Jesuiten Madeleine Delbrêl – Mystikerin des Alltags 2024-4
Jesuiten 2024-4 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. 1 Editorial Schwerpunkt 2 Prophetin der Nachkonzilszeit 4 Madeleine Delbrêl und die Arbeiterpriester 5 Kennen Sie die Rue Raspail 11 in Ivry-sur-Seine? 7 Im Rhythmus der göttlichen Liebe 8 Realistisch bleiben 11 Glaube in Bewegung 12 Gott einen Ort sichern 13 Widersprüche der Alltagsmystik 14 Von der Trennung von Kirche und Welt 15 Sprache, die verbindet 16 Soziale Arbeit als gelebte christliche Spiritualität 18 Die Straße ist Gottes so voll 19 Treue zu einem Ort 20 Mit links Geistlicher Impuls 22 Gottes Blick findet dich im „banalen Leben“ Was macht eigentlich …? 24 P. Thomas Hollweck SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 P. Georg Fischer SJ/P. Stefan Hofmann SJ: Frieden finden Vorgestellt 32 Einfach beten! – Beten neu gedacht für den Alltag 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum „Es ist ungewiss, ob der Duft der Felder dich sicherer zu Gott führt als der Lärm der Großstadt.“ Wenn es einen Entdeckungsort der Mystik von Madeleine Delbrêl gibt, dann ist es die Stadt. In vielen Texten und Gedanken gibt sie Cafés, Häusern und der urbanen Betriebsamkeit eine spirituelle Dimension. Das Bildprogramm in diesem Heft entfaltet diesen Gedanken ganz konkret mit Delbrêl-Zitaten. Fassaden fangen an zu flüstern, abgebrochene Hallen vermitteln Einsichten, und so manche Stadtbrache entpuppt sich als Offenbarungsort. Stefan Weigand, Bildredaktion Foto auf der Titelseite: © zettberlin/photocase.com (Collage) Mehr Informationen zur Berechnungsmethodik, zur Kompensation und dem gewählten GoldstandardKlimaschutzprojekt finden Sie unter klima-druck.de/ID. klima-druck.de ID-Nr. Druckprodukt CO₂ kompensiert 24186717
Gott wird Mensch. Dieses Geheimnis feiern wir an Weihnachten. Gott wird Mensch in Jesus Christus, und die Weihnachtsgeschichte führt uns jedes Jahr aufs Neue in den unscheinbaren Stall in Bethlehem – abseits der politischen Macht, zwischen Hirten und Schafen. Madeleine Delbrêl hat dieses Geheimnis gelebt und in ihre Zeit übersetzt, abseits der Mächtigen, in einem unscheinbaren Pariser Vorort, zwischen Arbeiter*innen und Kommunist*innen. Der Glaube an Gott hat sie dorthin getragen, und so hat sie die Botschaft Jesu Christi in die Welt gebracht. Madeleine Delbrêl zählt zu den interessantesten katholischen Mystiker*innen des vergangenen Jahrhunderts, also zu den wenigen Menschen, deren tiefe Innerlichkeit in der Beziehung mit Gott für uns Spuren, nicht zuletzt Texte, hinterlassen hat. So können wir uns – neu inspiriert – an diese geheimnisvolle Begegnung mit dem Allgegenwärtigen herantasten. Anders als andere suchte und fand sie Gott aber nicht hinter Klostermauern, sondern inmitten ihres lauten Pariser Vorortalltags. Ihre Haltung: „Es ist ungewiss, ob der Duft der Felder dich sicherer zu Gott führt als der Lärm der Großstadt.“ Sie bewegte sich tänzerisch zwischen Milieus hin und her, die unerreichbar weit voneinander entfernt schienen. Sie arbeitete an der Seite der prekär Beschäftigten und Arbeitslosen. Sie entdeckte Jesus im Café und schämte sich nicht, Gott für Zigaretten und Bier zu danken. Sie haderte mit ihrer Kirche und blieb ihr doch zutiefst verbunden. Dabei ließ ihre überzeugt atheistische Jugend zunächst nichts davon erahnen. Mit dieser Ausgabe unseres Magazins möchten wir dieser unscheinbaren und doch immer mehr Aufmerksamkeit weckenden Frau zu einem deutlich höheren Bekanntheitsgrad verhelfen. Die Autor*innen, die wir hier versammeln, erzählen Ihnen von dieser besonderen und bewundernswerten Persönlichkeit und von ihrem eigenen Leben. Dafür danken wir herzlich! Delbrêls Biografie ist eine Anfrage. Wer redet nicht gern davon, Gott in allen Dingen suchen und finden zu wollen? Tatsächlich häufen sich die verpassten Gelegenheiten, dem Erlebten wirklich tiefer auf den Grund zu gehen, es bis auf Gott hin zu durchforschen und Geschehnisse ernsthaft zu durchdringen. Oft bleibt Glaube so oberflächlich wie die Bildschirme, auf denen die Finger durch den Zeitgeist wischen, doch, so schreibt Delbrêl, „durch unsere liebeleeren Herzen wolltest Du all diesen Leuten begegnen, die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen“. Liebe Leserin, lieber Leser, P. Dag Heinrichowski SJ und P. Fabian Retschke SJ Porträt: links © SJ-Bild Eine anregende Lektüre und ein gesegnetes Weihnachtsfest in Ihrem Alltag wünschen EDITORIAL 1
Prophetin der Nachkonzilszeit Seit über 40 Jahren beschäftigt sich Dr. Annette Schleinzer mit der französischen Mystikerin Madeleine Delbrêl, einer Frau, die damit ernst machte, Gott in allen Dingen zu finden. Eine Einleitung. „Du hast uns heute Nacht in dieses Café ‚Le Clair de Lune‘ geführt“. So beginnt eines der schönsten Gedichte Madeleine Delbrêls. Sie beschreibt, wie in einer Bar am Stadtrand von Paris eine ganz eigene Form von Liturgie stattfindet, wenn Menschen sich dort der Gegenwart Gottes öffnen. 2
Wer ist diese Frau, die damit ernst machte, Gott in allen Dingen zu finden? Poetin – Sozialarbeiterin – Mystikerin: Das sind nur drei der zahlreichen Attribute, die Madeleine Delbrêl kennzeichnen. Sie gilt nicht nur als Vorläuferin des Zweiten Vatikanischen Konzils, sondern auch als „Prophetin der Nachkonzilszeit“. 1904 wurde sie in Mussidan im Südwesten Frankreichs geboren. In ihrer Jugend war sie eine überzeugte Atheistin. „Gott ist tot“, schrieb sie mit 17 Jahren. Doch eine tiefe Lebenskrise und die Begegnung mit jungen Christ*innen leiteten die Wende ein: „Ich habe geglaubt, dass Gott mich gefunden hat.“ – So beschreibt sie, was sie zeitlebens als Übergang vom Tod zum Leben erfahren hat. Im Evangelium hat sie eine Form dafür gefunden, aus diesem „unerhörten Glück“ zu leben und es an andere weiterzugeben. Sie war davon überzeugt, dass dies die Berufung aller Christ*innen sei. Alle seien, schreibt Madeleine Delbrêl, wie eine Batterie „mit Gott geladen“. Nachdem sie sich zur Sozialarbeiterin hatte ausbilden lassen, lebte sie über 30 Jahre lang mit einigen Gefährtinnen unter den Menschen des kommunistischen Arbeitermilieus in Ivry, einer Stadt in der Pariser Banlieue. Dort versuchten sie, „Gotteszeuginnen zu sein, in Armut und Selbstvergessenheit […] unter denen, die außerhalb der sichtbaren Pfarreigrenzen leben“, wie es eine ihrer Gefährtinnen beschrieben hat. Denn „den Pfarreien sind heutzutage die Arme an den Ellbogen abgetrennt; diejenigen, die sich nicht nur in der Pfarrei engagieren, bilden meiner Ansicht nach die ‚Ersatz-Arme‘ dieser amputierten Glieder“, so Madeleine Delbrêl. Schon in den