Ein Interview mit dem Nahost-Experten P. Christian Rutishauser SJ über den Krieg im Nahen Osten, Traumata auf allen Seiten und die Frage, ob Brücken zwischen den Beteiligten jemals wieder möglich sein werden.
Pater Rutishauser, am 21. Juni haben die USA in den Krieg Israels mit dem Iran eingegriffen. Was bedeutet das für den weiteren Verlauf des Konflikts?
Ich hoffe, dass es bei einem einmaligen Schlag gegen die Infrastruktur der Atomanreicherung bleibt. Nun ist ein Zurück an den Verhandlungstisch für alle Beteiligten unerlässlich.
Sind nach dem, was in den letzten Jahrzehnten im Nahen Osten geschehen ist und was jetzt geschieht, Brücken zwischen den Beteiligten überhaupt noch möglich?
Es braucht viele Brücken zwischen vielen verschiedenen Gruppen: eine Brücke zwischen säkularen und religiösen Israelis, eine hin zu den arabischen Israelis, zwischen Israelis und Palästinensern, dann Brücken zu den umliegenden Staaten, auch zum Iran. Nur zu Terroristen wie den Hamas kann man keine Brücken bauen.
Das klingt nach einem sehr komplizierten Bauwerk. Gibt es dafür einen Bauplan?
Es werden gerade durch den Krieg Fakten geschaffen. Der Krieg macht tabula rasa in vielerlei Hinsicht. Wir werden sehen, was danach möglich ist.
Wer sind die Akteure, die sich an neue Brücken machen könnten?
Zum einen ist da natürlich Israel. Der Regierung geht es jetzt darum, all jene auszuschalten, die Israel vernichten wollen: Hamas, Hisbollah, Iran. Man will das Momentum nutzen, um den Feind ein für alle Mal auszuschalten. Ob diese Rechnung aufgeht? Da gibt es viele Fragezeichen. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Wichtiger ist, dass Israel einerseits die seit Jahrzehnten ungelöste Kernfrage beantwortet: Wie gehen wir mit den Palästinensern in Israel, in Gaza, im Westjordanland um? Andererseits ruft die außenpolitische Frage, allem voran das Verhältnis zum Iran. Ich denke an die arabischen Staaten, die den Iran kleinhalten und mit Israel kooperieren wollen. Die Ausweitung der Abraham-Abkommen stand vor dem 7. Oktober kurz vor dem Abschluss. Mit dem Weiterbau dieser Brücke dürfte man rasch beginnen, um im Bild zu bleiben.
Wie baut man nach dem, was geschehen ist, neue Brücken?
Es braucht politisch tragfähige Abkommen. Dann braucht es in allen beteiligten Ländern Rechtsstaatlichkeit. Dabei müssen nicht alle Länder Demokratien sein. Es gibt auch andere politische Formen. Da muss gerade der Westen umdenken. Als Nächstes kommt die Wirtschaft, das unterschätzen wir manchmal. Die Brücken werden nur tragen, wenn die Menschen auf allen Seiten auch wirtschaftlich profitieren. Pragmatische Handelsverträge zwischen den Staaten sind sehr hilfreich. Es braucht vor allem zivilgesellschaftliche Strukturen und gute Bildung und Ausbildung für junge Menschen. Sinnvolle Betätigung und Eigenverantwortung für ein Gemeinwesen sind entscheidend. Dies alles muss nach dieser Gewaltphase begleitet sein von Prozessen der Verständigung, der Aufarbeitung, der Aussöhnung.
Wie kann solche Verständigung funktionieren?
Demütigungen und Traumata gibt es auf allen Seiten. Es wird Jahrzehnte brauchen, sie zu bewältigen. Dazu braucht es auch externe Hilfe.
Wer kann hier helfen?
Politische Akteure können Rahmenbedingungen schaffen und Finanzen bereitstellen. Es braucht zivile Organisationen, im Vorderen Orient aber gerade auch die Religionsgemeinschaften. Wir wissen, welch wichtige Rolle religiöse Feiern und Rituale spielen, wenn es um die Bewältigung von Traumata geht. Intakte Religionstraditionen sind aber nicht nur für die einzelnen Gläubigen nach innen wichtig, um zu heilen und kollektive Identität zu stiften. Ihre Autoritäten und Führer müssen darüber hinaus bereit sein, Brücken auf andere Glaubensgemeinschaften hin zu schlagen.
Gibt es noch interreligiöse Formate in der Region, die sich um Austausch und Versöhnung bemühen?
Mit dem 7. Oktober sind fast alle diese Initiativen zusammengebrochen. Es gibt nur wenige religiöse Führer in der Region, die fähig und anerkannt sind, um solche Initiativen zu ergreifen. Aber es gibt sie. Ich kenne Ordensleute, denen ich so etwas zutraue, auch dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa.
Wie wird es weitergehen, wagen Sie eine Prognose?
Schwierig. Im Augenblick ist die Frage, ob es im Iran zu einem Regimewechsel kommt. Wie würde eine neue Regierung aussehen? Und wie geht es in Gaza weiter? Hat Israel den Mut, die jüdisch-national-religiösen Hardliner zu entmachten und zur Rechenschaft zu ziehen?
Welche Perspektive sehen Sie für Israel und Palästina?
Es wird in absehbarer Zeit keine Zwei-Staaten-Lösung mehr geben. Ich erwarte die Oberhoheit Israels über alle palästinensischen Gebiete, also einen erweiterten israelischen Staat Israel als Sicherheitsmacht. Doch Israel muss dann auch endlich die Palästinenserfrage lösen.
Inwiefern?
Die Vertreibung der Palästinenser, wie sie in einigen Köpfen herumschwirrt, ist keine Lösung. Israelis müssen sich entscheiden, was für einen Staat sie haben wollen. Auch wenn der Staat jüdisch geprägt ist, müssen Palästinenser als vollwertige Bürger behandeln werden. Israel hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, wie dies möglich ist. Es braucht zudem föderale Strukturen, sodass in der Westbank und in Gaza eine innenpolitische Autonomie für Palästinenser möglich ist. Der Zionismus muss sich wandeln und an eine neue Situation anpassen. Sie sehen: Ich träume, doch nur eine solche Perspektive sehe ich im Augenblick gangbar.
Haben Sie Hoffnung in der gegenwärtigen Situation?
Der Krieg ist desaströs für alle, auch für Israel. Antisemitismus scheint auch unausrottbar zu sein. Dennoch wollen die meisten Menschen ohne Gewalt leben. Ich hoffe – trotzdem, würde Eli Wiesel sagen.
Interview: Gerd Henghuber