„Auf die Glaubenserfahrung des einzelnen kommt es an, nicht auf Kleriker, nicht auf die Kirche.“

Karl Rahners Todestag jährt sich 2024 zum 40. Mal (5. März), sein Geburtstag zum 120. Mal (30. März). Der wirkmächtige Theologe war ein Mann des klaren Wortes, der an der Schwelle der Theologie zur Moderne an Dogmen rüttelte, alles hinterfragte und in seinen letzten Lebensjahren mit der Entwicklung der Kirche unter Johannes Paul II. haderte. Der Rahner-Kenner Andreas R. Batlogg SJ sagt im Interview, wieso er Rahner in einer Reihe mit Augustinus, Thomas von Aquin und Bonaventura sieht und was dieser die Theologen von heute fragen würde. Der 61-jährge Österreicher hat unter anderem in Innsbruck Theologie und Philosophie studiert und war von 2008 bis 2015 wissenschaftlicher Leiter des Münchner Karl-Rahner-Archivs.

Pater Batlogg, Karl Rahners Gesamtwerk, das u.a. durch Sie herausgegeben wird, umfasst 32 Bände mit zigtausend Seiten. Können Sie die Bedeutung dieses ungeheuer produktiven Theologen zusammenfassen?

Ja, er war sehr produktiv, aber trotz der immensen Menge an Veröffentlichungen würde ich ihn eher qualitativ produktiv sehen. Vieles von dem, was er entwickelt hat, ist heute theologisches Allgemeingut und damit in den Besitz der Kirche übergegangen. Und Rahner wird, auch wenn der Zugang nicht ganz einfach ist, immer noch gelesen, auch von Nicht-Theologen.

Nicht ganz einfach zu lesen, ist das nicht eine Beschönigung?

Der „furchtbar schwer lesbare“ Rahner ist ein Klischee, dem auch Papst Franziskus aufgesessen ist, der eher Hugo Rahner, dem Kirchengeschichtler und Ignatiuskenner, zuneigt. Natürlich ist Karl Rahner manchmal auch schwierig, etwa wenn er Schachtelsätze über Seiten hinweg schreibt. Er will schon, dass seine Leser denken. Aber der Gegenstand dieses Nachdenkens ist nie etwas Abgehobenes oder Abstraktes, sondern immer eine ganz konkrete Frage, die sich jeder Christ stellt: Was ist Auferstehung? Was ist Gnade? Was heißt „wahrer Mensch und wahrer Gott“? Rahner schrieb übrigens auch über Gefängnisseelsorge, über die Bahnhofsmission oder die Pfarrbücherei. Er war Mitherausgeber des Lexikons für Theologie und Kirche, das heute noch Bedeutung hat. Ihm kam es darauf an, Glaubensinhalte so zu vermitteln, dass es jeder versteht.

Wie würden Sie seine Theologie beschreiben?

Karl Rahner ist mit Tradition sehr schöpferisch umgegangen. Das Denken früherer Geschlechter war für ihn kein Ruhekissen, man müsse daran weiterarbeiten, denn die tradierten Dogmen und Definitionen allein „lassen mich nicht leben", wie er einmal sagte. Was er damit meinte: bis ins zwanzigste Jahrhundert musste in der Theologie alles auf Thomas von Aquin zurückzuführen sein. Die Sprache war Latein¸ und es gab weltweit die gleichen Antworten. Karl Rahner hatte den Mut zu fragen: Was bedeutet das denn alles für den Menschen von heute?

Nächstes Jahr feiern wir übrigens 1.700 Jahre Konzil von Nizäa, auf dem das Glaubensbekenntnis aufgeschrieben wurde. Aber was heißt das alles? Was heißt: "eines Wesens mit dem Vater"? "Gott in drei Personen?" Was heißt "Jesus ist Gott"? Über all das hat Karl Rahner nachgedacht. Seine Art, alles zu hinterfragen und dabei schonungslos zu sein, hat Meilensteine gesetzt. Als Theologe steht er in einer Reihe mit Augustinus, mit Thomas von Aquin und Bonaventura.