vierziger Jahren wurden diejenigen auf sie aufmerksam, die nach neuen pastoralen Möglichkeiten in der zunehmend entchristlichten Kirche Frankreichs suchten: die Arbeiterpriester und die Pioniere der Mission de France, einer römisch-katholischen Missionsgesellschaft in Frankreich. Für viele von ihnen wurde sie zur geistlichen Begleiterin und Beraterin. Vor allem in ihren letzten Lebensjahren wurde sie immer häufiger zu Vorträgen eingeladen und um Erfahrungsberichte gebeten, bis hin zur Bitte um Mitarbeit bei den Vorbereitungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als sie am 13. Oktober 1964 ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb, hinterließ sie trotz alledem nicht viel: ein Buch und zahlreiche unveröffentlichte Texte und Manuskripte; einen Freundeskreis, der kaum weiterreichte als über die Grenzen einer kirchlichen Minderheit in Frankreich hinaus. Doch 60 Jahre nach ihrem Tod ist sie für viele Menschen aus allen Kontinenten längst zu einer Gefährtin geworden, die sie ermutigt, den Glauben unter den Bedingungen der heutigen Zeit zu leben. Sie rät dazu, „heute, in der heutigen Welt und heutigen Zeit zu lauschen, was der Herr seit jeher für heute von uns will, für die heute lebenden Menschen, für unsere heutigen Nächsten, und zu bitten, dass wir es sehen und begreifen“. Dr. theol. Annette Schleinzer ist Autorin und Exerzitienbegleiterin. Sie beschäftigt sich seit 1980 mit Madeleine Delbrêl und hat mehrere Bücher über sie herausgegeben, zuletzt: Madeleine Delbrêl, Du lebtest, und ich wusste es nicht. Gebete und poetische Meditationen, Verlag Neue Stadt 2023. Bild: © zettberlin/photocase.com (Collage) Alle sind wie eine Batterie „mit Gott geladen“. 3 SCHWERPUNKT
Madeleine Delbrêl und die Arbeiterpriester Ähnlich wie Madeleine Delbrêl wagten sich auch die Arbeiterpriester in ein kirchenfernes Milieu und legten so Zeugnis ab vom Evangelium – mehr durchs alltägliche Leben als durch Worte. Arbeit war für Madeleine Delbrêl ein spiritueller Ort. Nicht nur das Fahrradfahren oder ein Ball am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, bildeten für sie willkommene Gelegenheiten, sich dem Geheimnis Gottes im Alltag zu öffnen, sondern auch das Putzen einer Treppe, das Petersilieholen im Garten oder das Warten auf eine Telefonverbindung. Vielleicht wegen dieser lebensnahen Mystik des Alltags, vielleicht aber auch aufgrund ihrer Erfahrungen als katholische Sozialarbeiterin unter den Kommunist*innen von Ivry, wurde sie – als Frau und Laiin! – zu geistlichen Vorträgen in das Priesterseminar der Mission de France eingeladen. Aus diesem sind dann auch zahlreiche Arbeiterpriester hervorgegangen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Autofabriken, Bergwerke und Hafenviertel ihres Landes aufbrachen, um dort als Arbeiter unter Arbeiter*innen schlicht und einfach das Evangelium zu leben. Das 1954 erfolgte römische Verbot der Arbeiterpriester – sie mussten ihre Arbeitsplätze verlassen – stellte auch Madeleine Delbrêls Kirchlichkeit auf eine harte Probe. Nachdem sie von ersten Strafmaßnahmen erfahren hatte, machte sie sich am 6. Mai 1952 auf ihre berühmte, durch einen Lotteriegewinn finanzierte Blitzreise nach Rom. Mit dem Nachtzug fuhr sie für nur 24 Stunden in die ewige Stadt – um am Petrusgrab ein Zweifaches zu erbitten: dass die „Gnade des Apostolats, die Frankreich gegeben worden ist, durch uns nicht verloren gehe, sondern dass wir sie in der Einheit bewahren“ und dass „diese Gnade von der Kirche anerkannt und gestärkt werde“. Die Konflikte spitzten sich jedoch weiter zu. 1953 schrieb sie einem befreundeten Bischof: „Ich bin sehr besorgt angesichts der Härte der Entscheidungen.“ Erst das Zweite Vatikanische Konzil sollte die Arbeiterpriester offiziell rehabilitieren. Deren sehr handfeste Spiritualität ist kongenial zur alltagsnahen Mystik Madeleine Delbrêls: „Danke, Herr, […] für alle Geschenke, die du mir heute angeboten hast. Dank für alles, was ich gesehen, gehört und empfangen habe. […] Dank für die prompt zugestellte Zeitung und für die spannende Geschichte darin. Dank für Jakob, der mir seine Feile geliehen hat, für Fritz, der mir eine Zigarette geschenkt hat […]. Dank […] für das Glas Bier, das vorhin meinen Durst gestillt hat. […] Dank für die Mädchen, denen ich begegnet bin, für das Rouge auf den Lippen von Marie-Therese, sie hat die Farbe klug gewählt, […] für die Grimasse von AnneMarie und ihr befreiendes Lachen. [...] Dank für das Leben. Dank für die Gnade.“ Dr. Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie in Münster und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie. Letzte Veröffentlichung zum Thema: „Priester im Blaumann. Das französische Experiment der Arbeiterpriester“ (Feinschwarz.net 1./2. März 2024). 4 SCHWERPUNKT
Kennen Sie die Rue Raspail 11 in Ivry-sur-Seine? 1933 zieht Madeleine Delbrêl nach Ivry-sur-Seine. Bis heute ist das Haus, in dem Delbrêl mit ihren Gefährtinnen gelebt hat, ein Ort der Begegnung und des Austauschs. Zwei Verantwortliche für diesen Ort berichten. Das Haus Nr. 11 auf der Rue Raspail in Ivry-surSeine: Hier kamen Madeleine Delbrêl und zwei Gefährtinnen, Hélène und Suzanne, 1933 an. Eine rote, arme Stadt, in der die Frage nach Gott nicht mehr hoch im Kurs war. Auch nach Madeleines Tod im Jahr 1964 lebten hier noch Mitglieder ihrer Gruppe. Die letzte, Suzanne Perrin, verließ das Haus im Jahr 2011. Sie starb 2018, zu dem Zeitpunkt, als Madeleine Delbrêl zur ehrwürdigen Dienerin Gottes erklärt wurde. Den Geist der Gastfreundschaft hat sich das Haus 11 Rue Raspail bewahrt. So lebten dort mehrere Jahre lang eine haitianische Familie sowie mehrere junge Frauen aus zerbrochenen Familien, die Madeleine aufgenommen und begleitet hatte. Einwohner*innen aus Ivry, die der Gruppe nahestanden, kamen regelmäßig, um dort das Evangelium zu lesen, so wie es Madeleine und ihre Gefährtinnen bei ihrem wöchentlichen Treffen recours à l‘Evangile („Rückgriff auf das Evangelium“) getan hatten. Im Jahr 2015 machten sich der Verein der Freunde von Madeleine Delbrêl, die Stadtverwaltung von Ivry und die Kirche an die Arbeit, um aus dem Haus einen Ort der lebendigen Erinnerung zu schaffen, einen Ort der Begegnung und des Dialogs, der allen Menschen offensteht, unabhängig von ihren Überzeugungen und Lebensumständen. Im Oktober 2020 konnte das Haus wiedereröffnet werden und empfängt seitdem die unterschiedlichsten Menschen: • Passant*innen, die den Garten genießen möchten. Einige staunen dann über die großen Porträts von Madeleine und versuchen, mehr über diese gewöhnliche und zugleich ungewöhnliche Frau zu erfahren. Andere Besucher *innen erzählen ein wenig von ihrer Geschichte und ihrem Elend , wenn man sich die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören. • Zahlreiche Pilger(gruppen) kommen, um sich mit den Orten, an denen Madeleine gelebt hat, vertraut zu machen, sich von ihrer Biografie, Spiritualität und ihren Schriften inspirieren zu lassen. • Menschen aus Ivry oder den Nachbarstädten, ob gläubig oder nicht, kommen zum Dialog und diskutieren bei den Rencontres du 11 über politische Themen wie Migration und Laizismus. Das Haus soll dazu beitragen, den Geist Madeleine Delbrêls zu bewahren: Gastfreundschaft, Dialog und Aufmerksamkeit für jede*n, wer auch immer sie oder er ist. Übersetzung: P. Dag Heinrichowski SJ Marie-Noël und Jean-Christophe Brelle wohnen in der Rue Raspail 11. Sie haben vom Bischof von Créteil den Auftrag erhalten, das Haus von M. D. zu betreuen und sind in der Mission de France engagiert. Poträt: rechts © J.Faujour 5 SCHWERPUNKT
Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, Oh, Herr, könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen. Um gut tanzen zu können braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt. Man muss ihm nur folgen, darauf gestimmt sein, schwerelos sein. Und vor allem: Man darf sich nicht versteifen, sondern ganz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend einschwingen in den Takt des Orchesters, den du auf uns überträgst. Wir haben so oft die Musik deines Geistes vergessen, wir vergessen, dass es monoton und langweilig nur für grämliche Seelen zugeht, die als Mauerblümchen sitzen am Rand des fröhlichen Balls deiner Liebe. Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid. Gib, dass wir unser Dasein leben nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist, nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen, sondern wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet, wie einen Ball, wie einen Tanz, in den Armen deiner Gnade, zu der Musik allumfassender Liebe. Der Ball des Gehorsams
Schwester Teresia Benedicta Weiner OCD ist Ärztin und Priorin im Karmel Regina Martyrum Berlin. Sie ist Tanzleiterin für „Bibel getanzt“. Im Rhythmus der göttlichen Liebe Was hat Gehorsam mit der Lebensfreude eines Tanzes zu tun? Schwester Teresia Benedicta Weiner OCD teilt mit uns die Bedeutung des Gedichts Ball des Gehorsams für ihr Leben. Am Vorabend des 15. Oktober 1933, des Festes der heiligen Teresa von Ávila, tritt die jüdische Philosophin und Katholikin Edith Stein (1891–1942) in den Kölner Karmel ein. Am selben Tag bricht Madeleine Delbrêl mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einen Pariser Vorort, auf, um als Sozialarbeiterin den Menschen nahe zu sein. Beide Frauen durchleben in ihrer Jugend eine tiefe Sinnkrise. Beide werden durch Teresa von Ávila inspiriert bei ihrer Suche nach der Wahrheit. Auch Madeleine Delbrêl zieht es zunächst in den Karmel, sie verzichtet aber aus Rücksicht auf ihre Eltern darauf. In ihrem 1949 verfassten Gedicht Der Ball des Gehorsams beschreibt Madeleine Delbrêl Gott als Tänzer, der uns einlädt, am Tanz seiner Schöpfung, am Tanz des Lebens teilzuhaben. Das Bild des Tanzes hat etwas Frohmachendes und Leichtes: „Schwerelos sein. Und vor allem: Man darf sich nicht versteifen, sondern ganz mit dir eins sein.“ Sich im Tanz führen zu lassen, ohne zu „wissen, wohin der Tanz führt“, zeigt sehr eindrücklich, was der Gehorsam gegenüber Gott bedeuten kann: Ihm mein Leben anvertrauen – ein Sich-Loslassen, Ein-lassen und Über-lassen, durchlässig werden für die Musik der göttlichen Liebe, die sich nach Antwort sehnt. Madeleine Delbrêl lebt bewusst den Alltag ohne Trennung zwischen profan und sakral: „Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid.“ Hier wird der Gehorsam gegenüber den Menschen und den Zeichen der Zeit deutlich: im Hören auf die Bedürfnisse des anderen, im Einschwingen auf die Herausforderungen des Alltags. Darin kann sie alle Gottsuchenden ansprechen. Gelebter Gehorsam, also mit dem ganzen Menschsein ausgerichtet sein auf Jesus Christus, der ganz mit dem Vater eins ist, lädt alle Christ*innen ein, dieser Lebensspur zu folgen, ganz gleich, ob in einer Ordensgemeinschaft oder außerhalb. Der Ball des Gehorsams begegnete mir erstmals 2002 in der Lesehore am Vorabend meiner Ersten Profess. Er ist für mich zugleich eine Brücke zu meiner Leidenschaft für den Meditativen Tanz, den ich Jahre zuvor entdeckt habe und der mir Kraft- und Lebensquelle ist. Ich erinnere mich, wie ich kurz vor meinem Ordenseintritt ganz bewusst ein letztes Mal an einem Tanzwochenende teilnahm. Ich wurde eines Besseren belehrt und konnte in meinem über 20-jährigen Ordensleben viele Male tanzen. Mit Madeleine Delbrêl möchte ich beten: „Gib, dass wir unser Dasein leben wie einen Tanz, in den Armen deiner Gnade, zu der Musik allumfassender Liebe.“ Text auf dem Bild links aus: Madeleine Delbrêl: Deine Augen in unseren Augen – Die Mystik der Leute von der Straße Bild: © elmue/photocase.com (Collage) 7 SCHWERPUNKT
Realistisch bleiben Im Interview erklärt Dr. Marianne Heimbach-Steins, warum Madeleine Delbrêl unser Nachdenken über Gott bis heute herausfordert. Was macht Madeleine Delbrêl für die Theologie so interessant? Vor allem ihr herausragendes Zeugnis für christliches Leben in einem sehr besonderen Glaubensumfeld. Sie wirkt unscheinbar und hat sich nie als wissenschaftliche Theologin verstanden. Sie zählt sich zu den Leuten von der Straße, will auf freie Weise das Evangelium leben, in größtmöglicher Nähe zu den Menschen in der Stadt. Viele sehen sie heute als Mystikerin und Pionierin eines praktischen Christentums in einem säkularen bis atheistischem Milieu. Was zeichnet Delbrêls Denken aus? Die Quelle ihres theologischen Fragens ist die persönliche Auseinandersetzung mit dem Atheismus und ihre ureigene Erfahrung einer das ganze weitere Leben bestimmenden Konver8 SCHWERPUNKT
