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„Ein normales Leben ist in Syrien nicht möglich.“

Durch den Krieg in der Ukraine und die Millionen ukrainischer Flüchtlinge ist die Situation der Menschen in Syrien in der medialen Wahrnehmung in den Hintergrund getreten. In Homs leben fünf Jesuiten und versuchen, jungen Menschen Perspektiven zu vermitteln. Einer von ihnen ist der Österreicher Gerald Baumgartner. Er bekommt die Tragik der vom Krieg zerstörten Stadt und der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation hautnah mit. Ein Anruf in Syrien.

Hallo Frater Baumgartner, wie geht es Ihnen?

Ich bin ein bisschen erschöpft, ich war den ganzen Sommer über in Sommerlagen. Wir haben an zwei Zentren 1.500 Schüler und Studenten und fahren mit jeder Klasse 5 bis 6 Tage ins Sommerlager, das schlaucht dann schon.

Wie kann man sich so ein Sommerlager im Bürgerkriegsland Syrien vorstellen?

Einerseits wie ein Sommerlager woanders auch. Beim letzten Lager in einem Dorf in der Nähe von Homs waren wir vierzig Leute, wir haben in Zelten geschlafen und tagsüber gemeinsam Aktivitäten unternommen: Uns ist es wichtig, dass wir uns dabei für die Menschen vor Ort engagieren. Die Jugendlichen sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen für das Land und die Gesellschaft. Wir waren an Grundschulen, haben alte, einsame Menschen besucht und mit ihnen geplaudert. Wir haben mit Waisenkindern gespielt und im Krieg zerstörte Gebäude renoviert. Eingebettet ist das in eine geistliche Begleitung mit ignatianischen Elementen. Das sind für alle sehr schöne Erfahrungen, und ich hoffe, dass das dazu beträgt, dass die jungen Leute einen eigenen, verantwortungsvollen Weg finden für sich im Leben.

Auf der anderen Seite kämpfen wir natürlich auch bei den Sommerlagern mit den sehr widrigen Verhältnissen hier in Syrien. Das fängt bei der Wasserversorgung an, die auf dem Land noch schlechter ist als in der Stadt, geht über das Budget, das die Familien selten aufbringen können, und endet nicht bei der Verpflegung: alle Schüller mussten Brot für zwei Tage mitbringen, danach hieß es: kreativ sein.

Beschreiben Sie bitte die Verhältnisse, wie ist aktuell das Leben in Syrien?

Das tägliche Leben ist sehr schwierig. Elektrizität gibt es meist nur für eine halbe Stunde, dann wieder fünf bis sechs Stunden nicht. Im Sommer kommt man da schon irgendwie zurecht, aber im Winter wird es übel, die Winter sind hier kalt und nass, die Häuser sind nicht gedämmt. Im vergangenen Winter schlief ich mit vier Decken in einem eiskalten Zimmer, geduscht wurde mit meist eiskaltem Wasser. Als Heizung gibt es in den meisten Wohnungen nur Elektrostrahler oder Heizdiesel. Die werden trotz der Abgase auch in bewohnten Räumen betrieben – wenn man überhaupt Diesel bekommt. Für 10 Liter muss man zwei bis drei Stunden anstehen und dann 70.000 Lira hinlegen, umgerechnet 20 Euro. Das ist hier ein Monatsgehalt! Wenn der Strom kommt, drehen alle sofort ihre Heizelemente an, das System wird überlastet, und es kommt zum nächsten Stromausfall. Neulich ist deshalb in der Nähe eine Verteilerstation explodiert. Mit der Wasserversorgung ist es genauso: alle drei Tage gibt es Wasser für ein paar Stunden, die man nutzen muss, um die Tanks aufzufüllen. Lebensmittel sind subventioniert, aber nur in sehr begrenzten Mengen. Es gibt natürlich einen riesigen Schwarzmarkt, aber zu Preisen, die sich kaum jemand leisten kann. Katastrophal ist auch die medizinische Versorgung vor Ort. Wer Krebs hat, stirbt.

Wie muss man sich die Umgebung vorstellen, in der Sie leben?