Was ist die Substanz von Rahners Theologie, was ist seine Botschaft?

Da ist sehr vieles, weil er über so viele Dinge nachgedacht hat. Vielleicht ist am wichtigsten seine Erkenntnis, dass der Heilswille Gottes nicht abhängt von irgendeiner Vermittlung, etwa durch die Kirche als Institution, sondern dass ein jeder, eine jede diese Gnade auch direkt erfahren kann. Das war schon revolutionär.

Gilt das auch für seinen berühmten Satz: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“?

Ja natürlich, das geht in die gleiche Richtung. Kardinal Lehmann, der sein Assistent war, sagte einmal, Rahner sei ein Mann für übermorgen. Er hatte damals bereits das Gespür dafür, dass sich die homogenen christlichen Milieus auflösen. Wenn aber die Bedeutung der Kirche als Institution schwindet, wenn sie gar zum Trachtenverein verkommt, dann kommt es umso mehr darauf an, dass der Einzelne Formen und Übungen für Gotteserfahrung kennt und pflegt. Rahner fragte sich deshalb: Wie können wir dafür sorgen, dass der Einzelne Gott erleben kann? Wie können wir persönliche Mystik schulen? Darin sah er die vorrangige Aufgabe der Kirche von heute. In Rahners Worten: "Bevor die Kirche so furchtbar viele moralische Lehren einschärft, die durchaus richtig und sinnvoll sein können, müsste sie sich viel mehr, lebendiger, anstrengen, diese ursprünglichste Gotteserfahrung einem Menschen nahezubringen." Ein solcher Ansatz relativiert den Klerus stark. Rahner war darin natürlich ganz Jesuit und geprägt von den Ignatianischen Exerzitien. Er hielt die Erfahrung des unbegreiflichen Gottes durch jeden, der sich ihm öffnet, nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig.

Ist er damit nicht angeeckt?

Damit eigentlich nicht. Angeeckt ist er eher mit anderen Themen.

Welchen?

Zum Beispiel, dass er das Dogma der Jungfrauengeburt als bloßes „Verstehensmodell geschichtlich bedingter Art“ bezeichnete. Das war ein typischer Rahner, um modernen Menschen das Verstehen zu ermöglichen, aber unter Wahrung des Wortlauts. Damit hat er die Theologie im Grunde in die Moderne gerettet. Aber natürlich machte er sich mit so etwas bei Konservativen unbeliebt. Das galt auch für die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Da bekam er in den fünfziger Jahren eine sogenannte Vorzensur für ein Manuskript über dieses Dogma. Aber grundsätzlich ließ Rahner an seiner Kirchlichkeit nie Zweifel aufkommen.

Welche Bedeutung hatte Karl Rahner für das zweite Vatikanische Konzil?

Als er die von der Kurie in Rom vorbereiteten Schemata zu lesen bekam, war er schockiert. Er sagte, dass sich das Konzil eine solche "Wald-und-Wiesen-Philosophie" nicht erlauben könne und dass diese Leute keine Ahnung von Seelsorge hätten, wie er sich ausdrückte. Er hatte Blut geleckt und wollte sich unbedingt einbringen, damit das nicht entgleitet. Jeder Bischof durfte einen Theologen mitnehmen, so kam Rahner an der Seite von Kardinal Franz König zum Konzil. Und weil er damals bereits prominent war, ernannte ihn der Papst selbst zum Peritus, zum Berater, so wie auch Joseph Ratzinger. Auf dem Konzil fanden sich die beiden und schrieben als Duo brillante Texte, die in die Schlussdokumente eingingen. Auf diese Weise war Rahner an der Modernisierung der Kirche durch das Konzil nicht unwesentlich beteiligt: an der Gewissens- und Gedankenfreiheit für Katholiken, am Ökumenismus-Dekret, wonach es auch außerhalb der Kirche Heil geben könne, selbst für Atheisten, an der Kirchen- und an der Pastoralkonstitution und dann natürlich an der kompletten Erneuerung der Messe und der Einführung der Volkssprache. Das Konzil hat manche Dinge um 180 Grad gedreht.