sion zum Christentum. Dabei bezeichnet sie ihr atheistisches Umfeld sogar als „günstige Voraussetzung“ dafür und als „Schule des angewandten Glaubens“. Die Konversion selbst erlebt sie als „überwältigend“ und als bleibendes Vorzeichen ihrer Glaubensbiografie. Sie war in ihrer Jugend eine intellektuelle, aber verzweifelte Atheistin. Jedes tröstend gemeinte religiöse Angebot erschien ihr unannehmbar. Da sie nur auf die Vernunft vertraute, versuchte sie sich auch der Frage nach Gott in einer vernünftigen religiösen Suche zu nähern. Stets bleibt sie in ihrem Denken ausdrücklich anti-idealistisch und einem Realismus des Glaubens verpflichtet. Wie kommt sie dazu? Entscheidend für ihre Bekehrung ist eine Begegnungserfahrung mit christlichen Studierenden. Diese Auseinandersetzung mit selbstverständlich gläubigen Freund*innen, die sie gleichwohl als vernünftig erlebt, erschüttert ihr weltanschauliches Gebäude zutiefst. Sie lässt die Möglichkeit zu, dass es Gott doch geben kann. Noch erstaunlicher: Sie entschließt sich zu beten. Dabei erfährt sie, dass Gott, als lebendige Wahrheit, sie gefunden hat. Die Kerneinsicht: Man kann ihn lieben wie eine Person. Diese Grundentscheidung ist unumkehrbar, ist aber in dauernder Unterscheidung der Geister zu ratifizieren. Also eine neue Beziehung, aber auch eine gewisse Einsamkeit …? Ja, der Glaube macht einsam und macht fremd in der Welt, bei aller unvoreingenommenen Nähe, weil man ja oder nein sagen muss. Sie beschreibt das als Gratwanderung in ihrem Lebensumfeld zwischen militanten Kommunist*innen und abgeschotteten Katholik*innen. Das ist für sie keine äußere Stütze, sondern nur die persönliche Entscheidung dafür, das Wort Gottes in ihrem Leben Fleisch werden zu lassen. Das ist die christliche Wahl: Alle Dinge angemessen lieben, aber Gott allen Dingen vorziehen. Darum entscheidet sie, nicht selbst Kommunistin zu werden, obwohl sie das Engagement der Parteimiglieder schätzt. Aber das atheistische Programm und die Militanz gegenüber ideologischen Gegner*innen widersprechen ihrem Glaubensfundament: Gott und die Nächsten lieben. Doch sie flieht auch nicht in die katholische Nische, sondern bleibt offen dafür, den Glauben in konkreten Begegnungen in diesem Milieu zu bezeugen: Klar in den eigenen Optionen und respektvoll gegenüber anderen. Sie tanzt in diesen verschiedenen Milieus umher? Ihr Maßstab ist die Liebe. Das gibt ihr Freiheit gegenüber einem verengten Glaubensverständnis. Alles andere kann auf den Prüfstand, etwa vielleicht nicht mehr zeitgemäße Ausdrucksformen. Der Glaube führt mitten in das Gewühl der Welt, um da Gott einen Ort zu sichern. Damit fordert Madeleine Delbrêl die Theologie heraus, dass sie konkret bleibt, nah an der Erfahrung der Menschen, denn Glaube ist Praxis, die kritisch reflektiert werden muss, mit Vernunft und Bezug auf seine Quellen. Darum ermutigt sie zu einem „erfinderischen Gehorsam“. Redaktionshinweis: Das Interview entstand aus dem Podcast „Lores Töchter“, einem Projekt der Katholisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum. Die ganze Folge hier abrufen: Marianne Heimbach-Steins ist Theologieprofessorin und lehrt seit 2009 in Münster. Sie beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Madeleine Delbrêl und der Unterscheidung der Geister. Der Glaube führt mitten in das Gewühl der Welt, um da Gott einen Ort zu sichern. Foto links: © Scott+Jock/photocase.com (Collage); Porträt: © Peter Leßmann (2023) 9 SCHWERPUNKT
„Immer weiter!“, sagst du zu uns. Um die Richtung auf dich zu behalten, müssen wir immer weitergehen, selbst wenn unsere Trägheit verweilen möchte. Du hast dir für uns ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht, ein Gleichgewicht, in das man nicht hineinkommt und das man nicht halten kann, es sei denn in der Bewegung, im schwungvollen Voran. Es ist wie mit einem Fahrrad, das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt; ein Fahrrad, das schief an der Wand lehnt, bis man sich darauf schwingt und schnell auf der Straße davonbraust. Die Zeit, in der wir leben, ist gekennzeichnet von einem allgemeinen, schwindelerregenden Ungleichgewicht. Sobald wir uns hinsetzen, unser Leben zu betrachten, kippt es und entgleitet es uns. Wir können uns nur aufrecht halten, wenn wir weitergehen, wenn wir uns hineingeben in den Schwung der Liebe.
P. Martin Löwenstein SJ fährt jeden Sommer durch Europa. Letzten Sommer war er in Odessa. Bei Fahrradexerzitien mit größeren Gruppen nach Loyola hat er seine spirituellen Erfahrungen mit anderen geteilt. Glaube in Bewegung Für ihn ist eigentlich immer Fahrrad-Tag – und nicht nur das: P. Martin Löwenstein SJ berichtet, warum das Fahrrad für ihn ein spiritueller Ort ist. Es war die fantastische Erfahrung von Freiheit. Die ersten Meter hat mich die Mutter noch angeschoben und dann bin ich davongefahren. Mit meinen vier oder fünf Jahren bin ich sicher noch manches Mal gefallen. Das habe ich vergessen. Aber die Freiheit ist geblieben. Statt auf den Schulbus zu warten, konnte ich starten, wann ich wollte; auch abends in benachbarte Dörfer oder in die Stadt zu kommen – das Fahrrad machte es möglich. So ist es bis heute geblieben, im Alltag und in den Sommerferien. Fahrrad reimt sich für mich auf Freiheit – gerade auch, wenn es bergauf geht oder bei Winterwetter mit Anstrengung verbunden ist. Viel später erst habe ich darüber nachgedacht. Gerade im Johannesevangelium, in dem so viel vom „bleiben“ die Rede ist, sagt uns Jesus: „Ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht“ (Joh 15,16). Das Fahrrad war irgendwie immer schon mein spiritueller Ort. Das Rosenkranzgebet gehört bei mir auf die Landstraße. Jeder Mensch findet sich nur, wenn er fähig ist, aus seiner Umwelt herauszutreten und Distanz zu sich zu finden. Das macht alle Menschen aus. Für uns als Christ*innen aber ist zentral, dass der Punkt außerhalb, von dem aus wir versuchen, wir selbst zu werden, Christus ist. „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Mt 16,25). Nur sich selbst zu leben, ist wie „das Fahrrad, das schief an der Wand lehnt“ (Delbrêl). Gerade und stabil ist das Rad erst, wenn es fährt. Aber die Bewegung braucht ein Ziel. Ich war nie ein Sportradfahrer, immer nur Radwanderer mit einem Ziel. Jesus: „Wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten“. Alles um seinetwillen, dem wir im Dienst aneinander begegnen, in den Hungernden, Dürstenden, Gefangenen, Obdachlosen. Ziellose Bewegung ist genauso unfruchtbar, wie bei sich selbst stehen zu bleiben. Christus aber hat die Seinen nicht nur dazu bestimmt, „dass ihr euch aufmacht“, sondern auch, dass „ihr Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“. Wenn der Untergrund steinig wird, abseits der vielbefahrenen und gut asphaltierten Straße, geht das Gesetz der Bewegung nicht mehr unbewusst und automatisch. Dann muss ich ganz konzentriert fahren, das richtige Tempo finden, flexibel bleiben, vielleicht auch schieben, aber auch wissen, wohin ich will oder wir wollen. Alleine sind wir in dieser Bewegung nie. Foto links: © PolaRocket/photocase.com (Collage); Porträt: © SJ-Bild Text auf dem Bild links aus: Madeleine Delbrêl: Deine Augen in unseren Augen. Ein Lesebuch. Hg. Von Annette Schleinzer, Verlag Neue Stadt, 2022 11 SCHWERPUNKT
