Treue zu einem Ort Madeleine Delbrêl lebte 31 Jahre in Ivry, einer Arbeiterstadt in der Nähe von Paris. Faszinierend und ansprechend findet P. Dominik Terstriep SJ die Treue zu diesem Ort. Im Oktober 1933 zog Madeleine Delbrêl in die vom Kommunismus geprägte Stadt Ivry, um mit zwei Gefährtinnen in einer Caritasgruppe nach den evangelischen Räten zu leben und um die dortige Sozialstation zu übernehmen. Über 30 Jahre blieb sie diesem Ort treu in ihrem Engagement für die Armen, für soziale Gerechtigkeit und für ihren Glauben, der das Leben liebte. Diese Treue zum Ort fasziniert mich. Eine Treue, die zumindest vordergründig im Widerspruch zum ignatianischen Charisma steht. Ignatius’ Ideal in der frühen Zeit der Gesellschaft war, dass – zumindest die Professen – stets bereit sein sollten aufzubrechen. Die ersten Jesuiten wurden oft zu Aufträgen ausgesandt, die lediglich einige Monate dauerten. Auch die Verweildauer in den Kollegien war oft kurz, was nicht selten Probleme verursachte. Treue zu einem Ort spricht mich an in einer Zeit, die von viel Bewegung geprägt ist: von inneren und äußeren Umzügen, von Rastlosigkeit und dem Unvermögen oder der Unmöglichkeit, Wurzeln zu schlagen. Mir ist bewusst, dass Treue zu einem Ort ambivalent ist. Wie schnell kann es geschehen, dass man sich einrichtet, unfähig, Neues zu ergreifen, dass man starr wird im „Das war schon immer so“. Treue zu einem Ort – die Idee spricht mich dennoch an. Die Mönche wussten etwas von stabilitas, dem Sich-Einwohnen in einen Ort, an den sie sich gebunden hatten. Nicht das Viele und Weite, sondern das Tiefe sprach sie an. Genau wie Madeleine Delbrêl suchten und fanden sie Gott, indem sie eben nicht aufbrachen, sondern sich an einem Ort ein Leben lang verwurzelten. Bald kannten sie nicht nur jedes Schlagloch in der Straße, jeden Baum und dessen Aussehen im Wechsel der Jahreszeiten, sondern vor allem die Menschen vor Ort. Auf dem Weg zum Rathaus traf Madeleine vermutlich an jedem Werktag die gleichen Menschen, wie es in der Anonymität von Großstädten bis heute geschieht. Sie sah Arbeiter*innen und deren Familien kommen und gehen, manche blieben auch, sah deren Kinder aufwachsen und die Eltern altern. Sie sah, wie sich Ivry veränderte und mit der Stadt die Menschen, die sie aufnahmen und entließ. In all dem gab es für die vielen, die Madeleines kleine Gemeinschaft aufsuchten und aufnahm, einen Anker, eine Verlässlichkeit. Als würde eine Jugendliche, die sie schon als Kleinkind kannte, mit Dankbarkeit und Verwunderung sagen: Du warst immer schon hier. Treue zu einem Ort nicht nur als eine Möglichkeit, diesen bis in seine Eingeweide hin kennenzulernen und ihm treu zu bleiben in guten und schlechten Tagen. Sondern auch ein Anker für Menschen zu sein in der sich immer schneller drehenden Welt – und für jene, die in ihr auf der Strecke bleiben. P. Dominik Terstriep SJ ist 2003 in den Jesuitenorden eingetreten. Der promovierte Theologe ist seit 2013 Pfarrer der St. Eugenia- Gemeinde in Stockholm und Dozent für Dogmatische Theologie am Newmaninstitut in Uppsala. Treue zu einem Ort kann ein Anker sein. 19 SCHWERPUNKT
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