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sie dem Mysterium des letzten Abendmahls Jesu sehr nah und direkt auf der Spur sind – ohne je ein einziges Buch darüber gelesen oder eine theologische Fakultät von innen gesehen zu haben. Ganz ohne prunkvolle Liturgie, stolze Gotteshäuser und komplizierte Theologie legen sie durch ihr Leben Zeugnis ab, für ihren Glauben, und dafür, dass die Straße Gottes so voll ist. Stefan Burtscher ist Pastoralreferent und Obdachlosenseelsorger in Köln und promoviert in Münster im Fach Pastoraltheologie zum Thema „Theologie der Straße“. 18 SCHWERPUNKT
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