Das Wunder des Fleisches Das Paradox der Leiblichkeit Jesu

Eine Weihnachtsbetrachtung von P. Karl Kern SJ

Und das Wort ist Fleisch geworden …“ (Joh 1,14). Diese Formel im Prolog des Johannesevangeliums ist der Basissatz für das ganze Leben Jesu; ein Satz, der Gegensätzliches, schier Unvereinbares miteinander verbindet. Schon Jesaja verkündete als Sprachrohr Gottes: „Alles Fleisch ist wie Gras … Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,6.8). „Fleisch“ ist in der Bibel das Geschaffene, das Vergängliche, das wächst, aufblüht, verwelkt und dem Tod geweiht ist. Johannes Brahms hat in seinem „Deutschen Requiem“ die schlagende Wucht, den Schrei des Vergänglichen der zarten, schwebenden, nach oben strebenden Melodie des ewigen Wortes Gottes genial entgegengesetzt – als Sehnsuchts-, Trost- und Hoffnungsimpuls wie bei Jesaja. Diese urbiblische Glaubensgewissheit wird bei Johannes noch gesteigert. Sie verdichtet sich bis zum Paradox: Das Wort, aus dem alles entstanden ist, das als Weltseele alles belebt, dieses ewige Wort ist in menschlichem „Fleisch“ erschienen. Von diesem unglaublichen Geheimnis kann man nur als Ergriffener künden. Der Prolog geht deshalb hier von der beschreibenden Rede in das Bekenntnis einer „Wir-Gruppe“ über: „ … und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (Joh 1,14). Dieses „Wir“ ist davon gepackt, dass der Glanz, die Wucht der Gegenwart Gottes in einem Menschen aufgeblitzt ist. Die Begegnung mit Jesus von Nazareth ist das Urerlebnis, aus dem der christliche Glaube erwachsen ist. Für Johannes ist Jesus die fleischgewordene Erfüllung seines jüdischen Glaubens an die Treue Gottes: Dieser Mensch aus Fleisch und Blut kam aus der intimen Einheit mit Gott. Er wohnte unter den Menschen, um ihnen den Weg in die Einheit mit Gott und untereinander zu offenbaren.

Das „Fleisch“ Jesu als Angelpunkt des Heiles

„Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens: … das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt“ (1 Joh 1,1.3). Die erste Generation der Zeuginnen und Zeugen hatte nur ein Anliegen: das Heil, das sie in Jesus „fleischlich“ erfahren hatten, weiterzugeben. Der lebendige Christus sollte im Glauben und im Miteinander der Gemeinde erfahr[1]bar bleiben. Die Reden, die „Zeichen“, die Ausstrahlung, das Lachen und Weinen, das Angesicht und die Gesten Jesu, seine Symbolhandlungen, seine Hingabe bis zum Letzten, mit einem Wort: Sein beseeltes „Fleisch“ ist der Angelpunkt des Heiles. „Caro cardo salutis“, so der Kirchenvater Tertullian (150–220). Es sollte darum keinen christlichen Dualismus von „Fleisch“ und „Geist“ geben. Die Verdächtigung des „Fleischlichen“, besonders des Sexuellen, hat sich jedoch früh in die christliche Tradition einge[1]schlichen. Verdrängung, ja sogar Bekämpfung des Fleisches wurde propagiert. Natürlich wissen wir um die zerstörerische Eigendynamik des Fleischlichen: des Begehrens, der Eifersucht, des Verfallenseins an Süchte wie Sex, Geld oder Genuss. Im menschlichen „Fleisch“ lauert auch das Ungeheuer von Gewalt, Krieg, von Verzweiflung und Tod. Christlich wäre es: unser gefährdetes „Fleisch“, unsere Grundtriebe samt unseren psychischen Anlagen mit Geist zu durchdringen, zu beseelen, in die spirituelle Ebene zu integrieren. Unser vergängliches „Fleisch“ sollte im Kraftfeld der Liebe Gottes „Geist“ werden. Dann könnten wir mit Friedrich Spee SJ (1591–1635) singen: „Dich wahren Gott ich finde in meinem Fleisch und Blut …“ Sich selbst als beseeltes „Fleisch“ zu erleben und anzunehmen, ist wahres Glück. Solch er[1]löstes Dasein strahlt aus auf alle und alles. Als Krone und Teil der Schöpfung hat der Mensch den Auftrag, den göttlichen Garten zu bewahren und zu pflegen. Wer Gott als „Freund des Lebens“ (Weish 11,26) entdeckt hat, wird selbst – getragen vom inneren Fluss des lebensbejahenden Gottes – zum Freund und zur Freundin des Lebens.