Gott einen Ort sichern Sr. Franziska Madeleine Fichtmüller CCR hat sich Madeleine Delbrêl als Namenspatronin ausgesucht. Wir haben die evangelische Benediktinerin gefragt, warum sie sich für diesen Namen entschieden hat. Seit meiner Profess trage ich den Namen Madeleine. Am Beginn stand ein Buchtitel. Gerade war ich in die Communität Casteller Ring eingetreten, da fiel mir das Buch Gott einen Ort sichern ins Auge. Ich blätterte und schaute in offene wache Augen, die mich vergnügt und gütig ansahen: Madeleine Delbrêl. Madeleine bringt vieles ins Wort, das mir wesentlich geworden ist. Und geht darüber hinaus, lockt mich zu größerer Unmittelbarkeit, Hingabe, Entschiedenheit – zur Bewegung der Liebe. Ich heiße Franziska Madeleine. Tauf- und Professname gehören zusammen. Es geht nicht um Nachahmung. Es geht mit Madeleine darum, das Evangelium heute „in uns Fleisch werden zu lassen“, „Inseln göttlicher Anwesenheit“ zu sein für alle Menschen, „Christ [zu] sein in einer Welt ohne Gott“ mit „Liebe als einziger Aufgabe“. Biografisch heilsam war für mich, wie Madeleine in Ivry mit den Kommunist*innen zusammen gegen Leid und Not wirkte, ohne den Atheismus zu bemänteln. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Zur Staatsdoktrin gehörte ein aggressiver Atheismus. Eine Weile sympathisierte ich mit den „Verheißungen“ einer gerechten Gesellschaft im Kommunismus. Aber ich erlebte, wie der öffentliche Raum dicht gemacht wurde für christliches Leben, christliche Rede von Gott. „Gott einen Ort sichern“, das versuchten meine Eltern und das versuchte auch ich. Es schien mir notwendig. Auch wenn ich das als Kind noch nicht er- oder begründen konnte. Ich stand im Gegenwind. Angefochten hielt ich mich am „Dennoch“ aus Psalm 73 fest. Doch der Zweifel war längst gesät. Und nahm mir für einige Jahre den Glauben. Bevor Madeleine „von Gott überwältigt“ wurde, war sie Atheistin. Dann lebte sie als engagierte Christin in der Arbeiterstadt Ivry. Dort setzte sie sich gemeinsam mit den Kommunist*innen gegen vermeidbares Leid ein. Zunächst dachte sie, sie könnte den Kommunist*innen ihren Atheismus lassen und selbst Gott behalten. Dann erkannte sie die Unvereinbarkeit mit dem Evangelium: Gottes- und Menschenliebe gehören untrennbar zusammen. Aber sie ließ sich nicht in eine Gegnerschaft zu den Kommunist*innen drängen. Radikal lebte sie das Liebesgebot, das Gott und allen Menschen gilt. Sie brauchte „Gott keinen Ort sichern“. Sie war, wie alle, die sich vom lebendigen Gott „überwältigen“ lassen, die „Gott in sich Fleisch werden lassen und ihn dorthin bringen, wo man sich selbst befindet“, eine „Insel göttlicher Anwesenheit“. Und das geht an jedem Ort und im jeweiligen Heute. Also auch in einem evangelischen benediktinischen Kloster. Sr. Franziska Madeleine Fichtmüller CCR war vor ihrem Eintritt in das Benediktinerkloster Schwanberg in der Pflegebildung und später in der evangelischen Erwachsenbildung und Verkündigung tätig. Jetzt begleitet sie Menschen im Kloster auf Zeit und im FriedWald. So und in ihrem Dienst als Prädikantin (KFU) lebt sie ihr „Apostolat“. 12 SCHWERPUNKT
Widersprüche der Alltagsmystik In der Mystik spielen besondere Lebensmomente visionärer Schau eine entscheidende Rolle. Sie sind der Inbegriff des Nicht-Alltäglichen. Frank Berzbach fragt: Kann es angesichts der schillernden Gottesschau der Auserwählten überhaupt eine Alltagsmystik geben? Die Geistesgrößen haben das Alltägliche zwischen Arbeit und Schlaf, Ankleiden und Essen, selten thematisiert. An die windige Unterscheidung von kontemplativem Leben und vita activa hat man sich hingegen gewöhnt. Das eine erscheint immer etwas feiner und edler als das andere. Dabei müssen das Essen zubereitet, der Flur geputzt und an der Pforte die Leute empfangen werden. Das durchgängig akademische Publikum der Exerzitienhäuser vergisst das sporadisch, es sei denn, man überträgt den in Stille Meditierenden die Arbeit und definiert sie selbst als Übung. Gott auch zwischen den dreckigen Töpfen und Pfannen zu finden, ist allerdings ebenso herausfordernd wie das Erleben eines visionären Augenblicks, man hat nur mehr Versuche. In buddhistischen Klöstern wird nicht so viel geputzt, weil man dort neurotisch wäre, sondern weil die ewige Wiederkehr des Staubs vor allem eins lehrt: Nicht alle Probleme sind lösbar, und das Leben besteht keineswegs nur aus Problemlösen. Am nächsten Tag ist der Schmutz wieder da, das wird so bleiben. Schon unter „Alltag“ stellen sich die, die darüber nachdenken, etwas ganz anderes vor als die, die dafür gar keine Zeit haben. In den Milieus prekärer Beschäftigung stehen spirituelle Ratgeber nicht hoch im Kurs. Hier sind die Rahmenbedingungen so, dass der Materialismus näher liegt – in immer atheistischeren Milieus haben oft nur noch Ideologien eine Chance. Dabei wäre es gerade dort notwendig, dass eben nicht nur Geistvolles wie revolutionäre politische Theorien oder Geistloses wie der grassierende Rassismus, sondern auch der Heilige Geist einkehren könnte. Eine Alltagsmystik existiert allerdings meist nur dann, wenn wir von den Angestellten mit weißen Kragen sprechen und weniger von den Arbeiter*innen im Blaumann. Der/die Akademiker*in bleibt Sinnsucher*in, die Mystik fungiert auch als Schmuck. Die Zeiten, in denen Arbeiterpriester sich hinab wagten zu den ganz anderen, sind lange her. Aber es wäre eine ehrenwerte missionarische Arbeit – eine in der Nachfolge Madeleine Delbrêls – wenn man hinabstiege in die Arbeitskeller des Elfenbeinturms. Sie jedenfalls könnte als Alltagsmystikerin durchgehen; ein Blick in ihre Schriften und ihr Leben geben darüber Auskunft, welche Herausforderung das bleibt. Dr. Frank Berzbach lebt auf St. Pauli und in Köln. Zuletzt erschienen: Die Kunst zu glauben. Eine Mystik des Alltags. bene, München: 2023. Es ist herausfordernd, Gott zwischen dreckigen Töpfen und Pfannen zu finden. Portraitfoto Frank Berzbach: © Irene Zandel 13 SCHWERPUNKT