Wenn auch nicht alle, Beispiel Empfängnisverhütung.

Der Papst hatte dem Konzil ein paar Themen entzogen. Familienplanung war eines. Ein anderes Thema war der Zölibat. Viele dachten damals, er würde den Priestern freigestellt werden, und nicht wenige ließen sich weihen, weil sie dachten, das Konzil werde etwas ändern. Dem war aber nicht so. Dennoch: Die katholische Kirche hatte nie ein so hohes Ansehen wie zu Zeiten des Zweiten Vatikanums. Es war ein umfassender Aufbruch, und viele der modernen Ideen des Konzils gingen auch auf Karl Rahner zurück, wenn er auch nicht der "Holy Ghost Writer" des Konzils war, wie restaurative Quellen später behaupten.

Wie blickte Karl Rahner auf die Entwicklung der Kirche nach dem Konzil?

Es wurde bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Konzil Rückbau betrieben. Paul VI. veröffentlichte 1968 die Enzyklika „Humanae vitae“ mit dem Verbot künstlicher Empfängnisverhütung, im Grunde eine Katastrophe. Dann kamen Bischofsernennungen von Johannes Paul II. in den Achtzigern, mit denen er alle wieder auf Linie bringen wollte. Karol Wojtyla hatte als Weihbischof am Konzil teilgenommen, gehörte dort aber zur theologischen Minderheit. Karl Rahner sah den Rollback früh und war unendlich frustriert darüber. Ein Verfall trat ein, im Katholizismus und bei ihm selbst. Der späte Rahner bezog zornig Stellung gegen das Zurückgehen hinter die Öffnungen des Konzils aus Sorge um die Kirche. Noch kurz vor seinem überraschenden Tod 1984 setzte er sich für den im Vatikan in Misskredit geratenen peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez ein. Allerdings versteht man Rahner nicht von seinen kirchenpolitischen Kommentaren aus. Sein Anliegen war immer Gott: Ihn wollte er ins Spiel bringen, wo andere nur von Kirchenstrukturen und ihrer Reform sprachen. Er sorgte sich, dass darüber Gott in Vergessenheit geraten könnte, auch innerhalb der Kirche. In den letzten Lebensjahren sprach er viel mit Jugendlichen drüber, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, dass da noch was kommt. Für ihn war das noch selbstverständlich, doch er sah das versickern.

Sie gelten als einer der besten Experten für Karl Rahner, wie ist ihr persönlicher Bezug?

Mein ganzes Leben ist von ihm geprägt. Mein Innsbrucker Lehrer Walter Kern sagte uns Studenten immer: Lesen Sie Rahner, nicht Artikel über ihn. So hat es begonnen. Ich hatte dann das Glück, Jesuiten und andere Leute kennenzulernen, teils mit ihnen zu arbeiten, die ihm nahestanden, zuerst Georg Sporschill und Paul Imhof, dann Karl H. Neufeld, dessen Assistent ich wurde, später dann Herbert Vorgrimler, Karl Lehmann, Johann Baptist Metz, Adolf Darlap und Albert Raffelt. Im Februar 2008 hatte ich das Karl-Rahner-Archiv von Innsbruck nach München zu holen und habe es acht Jahre lang geleitet. Ich habe seine gesamte Korrespondenz gelesen. In Griffweite von mir stehen die 32 Bände Gesamtausgabe, es sind de facto 40 Bände, weil einige in Teilbänden erschienen sind. Es berührt mich, mit wie viel Hingabe er geschrieben hat. Ich bilde mir aber nicht ein, sein Riesengebirge wirklich überblicken zu können, und es wird mir immer deutlicher, was für ein Großer er war. Da bin ich ein Zwerg auf den Schultern eines Riesen.

Was war er eigentlich für ein Mensch? Sie haben ihn als Student noch erlebt.