Das „Fleisch“ des Neugeborenen

Wir feiern die Geburt Jesu. Ein neugeborenes Kind weckt durch sein bloßes Dasein die Liebe zum Wehrlosen und Schutzbedürftigen. Dieses „Fleisch“ fordert zur liebenden Sorge heraus. Solche Zuwendung ist tief im Menschen, vor allem in der Mutter, verankert. Ringsum regt sich fragloses Staunen über das Wunder des Lebens. Jedes Baby strahlt neue Hoffnung aus. Selbst hartgesottene Agnostiker sind angerührt von den zarten Gliedmaßen, den Bewegungen, den Augen und den Reaktionen eines kleinen Kindes. Das Gesicht der Erwachsenen hellt sich auf. Das „Fleisch“ des Babys ist ein Fenster zur Transzendenz. Das Mysterium des Lebens wird anschaulich. Auch Jesus musste als Kleinkind geschützt, versorgt und in einer mörderischen Welt in Sicherheit gebracht werden. Dem hilfsbedürftigen jungen Leben ein Nest der Geborgenheit zu bereiten, ist Aufgabe der Eltern. Verletzliches „Fleisch“ zu schützen, aufzurichten, zu heilen und zu stärken, rührt an das Geheimnis des Heiligen, das im Fleische verborgen ist. Jesus hat Kinder in die Arme genommen und gesegnet. Er hat den Wassersüchtigen und die gekrümmte Frau, er hat Aussätzige berührt, was ein Tabubruch war und ihn selbst zu einem Ausgestoßenen machte. Sein Zugehen auf Außenseiter hat ihm Feinde eingebracht. Er hat sich von einer stadtbekannten Dirne salben lassen, was die Frommen befremdete. „Gott ist im Fleische“ (Gerhard Tersteegen, 1731). Nach dieser Maxime hat sich Jesus den Menschen, besonders den Kleinen, den Sündern und Kranken zugewandt. Und er stand zu seinen eigenen Gefühlen, konnte im Zorn erregt sein oder aufjubeln in heller Freude. Seine tränendurchtränkten Augen und sein strahlendes Augenpaar haben sich eingeprägt, aber auch seine Angst am Ölberg. Er kannte Versuchungen wie wir, aber er hat sich mit allem, was ihn bewegte und umtrieb, vertrauensvoll Gott übergeben. So reifte er in einem angefochtenen Leib zum „Fleisch gewordenen Wort“, von dem „Geist und Leben“ ausgingen.

Das „Fleisch“ des Gekreuzigten

Jesus hat das Heil vornehmlich durch körperliche Zuwendung vermittelt. „Er hat alles gut gemacht“ (Lk 7,37) ist ein emphatisches Echo auf seine Heilungswunder. Doch mit seinem Herzensanliegen, ein neues Gespür für den nahen Gott zu verbreiten, ist er letztlich nicht durch[1]gedrungen. Deshalb schränkte er seine Wundertätigkeit ein und er[1]kannte unter inneren Kämpfen, dass sein gemarterter Leib das stärkste Zeichen für das Heil Gottes sein würde. Der tote, geschundene Leichnam auf dem Schoß Marias ist Kontrast und Entsprechung zur Mutter, die das Neugeborene in ihren Händen hält. Matthias Grünewald (1480– 1530) hat diese innere Verwandtschaft erspürt. Die Windeln Jesu sind auf dem Isenheimer Altar mit dem Lendentuch des Gekreuzigten identisch und beide Male „Fleisch“, wie es kontrastreicher nicht sein könnte. Das zarte, strahlende Fleisch des Babys und der von Beulen und Wunden überzogene Leib des Toten, dessen Anblick den Schwerkranken im Isenheimer Hospital Trost spenden sollte. Das „Fleisch“, ein sakramentaler Ort von staunenswertem Glanz und von tiefstem, verstörenden Leid. Das Fleisch Christi repräsentiert Gott in dieser Welt: im Staunen über seine Geburt, im Schauen auf seine ganzheitliche Zuwendung zu den Menschen und im Verstummen vor seinem grausam zu Tode geschundenen Leib.

