«Einsamkeit erweckt zum Leben – Isolation tötet»*

In diesen verrückten Monaten der Pandemie werden wir nicht alle gleich von den verordneten Massnahmen getroffen. Neben Notsituationen wegen fehlenden Einkünften erfahren Viele erdrückende Einsamkeit. Welche Möglichkeiten haben wir, Verbundenheit mit anderen zu leben und selbst in einer nicht gewählten Einsamkeit auch Chancen zu entdecken? Luis Espinal SJ, der am 4. Februar 89 Jahre alt wäre, führt mich zu einem Gebet.

«Wenn Du der Einsamkeit begegnest, hab keine Angst. Es ist die beste Gelegenheit, mit sich selbst Freundschaft zu schliessen.» Dürfen wir einander diesen Ausspruch – Autor unbekannt – zurufen? 

Ich wäre da mal sehr vorsichtig, auch wenn ich darin eine hilfreiche Haltung finde. 

Welchen psychischen Stress Einsamkeit auslösen kann, sehe ich bei Menschen, die auch noch von Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder fehlender Beheimatung betroffen sind. Allen gemeinsam ist die Erfahrung der Isolation, welche unter den Bedingungen der Corona-Massnahmen um ein Vielfaches schlimmer wirkt.

Wer in einem Krankenhaus oder Pflegeheim wohnt, kann sich nicht beliebig mit anderen Menschen treffen und ist auf die internen Kontakte und auf Besuche von Verwandten, Freundinnen und Freunde angewiesen – wenn dies denn erlaubt ist. Zurzeit werden Spitäler und Reha-Häuser rigoros abgesperrt. Besonders schlimm trifft es Menschen, die durch einen Schlaganfall oder eine Verletzung die Sprache verloren haben, also per Telefon nicht kommunizieren können.

Wer die Heimat zurücklassen musste und in der Fremde lebt, erlebt zuweilen ähnliche Situationen. In vielen Asylunterkünften gibt es kaum Privatsphäre und deshalb auch kaum Möglichkeiten, Besuche zu empfangen. Noch schlimmer ist es in Nothilfelagern, so genannten Rückkehrzentren oder in Ausschaffungsgefängnissen. Im Unterschied zur Haft im Strafvollzug, der auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft angelegt ist, bedeutet Ausschaffungshaft neben der gewaltsamen Ausschaffung die schärfste Zwangsmassnahme gegen Asylsuchende. Die Betroffenen wissen nicht, wie lange ihr Gefängnisaufenthalt noch dauert. Sie befinden sich in einer Situation ohne jede Selbstbestimmung und erst noch in der Fremde. Oft verstehen sie nur sehr begrenzt, was das Gefängnispersonal von ihnen will, und können sich nur schlecht ausdrücken. Sie haben keine Verwandten und Freunde, die sie besuchen. Oft wagen sie es nicht einmal, ihren Verwandten mitzuteilen, dass sie im fremden Land in einem Gefängnis sitzen. Sie bleiben mit all ihren Ängsten, Bedürfnissen und Wünschen allein. 

Zur Isolation kommen noch Angst und Scham. Und mit der Corona-Pandemie kommt nun noch die Angst, einsam und verloren irgendwo von seinen Lieben vergessen zu sterben. Bei einem meiner wöchentlich zwei Besuchen in einer Notunterkunft im Kanton Zürich wurde mir Mitte Januar Folgendes anvertraut: 

«Dass ich seit meiner Flucht aus Afghanistan meine Familie nicht gesehen habe, meinen kranken Vater, meine Geschwister, das ist schlimm. Ich bin hier in einem fremden Land. Und ohne Bewilligung hier ist es ja noch schwieriger. Du weisst, wir können ja auch nicht einfach so zu einem Arzt gehen. Wir müssen immer jemandem vom ORS- Betreuungspersonal sagen, wenn wir krank sind und müssen dann warten, bis der Arzt vorbei kommt. Am schlimmsten aber ist es, wenn du krank wirst und du niemanden hast, der zu dir schaut. Als ich Corona hatte und nicht wusste, wie es ausgeht, da war ich wirklich, wirklich allein und verlassen.» 

Die in der Isolation erlebte Krankheit ist für die meisten eine Extremerfahrung. Allein und auf sich selbst gestellt und doch nicht in der Lage zu sein, für sich selbst zu sorgen, würde wohl auch ich als grosse psychische Belastung erfahren. Ob ich sie als spirituelle Herausforderung annehmen könnte? 

