Die eine und gespaltene Kirche

Aus Anlass der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe (31.8. bis 8.9.2022) legt die aktuelle Ausgabe von „Stimmen der Zeit“ einen Schwerpunkt auf Fragen der Ökumene. P. Stefan Kiechle SJ befasst sich im Editorial mit den Spaltungen in der einen Kirche Jesu Christi befasst - und erklärt, wieso dahinter viel mehr Einheit steht, als gemeinhin wahrgenommen.

Durch die eine Taufe gehören Christgläubige der einen Kirche Jesu Christi an. Im Glauben an Christus sind alle eins. Und doch gibt es zahlreiche Spaltungen in der Christenheit. Wo stehen wir auf dem Weg zur Einheit? Auf drei Ebenen, so der Eindruck, gibt es Spaltungen:

Zunächst Spaltungen in der Lehre: Viele davon sind alt und waren Ursachen für Schismen. Es ist eine intellektuelle Arbeit, theologisch um Einigungen zu ringen. Oft können gegenseitige Verwerfungen in der Geschichte vor allem als Folge kultureller Unterschiede oder als Missverständnisse aufgelöst werden. Bisweilen braucht es auch neue Offenheit für ein gewisses Maß an Pluralität in der Lehre. Die Unterschiede sind historisch gewachsen und können sich daher auch historisch weiterentwickeln. Viele dieser Spaltungen gelten in theologischen Konsensdokumenten als überwunden, andere gelten als bleibende Hemmnisse, wieder andere gelten heute – bei ganz anderen theologischen Herausforderungen – als irrelevant. Kommen auch neue hinzu? Patriarch Kyrill I. weicht in seiner Haltung zum Krieg so sehr vom Konsens einer nicht nur westlichen christlichen Friedensethik ab, dass sich hier neue Spaltungen zeigen.

Sodann Spaltungen, die man „strukturell“ nennen könnte: Da werden Ämter mit ihren jeweiligen Vollmachten von anderen nicht anerkannt, auch nicht Jurisdiktionen anderer Konfessionen und die von einigen Kirchen beanspruchten Lehr- und Jurisdiktionshoheiten. Folglich gelten auch, zumindest teilweise, die Sakramente als ungültig. Verbunden ist diese Spaltung leider auch mit der Geschlechterfrage: Würde die katholische Kirche Frauen ordinieren, wie von anderen Kirchen inzwischen praktiziert und vielerorts dringlich gefordert, wäre die Spaltung zur Orthodoxie vertieft.

Schließlich Spaltungen, die am besten als „spirituell“ zu bezeichnen sind: Einerseits das Kirchenverständnis und -gefühl von charismatisch-evangelikalen Christen, andererseits jenes von intellektuell-kritischen Christen; oder jenes von Katholiken, die die alte Messe oder die traditionelle Sexualmoral schätzen, und jenes von Christen, die sich für die Rechte queerer Menschen engagieren; oder jenes von großbürgerlichen Christen Europas und jenes von Baptisten in den Slums von Bogota – sind sie nicht so grundlegend verschieden, dass kaum mehr ein Dialog möglich ist und man daher von „Spaltungen“ reden muss? Diese Spaltungen liegen oft quer zu klassischen Konfessionsgrenzen. Auf dem synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland wird immerhin gesprochen – in anderen Ländern, etwa in Frankreich oder in den USA, ist die Kommunikation zwischen den „Lagern“ weitgehend abgebrochen. Spirituell gespalten ist die Kirche immer dann, wenn eine Gruppierung für sich den Geist reklamiert und ihn der anderen abspricht.

Die Medien und damit die säkulare Öffentlichkeit sehen wohl vor allem die Uneinigkeit der kirchlichen Institutionen. Hinter dieser Außensicht gibt es jedoch – so mein Eindruck – einerseits viel mehr Einheit, als wahrgenommen wird: eben in der einen Taufe und im Leben aus der Schrift, im Glauben an die Erlösung durch Christus und im Gebet zu ihm, im Engagement für Gerechtigkeit und Frieden und im Einsatz für Arme und Vertriebene, nicht zuletzt in der Bereitschaft, für den Glauben Verfolgung und Martyrium zu ertragen. Andererseits gibt es mehr Spaltung, als wahrgenommen wird: eben in einseitigen und untereinander quasi inkompatiblen Kirchentümern, im Anspruch einiger Kirchen zu definieren, was wahre Kirche sei und dies anderen Kirchen zu- oder abzusprechen, in bisweilen autoritären politischen Optionen kirchlicher Gruppen, auch in der internen Gewalt in der Kirche und in der Unfähigkeit, diese zu sehen und zu bekämpfen, schließlich im mangelnden Willen einiger, offen zu kommunizieren, etwa über Fragen, welches Christentum evangeliumsgemäß sei.

Kirche ist immer zugleich irdische, oft recht weltliche Institution und himmlische, reichlich spirituelle Gemeinschaft. Diese Doppelung macht sie so unverständlich und unfassbar, so ambivalent und angreifbar, aber auch so geheimnisvoll und faszinierend. Die Doppelung ist übertragen die der beiden Naturen Christi: Himmlisches inkarniert sich zu Irdischem. Könnte man hier nicht weiterarbeiten, theologisch und spirituell und auch „institutionell“?

Nur eine geeinte Kirche verkündet im Sinne des Evangeliums glaubwürdig und wirksam das Reich Gottes. Diese Einheit ist nicht eine vorwiegend institutionelle – das wäre die katholische Versuchung – und ebenso wenig eine vorwiegend spirituelle – vielleicht die evangelische und auch die orthodoxe Versuchung. Zur Einheit gehört – ein vielfach verbreiteter Ausdruck – versöhnte Verschiedenheit. Anzufügen ist aber in diesen zerrissenen Zeiten, dass die geeinte Kirche sich dann doch von Kirchen, die eindeutig dem Evangelium widersprechen – der Blick geht derzeit nach Russland – distanzieren muss. Spaltungen, das ist vorausgesagt, wird es auf dem Weg zur Einheit bleibend geben.

Zur aktuellen Ausgabe der Stimmen der Zeit

Zur Person:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

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