Der Jesuiten-Provinzial Bernhard Bürgler SJ besuchte vom 9. - 14. Februar 2023 die Ukraine und Polen. Er wurde von Christian Marte SJ, Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck, begleitet.
Was war das Ziel Ihrer Reise?
Ziel der Reise war, ein Zeichen der Solidarität zu setzen und weitere Hilfsaktionen zu planen. Das Hören auf die persönlichen Erfahrungen von Betroffenen des Krieges in der Ukraine stärkt Opfer und Helfer. Es schärft auch das eigene Urteilsvermögen in einer sehr schwierigen Situation.
Was war Ihr stärkster Eindruck?
Mein stärkster Eindruck ist die Zuversicht und das Gottvertrauen der Menschen in der Ukraine. Sie glauben daran, dass Gerechtigkeit und Friede stärker sind als Hass und Tod. Jede Familie in der Ukraine ist vom Krieg betroffen. Wir haben an einem Requiem für vier junge tote Soldaten in der ehemaligen Jesuitenkirche in Lemberg teilgenommen. Das sind erschütternde Momente für alle, besonders für die Angehörigen. Der alte Friedhof von Lemberg hat mittlerweile ein großes Feld frischer Gräber junger Menschen, die im Krieg getötet wurden.
Lemberg (Lviv) liegt im Westen der Ukraine. Ist der Krieg auch dort spürbar?
Wir wurden an einem Tag drei Mal durch Sirenen vor Luftangriffen gewarnt. Am Stadtrand waren sechs Explosionen zu hören. Raketen auf eine Großstadt! Luftangriffe gibt es immer wieder. Die Luftschutzkeller sind mit Sandsäcken geschützt. Vor den Häusern sieht man überall Diesel-Generatoren.
Was macht diese Situation mit den Menschen in Lemberg?
Die Unsicherheit und Bedrohung ist eine große Belastung für die Bevölkerung, besonders auch für Kinder und alte Menschen. Es wird langfristig eine große Aufgabe sein, diese Traumatisierungen aufzuarbeiten. Die Jesuiten in Lemberg sind schon dabei, die Menschen seelsorglich zu unterstützen. Sie planen auch weitere Programme dafür. Zugleich merkt man den großen Zusammenhalt der Bevölkerung und das Engagement der Zivilgesellschaft.
Zur Zivilgesellschaft zählen auch die Kirchen. Welche Rolle spielen die Kirchen heute in der Ukraine?
Es gibt mehrere christliche Konfessionen in der Ukraine, die alle über Strukturen verfügen und in der Bevölkerung verankert sind. Besonders nennen möchte ich die griechisch-katholische Kirche, die römisch-katholische Kirche sowie die orthodoxen und evangelischen Kirchen. Sie unterstützen die Menschen materiell, aber mehr noch stärken sie die Seelen, indem sie Hoffnung und Zuversicht lebendig halten. Die Kirchen spenden Trost, gerade auch durch die gemeinsame Liturgie. Der christliche Glaube ist für viele Menschen der wichtigste Anker der Hoffnung. Die Kirchen sind ein Netzwerk der Liebe in jedem Ort der Ukraine.
Auch der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (Jesuit Refugee Service, JRS) ist in der Ukraine aktiv. Was sind seine Schwerpunkte?
Lemberg hatte vor dem Krieg 750.000 Einwohner. Jetzt gibt es viele Vertriebene aus der Ostukraine, sodass die Stadt über eine Million Einwohner hat. Beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst kümmert man sich um Wohnraum - das ist ein sehr großes Problem. In Lemberg leitet der JRS zwei Flüchtlings-Unterkünfte, vor allem für Frauen und Kinder. Aber auch in den Nachbarländern, besonders in Polen, unterstützt der JRS Vertriebene durch Unterkünfte, Sozialberatung, psychologische Hilfe und Bildungsprogramme. Dabei sind es vor allem geflüchtete Frauen aus der Ukraine, die in Polen für den JRS arbeiten.
Wie schätzen Sie die politische Situation ein?
In Zentral-Europa und im Baltikum hat man die Brisanz der Situation 2014 erkannt. In West-Europa haben wir die Situation lange nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Das ändert sich nun. Ich finde es wichtig, dass sich auch Bischöfe und Verantwortliche der Orden persönlich ein Bild von der Situation in der Ukraine machen. Es geht darum, dass wir den Menschen dort begegnen und ihnen zuhören. So findet man zu einer realistischen Einschätzung der Lage und kommt weg von oberflächlichen Beurteilungen aus der Ferne.
Was können wir in unseren Ländern heute tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen?
Zuerst einmal Beten - um Stärkung der Menschen, um ein Schweigen der Waffen und einen gerechten Frieden. So halten wir auch innerlich Verbindung zu den Menschen in der Ukraine und geben ein Zeichen der christlichen Solidarität. Dann braucht es auch materielle Hilfe in der Ukraine. Dafür gibt es gute Projekte des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, der Caritas und anderer Hilfsorganisationen. Und schließlich geht es um die Unterstützung der Ukrainerinnen und Ukrainer, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie brauchen nicht nur Wohnung und Arbeit, sondern unsere persönliche Aufmerksamkeit und Zuwendung.