Das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker bestimmt die Tagesordnung deutscher Bischöfe. Es drängt sich der Verdacht auf, "dass das Amtsverständnis, die priesterliche Lebensform und die Sexualethik" den sexuellen Gewalttaten ein nährendes Umfeld boten, schreibt Godehard Brüntrup SJ in seinem Editorial in der aktuellen Juni-Ausgabe der "Stimmen der Zeit". Der Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie München erkennt aber auch die Offenheit der Bischöfe im Diskurs zum Missbrauch an. In Lingen beobachtete er ein "ernsthaftes Ringen um Lösungen".
Ein nicht mehr ganz junger Mann bewirbt sich für das Priesterseminar. Seit seiner Jugend spürt er die Berufung zum Priestertum. Die Frage lässt ihn nicht los. Nach Jahren entscheidet er sich schließlich zu dem Wagnis und klopft beim Seminar an. In den Aufnahmegesprächen stellt sich heraus, dass er über längere Zeit eine intime Liebesbeziehung mit einer Frau hatte. Wie soll die Kirche diesen Teil seiner Biografie bewerten? Die meisten der Missbrauchstäter gehören dem sexuell unreifen und beziehungsschwachen Typus an, der seine eigenen Bedürfnisse nicht altersgemäß zu artikulieren weiß. Sollte man auf diesem Hintergrund froh sein, dass er die Erfahrungen der Partnerschaft in seine Biografie integriert hat? Oder sollte man diese Zeit eher als eine Periode moralischer Dunkelheit betrachten, welche Skepsis aufkommen lässt, ob der Kandidat wirklich geeignet ist? Die meisten Zeitgenossen hätten wohl keine moralischen Probleme mit der Lebensgeschichte des Kandidaten. Würde sich ihre Einschätzung ändern, wenn der junge Mann in einer homosexuellen Beziehung gelebt hätte? Eher nicht. Nimmt man die kirchliche Sexualmoral als Maßstab, so befand er sich in beiden Szenarien dauerhaft im Zustand schwerer Sünde.
Kann die Kirche hier Kompromisse eingehen mit dem moralischen Empfinden der säkularen Welt und auch eines großen Teils ihrer eigenen Mitglieder? Oder muss sie um den Preis der Isolation ihrer Tradition treu bleiben: Auch wenn sie dann eine kleine "Stadt auf dem Berge" sein wird und nicht mehr ein "Sauerteig", der sich im sittlichen Empfinden des Volkes zugleich auflöst und es verändert? Und wo sind die Grenzen zwischen dem unveränderlichen Glaubensfundament und den veränderbaren Auf- und Anbauten?
Diese Fragen sind nicht neu. Aber sie stellen sich angesichts der Missbrauchskrise plötzlich mit für die Kirche existentieller Dringlichkeit. Der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker erschüttert die Kirche in ihren Grundfesten, gerade weil sich seit der großen Studie des letzten Jahres mit aller Deutlichkeit der Verdacht aufdrängt, dass das Amtsverständnis, die priesterliche Lebensform und die Sexualethik nicht neutral waren, sondern den sexuellen Gewalttaten ein nährendes Umfeld boten. Deshalb gingen die Bischöfe auf ihrer Frühjahrsversammlung genau diesen Fragen nach. Sie taten das in einer bemerkenswerten Offenheit, weil sie neben kritischen Referenten und Referentinnen aus der Theologie noch andere Gäste eingeladen hatten, denen volles Rederecht eingeräumt wurde. Der Autor dieser Zeilen war einer dieser Gäste. Der Mut, mit dem dann im Plenum und in den Arbeitsgruppen Klartext geredet wurde, war beeindruckend. Das entspricht nicht dem vorgefassten Bild, das viele von den Bischöfen zeichnen. Das beliebte Einschlagen auf die Bischöfe ist zu einem Reflex geworden, der aus der Wut verständlich, in der Sache aber wenig hilfreich ist. Ein aufrichtiges Anerkennen der Probleme und ein ernsthaftes Ringen um Lösungen waren in Lingen mit Händen zu greifen. Hatten 2010 nicht wenige Würdenträger den Schuss nicht gehört, so gab sich 2019 wohl keiner mehr der Hoffnung hin, die durch die Missbrauchskrise aufgeworfenen Fragen ließen sich durch einige administrative Anpassungen und Reförmchen beruhigen.
Die beklemmende Ratlosigkeit, die im Raume lag, war nur das Gegenstück zur Anerkennung der Tiefe und Dramatik der Problemlage. Es geht eben nicht um Reformen, sondern um nichts anderes als um eine Strukturkrise. Die katholische Sexualethik, das Amtsverständnis, der Zölibat und die Stellung der Frau in der Kirche lassen sich nicht durch ein Aggiornamento oder ein Update reformieren. Sie sind in ihrer Summe ein fest verfügtes Lehrgebäude. Zieht man hier an zwei, drei Stellen Bausteine heraus, gerät das ganze Bauwerk ins Rutschen. Die Krisensituation der Kirche am Anfang des 21. Jahrhunderts ist daher wahrhaft historisch. Das ist auch vielen deutschen Bischöfen klar. Deshalb wollen sie sich auch mehrheitlich dieser Herausforderung stellen.
Der synodale Weg ist ein etwas hilfloser Versuch, in die ungewisse Zukunft der Kirche gemeinsam fragend und suchend zu gehen. Genau diese Ergebnisoffenheit ist für eine einflussreiche Minderheit innerhalb der Bischofskonferenz ein Grund zur Sorge. Auf diese Gruppe medial einzuprügeln nützt nichts. Im Gegenteil: Ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Sie sind zitternde Seismografen für die Beben und tektonischen Verschiebungen, die auf die Kirche unausweichlich zukommen. Sie befürchten, dass eben nicht nur An- und Aufbauten, sondern das Fundament des Lehrgebäudes ins Wanken gerate. Diese Furcht ist wohlbegründet. Aber die Reaktion auf diese Einsicht kann gerade nicht einfach nur das tragisch-heroische Schließen der Wagenburg sein. Wir kommen um den offenen Dialog, der nicht alles, aber doch sehr vieles infrage stellt, nicht herum. Wenn eine Weste irgendwo falsch zugeknöpft ist, muss man sie bis unten aufmachen. Es fragt sich nur, wie weit unten der Fehler anfängt.