Vor dem Krieg sollen in Homs 800.000 Menschen gelebt haben, jetzt sind es angeblich noch zwischen 500.000 und 600.000. Das glaube ich aber nicht, angesichts der riesigen Viertel, die in Trümmern liegen und völlig unbewohnbar sind. Homs wurde in diesem Krieg sehr stark zerstört, es gab schlimme Massaker. Diese Erfahrung sitzt bei den Menschen sehr tief, auch bei den Jugendlichen.

Können Sie das genauer beschreiben?

Die 25jährigen die jetzt die Universität abschließen, waren 15 als der Krieg begann, sie haben diese sehr prägenden Jahren ihres Lebens nicht anders erlebt als einen zehnjährigen Überlebenskampf. Ich kenne die Geschichte eines 17jährigen, der auf dem Balkon der elterlichen Wohnung saß und für die Schule lernte, als auf dem Balkon direkt daneben jemand erschossen wurde. Die Kinder sind jahrelang nur durch Straßen gegangen, die durch Planen abgedeckt waren, weil sonst die Gefahr bestanden hätte, dass Sniper auf sie zielen. Jetzt ist der Krieg zwar vorbei, dafür ist die wirtschaftliche Situation noch schlechter, Krieg ist ja immer auch ein Konjunkturprogramm, so pervers das klingt. Jetzt sind die Ressourcen des Landes aufgezehrt, die Reserven, die im Libanon lagen, sind von der dortigen Bankenkrise vernichtet, die amerikanischen und europäischen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien treffen de facto die Menschen, die nichts mehr haben, und ohne die Lebensmittel-Programme der UNO würden viele Menschen schlicht verhungern.

Wie geht man als Seelsorger mit einer solch desaströsen Situation um.

Das ist schon sehr schwierig. Wir wollen die jungen Menschen zu Verantwortung für ihr Land erziehen. Dabei gibt es in diesem Land für die meisten überhaupt keine Lebens-, keine Sinnperspektive. Die Menschen wollen ja nicht viel: eine Familie, zwei Kinder, nicht erschossen werden, nicht verhungern. Das ist in Syrien nicht möglich. Insofern verstehe ich, dass alle unsere Absolventen nach der Schule ausreisen wollen. Vor allem die jungen Männer, denen sonst acht bis zehn Jahre Militärdienst droht.

Was können Sie den jungen Menschen anbieten?

Wir bieten in unserem Kloster einen Ort, wo alle, die zu uns kommen, durchatmen können, wo Frieden herrscht. Und wir wollen wenigstens innerhalb unserer vier Wände so etwas wie einen Rechtsstaat sicherstellen: mit fairen, nachvollziehbaren Regeln, die für alle gleich gelten. Es gibt keine Extrawürste für die Jesuiten. Wir bieten einen sicheren Raum, an dem man sich nicht verstellen muss, an dem offen geredet, diskutiert, kritisiert wird. Wir hören zu und nehmen in den Arm, versuchen zu helfen und zu versöhnen und damit, wenigstens an diesem Ort etwas Hoffnung und Perspektive geben.

Kommen auch Muslime zu Ihnen?

Ins Kulturzentrum, wo wir Veranstaltungen zu Kunst, Malerei, Musik, Poesie anbieten, kann jeder kommen. Aber zu allem, was irgendwie mit Spiritualität zu tun hat, nehmen wir nur Christen auf. Es kommen aber Christen aller Konfessionen zu uns, römisch-katholische Familien gibt es ohnehin nur drei in der Stadt. Dass die Menschen trotz all ihrer Not und ihrer Bedrängnis ihren christlichen Glauben nicht verlieren und darin Halt und Trost finden, daraus schöpfe ich immer wieder Kraft.

Interview: Gerd Henghuber

Mehr erfahren Sie über Fr. Baumgartner auch in diesem Artikel.

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Nach zehn Jahren Bürgerkrieg droht Syrien eine ganze Generation zu verlieren: Sechs Millionen Schülerinnen und Schüler zwischen 5 und 17 Jahren haben keinen regelmäßigen Unterricht, zwei Millionen besuchen überhaupt keine Schule. Unzählige Kinder und Jugendliche, viele von ihnen Binnenvertriebene, sind schwer traumatisiert. Nachbarschaftszentren des Jesuiten-Flücht­lings­dienst geben ihnen Halt und Perspektive.

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