Carolin Holfeld ist seit zehn Jahren als Gemeindereferentin im Bistum Görlitz tätig. Mit Madeleine Delbrêl teilt sie die Leidenschaft für Musik. Von der Trennung von Kirche und Welt Madeleine Delbrêl hadert mit der Abschottung der Kirche in ihrem Umfeld. Doch wie fühlt sich Kirche in der extremen Minderheit an? Ein Erfahrungsbericht aus Brandenburg von der Gemeindereferentin Carolin Holfeld. „Hast du eigentlich auch Freund*innen außerhalb der Kirche?“ Lange überlegen brauche ich da nicht: „Nein!“ Kirche und Welt. Zwei Dinge, die besonders in meiner Heimat Cottbus in Südbrandenburg getrennt betrachtet werden. Mit einem Bevölkerungsanteil von 3,6 Prozent nimmt die Katholische Kirche eine Randstellung ein. Trotzdem lebe ich in einer kirchlichen Blase: Aufgewachsen in einer katholischen Familie, erhielt ich statt des Ethik-Unterrichts in der Schule Religionsunterricht in der Pfarrei, statt der Jugendweihe das Sakrament der Firmung. Statt auf Dorfpartys verbrachte ich meine Freizeit in der Jugendgruppe der Pfarrei und im Jugendhaus des Bistums. Dort begegnete ich Menschen, die bis heute zu meinen engsten Freund*innen zählen. Ich studierte nicht an einer staatlichen Uni, sondern in einem kircheneigenen Seminar in Freiburg, um Gemeindereferentin zu werden. Bis heute besteht mein Familien- und Freundeskreis fast ausschließlich aus Menschen, die in dieser kirchlichen Binnenwelt leben. Zahlreich sind meine Erlebnisse, wie konträr ich die „Kirchenwelt“ und die „äußere Welt“ erlebe. Besonders deutlich wird dies für mich am Osterfest. Wenn ich von der Osternacht als Höhepunkt der Karwoche nach Hause fahre, ist die Stadt leer, kein Mensch unterwegs, keiner feiert. In mir tobt das frohlockende Halleluja! Ich möchte es freudig hinausrufen. Doch es umgibt mich eine Welt, die das nicht hören will. Ich frage mich: Wer teilt diese Erfahrung außerhalb der Kirchengemeinde mit mir? Diese Momente verlangen von mir ein echtes Aushalten. Aushalten, dass der Großteil der Menschen in der Stadt den Glauben anscheinend nicht sucht. Gleichzeitig muss ich meine eigene Beklemmung und auch die Zurückgezogenheit einer Kirche aushalten, die sich um sich selbst dreht und oft gar nicht nach außen dringen will. Trotzdem bin ich nicht abgekapselt. Ich stehe vor den normalen Herausforderungen des Lebens wie jede andere berufstätige Frau und Mutter. Gleichwohl finde ich Kraft, Hoffnung und Mut in diesem Umfeld, in meiner Heimat Kirche. Denn sie ist mehr als ein Milieu: Hier finden Menschen zusammen, die ihrem je eigenen inneren Suchen und Fragen Antworten geben. Das ist auch ein Teil von Welt. Der scheinbaren Trennung bin ich müde geworden. Die Welt als Ganzes ist mir heilig, und da gehört Kirche hinein. Um Kirche in der Welt erfahrbar zu machen, zu erleben und dafür einzustehen, trete ich jeden Morgen neu an. 14 SCHWERPUNKT
Sprache, die verbindet Die Alltags-Mystikerin Madeleine Delbrêl hat Menschen geholfen, eine eigene Gebetssprache zu finden. Auch Dr. Annette Jantzen sucht eine Sprache, die Erfahrungen mit Gott ermöglicht – aus weiblicher Perspektive. Dem Begriff der Mystik eignet eine unvermeidliche Unschärfe, weil er sich auf die Begegnung mit einer nicht zu ergreifenden Wirklichkeit bezieht. Diese Begegnung geschieht in absichtsloser Betrachtung, im Sich-Überlassen. Sie geht mit der Erfahrung einher, selbst nicht notwendig zu sein, aber sich gegenüber einer Wirklichkeit zu finden, die umgekehrt unbedingt notwendig ist und keiner Begründung bedarf, weil sie Grund allen Daseins ist. In aller Vorläufigkeit verwende ich ihn als Chiffre für eine doppelte Gegenwärtigkeits-Erfahrung, die einerseits in Entgrenzung und andererseits in Verbundenheit diesem Göttlichen gegenüber besteht. Eine Sprache, die eine solche Erfahrung vorbereitet, anbahnt, ermöglicht, ausdeutet und mitteilbar macht, muss darum einerseits Verbundenheit bewirken, nicht nur behaupten können, und dafür das Gegenüber mindestens anfanghaft erfassen können. Und andererseits muss sie Gottesbilder immer wieder aufbrechen und relativieren, um sie zu überschreiten. Begegnung ist möglich, wo man sich mit dem Gegenüber identifizieren und sich zugleich als Andere*r erfahren kann. Konkretisiert auf die Gebetssprache heißt das, sie muss sowohl Identifikation als auch die Erfahrung einer fundamentalen Andersheit ermöglichen. Darum verwende ich in den Texten, die auf dem Blog „Gotteswort, weiblich“ erscheinen, ganz überwiegend weibliche Sprachbilder für Gott. Das Ziel dabei ist nicht, männliche Gottesbilder durch weibliche zu ersetzen, sondern Bilder und Vorstellungen als solche überhaupt erst sichtbar zu machen und dann zu überschreiten auf ein Je-Größeres hin. Während die Veränderung auf der sprachlogischen Ebene minimal ist und lediglich im Austausch des Artikels und der Adjektivendung besteht – also „die Ewige/du, Ewige“ statt „der Ewige/du, Ewiger“ –, ist die Wirkung groß: Das weibliche Sprachbild ermöglicht es Menschen, die sich als weiblich verstehen, ihre eigene Identität in der angesprochenen Instanz wiederzufinden. Oft wird erst dadurch deutlich, wie umfassend weibliche Wirklichkeit aus der traditionellen Gottesrede ausgeschlossen wird, und wie schmerzhaft die damit verbundenen Enteignungserfahrungen sind. Weibliche Gottes(an)rede ist ein Widerspruch gegen patriarchale Gesellschaftsordnungen und erst recht gegen deren Besatzung der unverfügbaren Räume der Spiritualität. Mit ihr soll nicht Gott ein weibliches Geschlecht zugewiesen, sondern die unsichtbare männliche Norm verlassen werden, die den Bildcharakter der Gottesrede negiert und damit die Möglichkeiten der Gottesbegegnung jenseits der Bilder mindestens erschwert, wenn nicht verstellt. Insofern eröffnet weibliche Gottes(an)rede einen heutigen Weg, in eine von außen unverfügbare Begegnung mit dem Göttlichen hineinzuführen. Annette Jantzen hat katholische Theologie studiert und mit einer Arbeit über Priester im Ersten Weltkrieg promoviert. Sie ist Betreiberin des Blogs www.gotteswort-weiblich.de. Ihre neueste Buchveröffentlichung: Das Kind in der Krippe, erschienen im Herder-Verlag 2024 15 SCHWERPUNKT
Soziale Arbeit als gelebte christliche Spiritualität Auf spannende Art kommen bei Madeleine Delbrêl Dinge zusammen, die tatsächlich zusammengehören. Doch nicht alle halten diese Spannung aus, wie Harald Klein bemerkt. „Wir sind Priester und keine Drecks-Sozialarbeiter!“ Der 1994 erschienene britische Film Der Priester zeigt die Krisen von Pater Greg Pilkington, der u. a. an der sozialen Wirklichkeit Liverpools verzweifelt. Es ist wie eine Umkehrung der Szene in der Synagoge von Kafarnaum im Lukasevangelium (Lk 4,34): Nicht der vom unreinen Geist Besessene fragt Jesus, was er mit ihm zu tun habe. Umgekehrt fragt der Mann Gottes im Blick auf die „unreinen Verhältnisse“: „Was haben wir damit zu tun?“ Lassen Sie uns eine Antwort versuchen. Im Film geht es um Spannungen im Dreieck von Religion, Frömmigkeit und Spiritualität an 16 SCHWERPUNKT