Mann und Frau „erkennen“ sich als „ein Fleisch“

Teilhard de Chardin (1881–1955), Jesuit und Paläontologe, hat einen erstaunlichen Satz hinterlassen: „Das Lebendigste des Greifbaren ist das Fleisch, und für den Mann ist das Fleisch die Frau.“ Das klingt auf den ersten Blick sexistisch, doch muss man diesen Satz mit biblischer Tiefenschärfe lesen. Der zweite, ältere Schöpfungsbericht weist nämlich in dieselbe Richtung: Dass Mann und Frau „ein Fleisch“ werden, ist Ziel der ganzen Schöpfung (vgl. Gen 2,24). Die Vision der ursprünglichen Einheit von Mann und Frau ist partnerschaftlich. Deswegen gilt der Satz von Teilhard auch gleichermaßen für die Frau hin zum Mann. Beide sind in ihrer polaren Bezogenheit und „fleischlichen“ Einheit Abbild Gottes! „Adam“, wörtlich der „Erdklumpen“, ist in der Logik des Mythos noch gar nicht Mann. Das wird er erst durch die Erschaffung der Frau. Der biblische Mythos erzählt sehr einfühlsam, dass Gott die innerste Sehnsucht des einsamen Adam erfüllt, indem er ihm die Herzensgefährtin zuführt. Erst als Folge der Sünde entwickelt sich die Herrschaft des Mannes über die Frau. Das Patriarchat liegt nicht in der Schöpfungsabsicht Gottes! Leider hat die Auslegungsgeschichte des biblischen Mythos die patriarchale Version für Jahrhunderte festgeschrieben. Die „fleischliche“ Vereinigung von Mann und Frau wird in der Bibel mit dem Verb „erkennen“ umschrieben. Der tiefste Sinn der „fleischlichen“ Vereinigung ist, einander intim zu „erkennen“, in aller Bedürftigkeit anzunehmen und ein „Geist“ zu werden.

Die Geburt Jesu aus Gottes unergründlicher Liebe

Hinter jeder Menschwerdung steht – im Idealfall – die innige Liebe von Mann und Frau. Bei der Geburt Jesu ist es die unergründliche, ewige Liebe Gottes, der Männliches und Weibliches in sich trägt. Das ist das eigentliche Geheimnis der Weihnacht. Die „eingefleischte“ Liebe sollte deshalb das Zentrum alles Christlichen sein! Die ersten Christen wählten für „Liebe“ den damals blassen griechischen Begriff „agape“. Die Zukunft der Kirchen wird davon abhängen, ob sich dieser christliche Begriff mit der urtümlichen Kraft des Eros, der Sexualität und mit der Dimension einer beziehungsfähigen, partnerschaftlichen Liebe im Sinne der „philia“, der Freundschaftsliebe, verbinden wird. Auf dieser doppelten natürlichen Basis baut die Gnade der spirituellen, schenkenden Liebe („agape“, lat. „caritas“) auf. Diese Liebe aus der Geisteskraft Gottes trägt in sich eine grenzenlose Dynamik: von der ekstatischen Liebe der Geschlechter über die Liebe zum Hilfsbedürftigen bis zu jener Liebe, die sich einsetzt für Gerechtigkeit und Frieden – und sich bis zur Feindesliebe, ja, bis zur Preisgabe des Lebens steigert. Die göttliche Liebe integriert alles wahrhaft Menschliche und übersteigt, ver-rückt unsere menschlichen Maßstäbe. Dabei bestätigt sich, was der junge Novalis nach dem frühen Tod seiner geliebten Sophie schrieb: „Die Liebe ist der Endzweck des Universums und das Amen der Geschichte.“

Matthias Grünewald (1480–1530): Christi Geburt, Isenheimer Altar, zweite Schauseite Mittelbild, Musée d’Unterlinden, Colmar

Foto: © Jörgens.mi, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48730918

Der Text erschien im Weihnachtsmagazin der Zeitungsgruppe Landshuter Zeitung / Straubinger Tagblatt.

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