Gottes Blick findet dich im „banalen Leben“ Gedanken von P. Wilfried Dettling SJ zur spirituellen Erfahrung von Madeleine Delbrêl In einem ihrer bekanntesten Texte schreibt Madeleine Delbrêl: „Geht hinaus in euren Tag … und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist … lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.“ Dass wir Gott im konkreten Leben finden und dass wir von ihm in der „Armut“ des „banalen Lebens“ gefunden werden, ist eigentlich keine allzu neue Einsicht. Doch für Madeleine Delbrêl war dies geradezu eine im besten Sinne revolutionäre Erfahrung. Gott will uns finden „inmitten der Existenz der Welt“. Er hat sich „in deiner Mitte schwach gemacht, damit du lernst, zu lieben und zu berühren, wer ich bin“, schreibt Martin Schleske. Die Bedeutung, die die Erfahrung des Gottfindens und des von Gott-Gefunden-Werdens im konkreten Alltag haben kann, wurde mir zuteil, als ich vor einigen Jahren eine Zeitlang in der Arche lebte, einer Wohngemeinschaft von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Ich hatte mich um Paul zu kümmern. Paul ist Autist. Nach seinem zwölften Geburtstag hat Paul das Reden komplett eingestellt. Dass es so etwas gibt, war für mich damals völlig neu. Der Umgang mit ihm war nicht immer einfach, lehrreich war er allemal. Paul hat mich gelehrt, was im Leben wirklich zählt. Die „Lehrzeiten“ waren die täglichen Mahlzeiten. Paul hat zwar selbst gegessen, aber nur dann, wenn man ihm das Essen gereicht hat. Für mich war das täglich ein Geduldsspiel. Oft habe ich verloren, manchmal aber auch gewonnen, meistens jedoch ging das Spiel unentschieden aus. Irgendwie arrangierten wir uns, wohl wissend, dass wir Gewinner und Verlierer zugleich waren. Wenn ich Paul das Essen reichte, schaute er mir immer in die Augen. Wortlos und doch beredsam gab er mir unmissverständlich zu verstehen: „Alles ist gut, ja, alles ist gut.“ Pauls Blick begleitet mich bis heute. Er ist mir zum Anwalt des Lebens geworden. Dieser Blick hatte etwas Klares, Ehrliches, Demütiges, Entschiedenes und Sanftes. Erst viel später habe ich verstanden und erkannt, dass dieser Blick dem Blick Jesu entsprach, und zwar „inmitten der Existenz der Welt“. Diesen Blick kann ich nicht erzwingen. Er ist geschenkt und doch auch gesucht und gewollt. Er ist einfach, direkt und verlässlich und hat eine klare Botschaft: „Alles ist gut, ja, alles ist gut“. Gabe und Aufgabe zugleich. „Wenn wir lernen, die Welt mit den Augen Jesu zu sehen, dann erzählt die ganze Welt von Gott“, gab mir eine Teilnehmerin am Ende eines Kontemplationskurses einmal mit auf den Weg. Kontemplation bedeutet „schauen“ – vielleicht aber auch „angeschaut werden“ verbunden mit der Bereitschaft, sich „anschauen“ zu lassen. Wenn uns der Blick des Menschensohnes im Menschen erreicht und wir diesem Blick im „banalen Leben“ nicht ausweichen und uns auch nicht zu schade sind, mit ihm zu ringen und zu hadern und dabei aufrichtig, sanft und demütig bleiben, dann ändert sich vieles. Geistlicher Impuls 22 GEISTLICHER IMPULS
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