sich – und gegenüber der Sozialen Arbeit. Sie können aufgehoben werden durch eine Unterscheidung, die der Benediktiner Christian Schütz bei der Bestimmung christlicher Spiritualität trifft. Religion meint hier Lehre und Inhalte, die zu glauben sind und die im Katechismus gesammelt werden. Frömmigkeit steht für Weisen, wie diese Inhalte gelebt werden, für Riten, Lieder, Liturgien usw., wie sie im Gotteslob zu finden sind. Spiritualität hat dabei „3 + 1“ Bausteine. Jede Form von Spiritualität ist (1) alltagstauglich: Sie gibt über die religiösen oder frommen Momente hinaus auch den alltäglichen Momenten Gestalt. Sie ist (2) dialogisch im doppelten Sinne: Spirituelle Menschen sind auskunftsfähig, wenn sie nach den Gründen ihres Handelns gefragt werden. Und sie sind mit ihrer Spiritualität zum Dialog bereit, wo die soziale, gesellschaftliche und politische Umwelt sie angeht. Spiritualität ist (3) auf ein Wachstum im Menschsein ausgerichtet, das im ignatianischen Sinne Magis heißt. Schließlich (+1) hat sie einen Bezugspunkt: Sofern sie sich auf den dreieinen Gott, auf Vater, Sohn und Geist bezieht, ist sie christlichbiblische Spiritualität, die sich aber nicht ausschließend versteht. Wer christlich lebt, muss in diesem Dreieck Stellung beziehen, sich positionieren. „Wir sind Priester und keine ...“ Im Film zeichnet sich der Priester Greg Pilkington durch seine starke Zugehörigkeit zu Religion und Frömmigkeit aus, die auch seine Spiritualität speisen. Madeleine Delbrêl lebte diese Positionierung in einem Balanceakt. Sie war in großen Teilen der Religion zu Hause. Sie lebte eine kirchlich geprägte Frömmigkeit, die Gott einen Ort auch außerhalb der Kirche sichern möchte. Ihre Spiritualität nahm ihren Ausgangpunkt immer wieder im Alltäglichen. Diese Spiritualität wurde dialogisch geformt, nämlich durch Begegnungen mit den Menschen in ihrem Stadtteil. In allem ging es ihr um menschliche Lebensbedingungen in ihrem Viertel. Die Umwelt ging sie etwas an. Dabei suchte sie auch die Zusammenarbeit mit den Kommunist*innen in Ivry bis zu dem Punkt, an dem ihr Bezugspunkt, ihr Maßnehmen an Christus, dies nicht mehr zuließ. Sie war zur Sozialarbeiterin ausgebildet: Gemeinwesenarbeit, Lebensweltorientierung, Inklusion usw. sind von Delbrêl bereits gelebte Praktiken, die erst Jahre später als Theorien der Sozialen Arbeit beschrieben wurden. Bei ihr sind sie absolut spirituell grundgelegt, etwa im Ball des Gehorsams (siehe Seite 6). Die Lebenswelt ist Ort des Tanzes mit Gott, in dessen Armen der Gnade sie sich weiß und der zur Musik einer allumfassenden Liebe getanzt wird. „Wir sind Drecks-Sozialarbeiter!“ Madeleine Delbrêl positioniert sich genau umgekehrt: Soziale Arbeit kann durchdrungen sein von christlicher Spiritualität – und ist auch ein Ausdruck von ihr. Wer zu sehr in Religion und Frömmigkeit gehalten ist, wird diese Positionierung kaum auch nur denken können. Harald Klein verbindet Theologie, ignatianische Spiritualität und Sozialarbeit, im Leben und im Netz. Sein Schwerpunkt ist interreligiöse und interkulturelle Arbeit. Er lebt in Köln. Madeleine Delbrêl will Gott einen Ort auch außerhalb der Kirche sichern. Foto links: © Scott+Jock/photocase.com (Collage) 17 SCHWERPUNKT
Die Straße ist Gottes so voll Die Menschen von der Straße haben ihre eigene Art zu glauben und ihre eigene Spiritualität, ist Obdachlosenseelsorger Stefan Burtscher überzeugt. Ein Einblick in seine Erfahrungen von der Straße. Sie haben keine Kathedralen, keine Kirchen oder Tempel. Statt duftendem Weihrauch steigt bei ihnen Tabakqualm zum Himmel empor – oder was sich sonst so rauchen lässt. Bei ihnen spiegelt sich die Sonne nicht in prachtvollen Kirchenfenstern, sondern in meist zu schnell leer werdenden Schnaps- und Weinflaschen. Kein Psalmengesang bringt ihr Beten und Flehen zu Gott zum Ausdruck. Manche von ihnen bringen ihre Klage über die eigenen Lebensumstände mit lautem Gegröle vor Gott, andere stimmen ein in das allgemeine Stimmengewirr vorbeiziehender Passant*innen. Viele schweigen einfach, weil sie längst den Glauben daran verloren haben, dass sie jemand erhört. Und doch hoffen sie trotz aller Widrigkeiten ihres Lebens und ohne jeden Grund, dass sie irgendwann einmal von ihrem täglichen Kreuzweg erlöst werden. Die Menschen von der Straße haben ihre eigene Art zu glauben und ihre eigene Spiritualität. Oft weit entfernt von kirchlicher Tradition, katholischem Lehramt und akademischer Theologie und doch ganz nah bei ihrem Gott. Die Beziehung zu Gott – direkt und unmittelbar – ist für manche von ihnen das Fundament ihres Lebens und der einzige Grund, die Tristesse des Lebens auf der Straße – ihr persönliches Kreuz – Tag für Tag auf sich zu nehmen. Sie verehren nicht die Wundmale Jesu oder gedenken irgendwelcher längst verstorbener frommer Menschen, die von der Kirche heiliggesprochen wurden. Sie haben selbst genug Wundmale. Sichtbare, weil sie im Schlaf angezündet worden sind, weil die Spritze beim letzten Schuss nicht sauber gewesen ist oder als Resultat von einer Auseinandersetzung, die eskaliert ist. Und unsichtbare, verursacht von einer Gesellschaft, die stigmatisiert und ausgrenzt. Trotz allen erfahrenen Leids sind viele von ihnen solidarisch untereinander, helfen, wo sie können, und leben füreinander. Nicht selten schenken sie sich so gegenseitig das Sakrament der Fußwaschung und werden selbst zu Heiligen des Alltags. Sie teilen nicht nur Brot und Wein miteinander. Sie teilen ihr ganzes Leben – manchmal auch nur für einige Augenblicke. Sie teilen das Nichts, das sie haben: das erbettelte Essen, den Tabak, die Freude, das Leid, das Bier und den Schnaps. Sie teilen alles, was sie haben und feiern so manchmal Eucharistie mit Pommes und längst kalt gewordenem Kaffee. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sie dem Mysterium des letzten Abendmahls Jesu sehr nah und direkt auf der Spur sind – ohne je ein einziges Buch darüber gelesen oder eine theologische Fakultät von innen gesehen zu haben. Ganz ohne prunkvolle Liturgie, stolze Gotteshäuser und komplizierte Theologie legen sie durch ihr Leben Zeugnis ab, für ihren Glauben, und dafür, dass die Straße Gottes so voll ist. Stefan Burtscher ist Pastoralreferent und Obdachlosenseelsorger in Köln und promoviert in Münster im Fach Pastoraltheologie zum Thema „Theologie der Straße“. 18 SCHWERPUNKT