Vor einigen Jahren sagte mir ein abgewiesener Asylsuchender aus Togo, als ich ihn nach zwei Monaten Haft endlich wieder einmal sehen durfte: 

«Weisst du, als mich die Polizisten vor den Augen aller Leute vom Claraplatz (in Basel) abführten, betete ich zu Gott: Jesus, gell du bist mir jetzt nicht böse, gell, ich darf auf dich zählen? Du hast das ja auch erlebt. Dir ging es noch schlimmer.» 

Welchen Zugang finde ich, wenn ich am Ende bin? Wenn ich mich abgeschnitten und isoliert vom Leben erfahre? Die Selbstverständlichkeit, mit Gott im Gespräch Kraft und Mut zu finden, ist nicht einfach immer da. Mir ist sehr bewusst, dass es viele Menschen gibt, die sich in ihren schwersten Stunden nicht so einfach Gott und seinem Schutz anvertrauen können. Und doch wünsche ich uns allen, dass wir Erfahrungen von Einsamkeit möglichst wenig als Stress, sondern viel eher als Gelegenheit erfassen, eine neue, tiefer verwurzelte Haltung zum Leben zu finden – vielleicht ähnlich wie Luis Espinal SJ, entführt, gefoltert und ermordet am 22. März 1980. Seine Suche hat er  in folgendem Gebet zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere ihn heute, am 4. Februar gerne, am Tag, an dem sich sein 89. Geburtstag jährt: 

Gottes Schweigen

Die Welt funktioniert auch ohne Gott.
Und Gott verharrt im Schweigen,
und verteidigt sich nicht, wenn sie ihn beleidigen,
noch schmettert er seine Blitze, wenn sie ihn leugnen.

Alles ist im Schweigen,
aber es ist eine feindliche Stille.
Und wenn wir beten wollen,
entsteht kein Dialog,
nur das Heulen des Windes
in einem zerfallenen Haus.

Aber Gott hört unsere Angst,
auch wenn er weit weg scheint.

Gott des Schweigens,
wir bieten dir die Einsamkeit an,
unsere absolute Einsamkeit,
wo selbst du abwesend bist.
Wir haben nichts Vertrauteres, noch was mehr unser wäre.
Dir bieten wir unsere Endlichkeit an,
die Wurzeln unseres Seins.
Dir bieten wir die Angst an, Mensch zu sein.

Lass uns nicht in der Verzweiflung aufgehen,
auch wenn unser Inneres sich verhärtet
wie Stein,
und wir den Hauch der Verworfenheit spüren.
Gott, der du dich kümmerst um die Lilien des Feldes
und um die Raben,
warum scheinst du dich so wenig zu sorgen
um die, welche leiden?

Lass uns das Vertrauen nicht verlieren,
lass uns nicht in jenes Loch
des Selbstmitleids fallen,
damit wir uns nicht mästen mit dem toten Glanz 
der Selbstvergötterung.

Unser Leben scheint uns des Sinnes zu entbehren,
wie das deine am Kreuz.
Aber du willst es erfüllt haben mit Gaben
für die andern.

Wenn wir nur wissen könnten, wohin du uns führst…

Trotz der Nacht,
mach, dass wir nie sagen: «Jetzt reicht’s!»,
auch wenn wir nicht mehr können,
weil du genau dort zu wirken beginnst,
wo wir scheitern.

Manchmal scheint deine Hand nicht freundlich.
Aber wir akzeptieren, dass du uns so behandelst.
Wir akzeptieren es ganz, auch ohne es zu empfinden. 
Nur diese radikale Akzeptanz
kann uns von der Verzweiflung befreien.
Indem wir akzeptieren, drücken wir 
unsere höchste Anstrengung von Liebe und Glauben aus.**

* Philibert-Joseph Roux (1780-1854), französischer Mediziner und Chirurg

** Luis Espinal SJ, Gottes Schweigen, in: Und haben nur einen Sinn, wenn wir brennen, Gebete hautnah, ToposPlus, Innsbruck/Wien 2008, 42-43.

Autor:

Christoph Albrecht SJ

Auf dem Weg mit Flüchtlingen und Fahrenden in der Schweiz.

Christoph Albrecht, geboren 1966 in Basel, lernte in seiner Jugend Maschinenmechaniker und absolvierte danach das Studium zum Elektroingenieur HTL. Seit 1989 im Jesuitenorden, lebte zwei Jahre als Lehrer in Bolivien, studierte in München Philosophie und in Paris und Innsbruck Theologie, wo er 2004 über Luis Espinal SJ promovierte. 2004-2009 Mitarbeit in der Leitung des Bildungshauses Notre-Dame de la Route, Fribourg.  2009-2016 Universitäts- und Flüchtlingsseelsorger in Basel. Seit Sommer 2016 in Zürich verantwortlich für die katholische Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz und für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst der Schweiz.

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