Er war brummig und hatte auch eine depressive Seite. Er war alemannisch zurückhaltend. Und ja, er war auch schwierig. Aber er war kein abgehobener Professor, er hatte nicht Allüren eines Theologie-Stars. Er war ein Jesuit der alten Schule, ein ungeheures Arbeitstier. Im Gegenzug konnte er keinen Knopf annähen, seine Social Skills waren nicht sehr ausgeprägt. In den letzten Jahren wäre er wohl verwahrlost ohne den Einsatz der vielen Assistenten und Frauen um ihn herum, gute Geister, die sich um seinen Alltag kümmerten und ihn auch mal zum Eisessen oder für einen Espresso über den Brenner nach Italien fuhren. Er liebte schnelle Autos, und auf der Autobahn rief er: "Lass mer des Rössle springen!" Was mir enorm imponierte, war trotz seiner sozialen Defizite das Menschliche an ihm. Er mochte Kinder gern, spielte mit ihnen, zog gern mit dem Rosenkranz die Waggons von Modelleisenbahnen. Und er hatte Humor. Einmal war er bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Er begann zu essen, da sagte das behinderte Mädchen zu ihm: „Bei uns wird z’erscht gebetet!“ Diese Anekdote liebte er.

Was hätte Karl Rahner den Theologen heute zu sagen?

Er wäre traurig und auch zornig darüber, dass die deutsche Theologie nicht mehr den Stellenwert hat wie zu seiner Zeit. Er würde die Theologen heute fragen: Schreibt Ihr eigentlich immer nur füreinander in Eurer Blase? Oder habt Ihr die Menschen im Blick? Theologie nach Rahner muss Gott verkünden, predigen, dazu beitragen, dass die Menschen verstehen. Nicht Enzykliken, Dogmen und den Papst zitieren, das kann es nicht sein. Eine Ausnahme sähe er wahrscheinlich in Tomáš Halík, dem tschechischen Theologen, der voriges Jahr bei der Kontinentalversammlung im Rahmen der Weltsynode in Prag sagte: „Wir sollten die Spezialisten sein – nicht die Besitzer der ganzen Wahrheit. Die Wahrheit ist ein Buch, das niemand zu Ende gelesen hat. Wir sollten mit den Suchenden als Suchende in einen Dialog treten. Ich glaube, dass das eine wichtige Aufgabe der Kirche der Zukunft in einer pluralistischen Welt sein wird.“ Das könnte auch von Rahner sein!

Heutige Theologen scheinen von Rahner im Gegenzug auch nicht viel zu halten?

Karl Rahner wird immer wieder heftig kritisiert. Thomas Ruster erklärte in der März-Ausgabe der „Herder Korrespondenz“ 2024 lapidar: „Die Epoche Rahners ist endgültig vorbei. So endgültig, wie etwas in dieser kontingenten Welt vorbei sein kann.“ Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte mich so etwas noch aufgeregt. Heute überhaupt nicht mehr. Es ist dasselbe mit der Rahner-Rinser-Geschichte, die auch von Ordensmitgliedern immer wieder aufgerührt wird: Wer hat da wen benutzt? Ich stelle fest: Immer noch arbeiten sich Diplomarbeiten und Dissertationen an Rahner ab. Er wird immer noch gelesen, er fasziniert, er inspiriert, er baut auf, er tröstet. Das ist Theologie als Lebenshilfe. Geerdet, spirituell tief, theologisch gehaltvoll. Was will man mehr? Man wird auch in 100 Jahren noch von Rahner reden. Aber nicht von seinen Kritikern.

Haben Sie noch einen Lesetipp, Rahner für Anfänger?

Wahrscheinlich „Was heißt Jesus lieben“. Ich habe selbst mit diesem Buch angefangen: Den Mut haben, Jesus um den Hals zu fallen – diese Formulierung faszinierte mich und ließ mich nie mehr los. Es sind tiefe Texte, von denen man nicht sofort alles versteht, die aber inspirieren und motivieren, weiterzulesen. Gerade seine spirituellen Texte locken, man will mehr davon.

Ein ausführliches Interview über das Leben und Wirken von Karl Rahner an der Schwelle von Kirche und Theologie zur Moderne, hat Christ und Welt mit P. Andreas Batlogg SJ geführt, hier kann man es nachlesen.

Auf dieser Seite der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck findet man weitere Lesetipps für Einsteiger.

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