Treue zu einem Ort Madeleine Delbrêl lebte 31 Jahre in Ivry, einer Arbeiterstadt in der Nähe von Paris. Faszinierend und ansprechend findet P. Dominik Terstriep SJ die Treue zu diesem Ort. Im Oktober 1933 zog Madeleine Delbrêl in die vom Kommunismus geprägte Stadt Ivry, um mit zwei Gefährtinnen in einer Caritasgruppe nach den evangelischen Räten zu leben und um die dortige Sozialstation zu übernehmen. Über 30 Jahre blieb sie diesem Ort treu in ihrem Engagement für die Armen, für soziale Gerechtigkeit und für ihren Glauben, der das Leben liebte. Diese Treue zum Ort fasziniert mich. Eine Treue, die zumindest vordergründig im Widerspruch zum ignatianischen Charisma steht. Ignatius’ Ideal in der frühen Zeit der Gesellschaft war, dass – zumindest die Professen – stets bereit sein sollten aufzubrechen. Die ersten Jesuiten wurden oft zu Aufträgen ausgesandt, die lediglich einige Monate dauerten. Auch die Verweildauer in den Kollegien war oft kurz, was nicht selten Probleme verursachte. Treue zu einem Ort spricht mich an in einer Zeit, die von viel Bewegung geprägt ist: von inneren und äußeren Umzügen, von Rastlosigkeit und dem Unvermögen oder der Unmöglichkeit, Wurzeln zu schlagen. Mir ist bewusst, dass Treue zu einem Ort ambivalent ist. Wie schnell kann es geschehen, dass man sich einrichtet, unfähig, Neues zu ergreifen, dass man starr wird im „Das war schon immer so“. Treue zu einem Ort – die Idee spricht mich dennoch an. Die Mönche wussten etwas von stabilitas, dem Sich-Einwohnen in einen Ort, an den sie sich gebunden hatten. Nicht das Viele und Weite, sondern das Tiefe sprach sie an. Genau wie Madeleine Delbrêl suchten und fanden sie Gott, indem sie eben nicht aufbrachen, sondern sich an einem Ort ein Leben lang verwurzelten. Bald kannten sie nicht nur jedes Schlagloch in der Straße, jeden Baum und dessen Aussehen im Wechsel der Jahreszeiten, sondern vor allem die Menschen vor Ort. Auf dem Weg zum Rathaus traf Madeleine vermutlich an jedem Werktag die gleichen Menschen, wie es in der Anonymität von Großstädten bis heute geschieht. Sie sah Arbeiter*innen und deren Familien kommen und gehen, manche blieben auch, sah deren Kinder aufwachsen und die Eltern altern. Sie sah, wie sich Ivry veränderte und mit der Stadt die Menschen, die sie aufnahmen und entließ. In all dem gab es für die vielen, die Madeleines kleine Gemeinschaft aufsuchten und aufnahm, einen Anker, eine Verlässlichkeit. Als würde eine Jugendliche, die sie schon als Kleinkind kannte, mit Dankbarkeit und Verwunderung sagen: Du warst immer schon hier. Treue zu einem Ort nicht nur als eine Möglichkeit, diesen bis in seine Eingeweide hin kennenzulernen und ihm treu zu bleiben in guten und schlechten Tagen. Sondern auch ein Anker für Menschen zu sein in der sich immer schneller drehenden Welt – und für jene, die in ihr auf der Strecke bleiben. P. Dominik Terstriep SJ ist 2003 in den Jesuitenorden eingetreten. Der promovierte Theologe ist seit 2013 Pfarrer der St. Eugenia- Gemeinde in Stockholm und Dozent für Dogmatische Theologie am Newmaninstitut in Uppsala. Treue zu einem Ort kann ein Anker sein. 19 SCHWERPUNKT
Mit links Wie Madeleine Delbrêl zu ihrer Zeit, so ist der Jesuit Javier Giraldo im Kontakt mit Protagonist*innen im politisch linken Spektrum. Im Interview erzählt er von den persönlichen Folgen dieses Wirkens. Wie hast du das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und der politischen Linken in Kolumbien erlebt? Das ist eine schwierige Geschichte. Die kolumbianische Kirche war extrem rechts, fürchterlich konservativ und papsttreu. Die Jesuiten waren dabei die Antikommunismus-Berater. Als Novize begeisterte ich mich für Camilo Torres. Er war ein Arbeiterpriester, Vordenker der Befreiungstheologie, ein sehr inspirierender Prediger. Er klagte: „Die, die lieben, haben keinen Glauben, und die, die glauben, lieben nicht“. Die Menschen fanden in ihm ein Christentum nah am Volk. Aber viele fragten sich: Warum verurteilt die Kirche ihn, obwohl er nur das „reine Evangelium“ verkündet? Sein Leben endete dann in der Guerilla. 20 SCHWERPUNKT
Wie ging es dir zwischen diesen verhärteten Fronten? Unter den Jesuiten lebten wir einen Dauerkonflikt zwischen den Verfechtern von Schulen und Hochschulen einerseits und unserem „sozialen“ Block andererseits. Wir wollten ein Sozialapostolat aufbauen. Die Professoren haben uns als gefährliche Revolutionäre beim Pater General in Rom denunziert. Rom intervenierte, drastische Entscheidungen fielen. Viele der linksprogressiven Jesuiten hier verließen den Orden. Wir, die blieben, wurden stigmatisiert. Soldaten, Politiker*innen und Journalist*innen nannten mich einen Guerillero. Doch die Provinz hat mir ihre öffentliche Rückendeckung gegen diese haltlosen Attacken signalisiert. Nach meinem Studium in Paris wurde ich hier in der Menschenrechtsarbeit aktiv. Das gab es vorher noch nicht. Die Bischöfe waren nicht interessiert. Wir vereinten also Ordensgemeinschaften dafür. Wir haben mit Opfern des Konflikts, Vertriebenen, in Armenvierteln, in Schulen, in der Rechtsberatung gearbeitet, politische Reflexion betrieben. Doch es häuften sich die Bedrohungen gegen uns. Eines Nachts erreichte mich die Warnung eines Journalisten, dass mehrere Generäle ein Attentat gegen mich geplant hätten. Ich musste untertauchen, gelangte im Kofferraum versteckt zum Büro. Kurz darauf musste ich das Land für Jahre verlassen. Das war eine sehr harte Zeit. Ich war sehr deprimiert. Bei meiner Rückkehr waren die Verantwortlichen im Ruhestand. Das Militär sagte mir, dass ich bleiben könne, aber auf eigene Verantwortung. Da fühlte ich mich frei und bewegte mich trotz aller Warnungen unabhängig durchs Land. Was gab dir selbst die Kraft, dem allen zu widerstehen? Ja, das war nicht leicht. All diese Anschuldigungen und Bedrohungen haben mir den Schlaf geraubt. Ich ging in Exerzitien mit der Frage: Mache ich das weiter oder nicht? Denn das hat mich menschlich, gesundheitlich echt zerstört. Es wäre leicht gewesen, den Provinzial um eine andere Aufgabe zu bitten. Doch mir wurde dann sehr klar: Was ich erlitt, war der Preis für die Arbeit in diesem Bereich. Aber es durfte mich nicht kaputtmachen. Ich musste es also mit einer gewissen Gelassenheit akzeptieren, habe mich immer weiter beruhigt, und die Ordensoberen haben meine Arbeit geduldet. Ich hatte aber den Koffer fürs Gefängnis immer gepackt. Was können wir von diesen progressiven Gruppen lernen? Es sind sehr viele Gruppen in der Kirche entstanden und viele auch wieder verschwunden, die sich mit der Befreiung und Gerechtigkeit beschäftigt und viel veröffentlicht haben. Noch sind sie nicht tot. Sie haben ein gemeinsames Erbe hinterlassen, eine andere Art des Christseins, ein Modell von Kirche, die vom Volk her aufgebaut ist. Die vielen Märtyrer*innen dieser Zeit in Lateinamerika haben diese Grundüberzeugungen eher noch bestärkt. Nicht alle waren gläubig, aber sie starben für die Gerechtigkeit. Interview und Übersetzung: P. Fabian Retschke SJ P. Javier Giraldo Moreno SJ ist Kolumbianer und seit Jahrzehnten in Menschenrechtsfragen aktiv. Damit machte er sich nicht nur Freund*innen. Ich hatte aber den Koffer fürs Gefängnis immer gepackt. Foto links: © Scott+Jock/photocase.com (Collage) 21 SCHWERPUNKT
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