• © SJ-Bild/Matt Artz (unsplash)
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Brüchigkeit und Glaube

Die Pandemie hat vielem „brutal einen Strich durch die Rechnung“ gezogen, und die Menschen fühlten sich ohnmächtig ob des plötzlichen Einschnitts durch diese tödliche Macht. P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur von "Stimmen der Zeit" wirbt in seinem Editorial in der aktuellen Ausgabe dafür, den "Schuss vor den Bug" zu hören und die Chance darin zu erkennen.

Vor Corona war im Leben immer mehr machbar, zumindest in den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten der meisten Länder. Bis in kleinste Details und mit allen Absicherungen waren der Alltag und erst recht die großen Events durchorganisiert, nicht nur im Arbeitsleben, auch in der Freizeit und im Urlaub. Mit dem stetig steigenden Wohlstand und immer komplexeren Technologien bekam man Unwägbarkeiten, Zufälle, Unglücke immer besser in den Griff. Das Konsumniveau war hoch wie nie zuvor in der Geschichte – unvorstellbar für die Armen bei uns und anderswo, aber diesen Aspekt übersah man geflissentlich. Der Körper wurde mit Training und gegebenenfalls auf dem Operationstisch optimiert. Die Medizin beherrschte fast alle Krankheiten immer besser. Verheißungen ewiger Jugend lockten. Digitalisierung erweiterte die Möglichkeiten ins schier Unendliche, und manche prognostizierten, dass Künstliche Intelligenz den Menschen bald zum Homo Deus hin überwinden werde. Zwar zog die Klimakatastrophe dunkel am Horizont herauf, aber man beschwichtigte mit dem Plan, ein ökologischer Umbau der Wirtschaft werde sie besiegen und sicheren Wohlstand für alle bringen – mal schnell zum Badeurlaub nach Thailand zu jetten, das musste gesichert bleiben.

Corona zog brutal einen Strich durch die Rechnung. Als biblische Plage wurde diese Pandemie empfunden, völlig unvorhersehbar und zur Gänze unverdient über uns hereingebrochen. Die Machbarkeit des Lebens schien zerbrochen. Der Flugverkehr – symbolisch für das frühere Lebensgefühl – brach in kürzester Zeit auf wenige Prozent des vorigen Niveaus zusammen. Die Menschen fühlten sich ohnmächtig, hilflos, abgeschnitten von vielem und – weil der üblichen Zerstreuungen beraubt – auch einsam und leer; allerdings klagten viele auf beschämend hohem Niveau. Latente psychische Krisen brachen auf. Kinder und Jugendliche – auch sie häufig übersehen – litten schwer. Zwar glich bei uns der Staat die wirtschaftlichen Abstürze großenteils aus und verschuldete sich damit für Jahrzehnte – aber in armen Ländern, in denen Staaten nicht funktionieren, wurde der Hunger pandemisch und noch tödlicher als die Virus-Pandemie. Die Kirchen leerten sich rapide – nur wegen hygienisch motivierter Verbote? Oder auch, weil Gott offensichtlich nicht half und daher entbehrlich wurde? Allein gelassen fühlten sich die Menschen einer unsichtbaren, heimtückischen und teuflischen, ja tödlichen Macht ausgeliefert. In seiner neuen Brüchigkeit versank das vorher so gesicherte und komfortable Leben in Angst.

Bringen breite Impfkampagnen das alte Leben zurück? Viele träumen davon: Die Wirtschaft wird wieder brummen und der Himmel sich mit Flugzeugen füllen. Die Kirchen werden wieder besucht werden wie vorher. Aber können wir uns in frühere Machbarkeit einfach zurückbeamen? Die Klügeren warnen: Das Virus bleibt, auch mit Varianten, mit neuen Einschränkungen, mit Unsicherheiten – der hemmungslos hedonistische Lebensstil wird nicht mehr möglich sein. Die Wirtschaft verändert sich, auch unter ökologischem Druck. Armut und Reichtum – in der Pandemie riss die Schere nochmals gewaltig auf – müssen aktiv und für viele schmerzhaft ausgeglichen werden. Und die Kirchen? Was schon vorher unter der Fassade, mit viel Geld halbwegs erhalten, brüchig war, brach in der Pandemie hervor. Wie früher wird es nicht mehr werden: Die Christen entwickeln sich zur Minderheit, mit wenig Macht und Glanz, oft geringgeschätzt und an den Rand gedrängt, verunsichert, suchend, sich selbst marginalisierend. Die Kirchen werden diesen – übrigens biblisch vorgezeichneten – Weg nur gehen, wenn sie die Situation annehmen und sich dadurch verändern lassen, also ärmer werden, demütiger und stärker partizipativ.

Was sagt der Glaube zu dieser Entwicklung? Sein zu wollen wie Gott, der alles berechnet und beherrscht, ja alles weiß und kann und wirkt, ist die Ursünde der Menschheit. Irdische Existenz ist vulnerabel und brüchig, sie ist ständig von Armut bedroht und vom Tod überschattet. Gott als Garant unseres Wohlstands und der Machbarkeit: Das wäre, selbst mit viel Dank an den Geber der guten Gaben, Instrumentalisierung Gottes, theologischer Missbrauch. Wie Gott in der Welt wirkt, wissen wir nicht. Oft scheint er gegen unsere Wünsche und Projektionen zu wirken, das zeigt die Pandemie überdeutlich. Eigenartig abwesend wirkte er, nicht berechenbar. In der Welt leben wir zwar vor Gott, aber gleichsam ohne Gott (Bonhoeffer). Und doch: Wer glaubt, erfährt, dass Gott in der Not mitgeht und stützt. Gott verheißt Leben, auch über Not und Tod hinaus.

Die Pandemie ist ein Schuss vor den Bug. Den Schuss zu hören, das könnte bedeuten: Kinder und Jugendliche sind neu zu fördern. Der sozial-ökologische Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft muss vordringlich weitergehen. Digitalisierung ist hilfreich, aber nur ein – durchaus ambivalentes – Mittel, kein Zweck in sich selbst. Weil irdische Existenz bleibend brüchig ist, stellen sich neu die Gottesfrage und jene nach dem ewigen Leben. Die Kirche darf den Mut haben, christliche Liebe im 21. Jahrhundert zu leben und dadurch Gott zu verkünden. Kann die Pandemie zur Chance für Gesellschaft und Kirche werden?

Autor:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

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