• Papst Franziskus zu Besuch bei der 36. Generalkongregation der Jesuiten.
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Einsichten aus Laudato sí in Krisenzeiten

In der Ausnahmesituation, in der wir nun schon seit über drei Wochen leben, gehen unsere Gedanken zuerst zu den Opfern der Corona-Epidemie. Es gibt so viel Leid und Verzweiflung in der ganzen Welt. Viele Familien können nicht einmal Abschied nehmen von ihren lieben Verstorbenen. Wie immer leiden die Armen am meisten. Wie sollen die Menschen etwa in El Salvador unter einer Ausgangssperre überleben, wenn sie ihren Lebensunterhalt von einem Tag zum anderen durch den Verkauf von Früchten in der Straße verdienen? Aber es gibt auch viele Zeichen von Solidarität und Hoffnung: Ärzte und Krankenschwestern, die ihr Leben in der Sorge für die Kranken aufs Spiel setzen; Krankenhäuser, die Patienten aus anderen Ländern aufnehmen.

Es ist zu früh, um über Konsequenzen aus der Epidemie nachzudenken. Aber wir können über das Bewusstsein nachdenken, das sie schafft. Die Corona-Krise macht uns bewusst, dass Gesundheit das wichtigste globale Gemeingut ist, das gleichzeitig am verletzlichsten ist. Sie macht uns bewusst, dass wir alle im selben Boot sitzen und eine menschliche Familie sind. Die Krise zwingt uns dazu, das herrschende Modell von Globalisierung zu überdenken und neu zu entwerfen. Dabei müssen die Sorge für die Armen, die natürliche Umwelt und die zukünftigen Generationen im Zentrum stehen. Papst Franziskus hat mit seiner vor fünf Jahren veröffentlichten Enzyklika Laudato sí Kompass und Wegweiser dafür vorgelegt.

Die zentrale Botschaft von Laudato sí lautet: Unsere Welt ist ein wunderbares Geschenk, aber mit unserer Lebensweise bedrohen wir die Zukunft unseres gemeinsamen Hauses. Deshalb benötigen wir einen grundlegenden Wandel. Papst Franziskus verlangt eine "ökologische Bekehrung". Dieser radikale Wandel muss mit einem neuen Denken einhergehen. Eine zentrale Einsicht von Laudato sí verweist darauf, dass alles miteinander verbunden ist: die Bewahrung der Umwelt kann nicht getrennt gesehen werden von der Gerechtigkeit für die Armen und von den strukturellen Problemen der globalen Ökonomie.

Auch die Corona-Krise zeigt, dass alles in unserer Welt miteinander verbunden ist. In wenigen Wochen wurde der Virus von Reisenden über die ganze Welt verteilt, unabhängig von Landesgrenzen. Um der Epidemie Einhalt zu gebieten, müssen die einzelnen Länder über ihre Grenzen hinausschauen und zusammenarbeiten. Dieses Gefühl der wechselseitigen Abhängigkeit wächst; wir sind alle verletzlich und wir sind auf Gedeih und Verderben global miteinander verbunden. Wir müssen unser kollektives kurzfristiges Denken und Handeln aufgeben und Solidarität als eine Herausforderung zwischen den Kontinenten und den Generationen begreifen, die künftige Generationen mit einbezieht.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem gefährlichen Klimawandel, der ein anderes zentrales Thema von Laudato sí ist. Der Papst verlangt, das herrschende Modell von Wachstum zu korrigieren, weil es unfähig ist, die Achtung für die Umwelt, die Sorge für die Familien, soziale Gleichheit, menschenwürdige Arbeit und die Rechte der zukünftigen Generationen sicherzustellen. Schon vor fünf Jahren unterstrich er den Ernst der Stunde und forderte ein neues Zivilisationsmodell, das auf mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Universalisierbarkeit aufbaut. Die aktuelle Krise zeigt, dass die Regierungen fähig sind, in kurzer Zeit dringende, radikale und sehr kostspielige Maßnahmen zu ergreifen, um einer unmittelbaren Gefahr zu begegnen. Warum werden dann keine ähnlichen Maßnahmen ergriffen, um dem gefährlichen Klimawandel zu begegnen? Der Klimawandel ist nicht ansteckend, aber er bedroht die Zukunft unseres Planeten und die Lebensgrundlagen der zukünftigen Generationen insgesamt.

Innovativ in Laudato sí ist auch, die Atmosphäre, die Ozeane und die tropischen Wälder als natürliche globale Gemeingüter zu betrachten. Dem können wir heute die Gesundheit als das wichtigste soziale Gemeingut hinzufügen. Die globalen Gemeingüter können nicht nur der Verantwortung der Nationalstaaten überlassen werden, sondern sie gehören der ganzen Menschheit. Deshalb muss das Prinzip der universellen Bestimmung der Güter auf sie angewendet werden. In Verbindung mit dem Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums kann dies in Grenzfällen auch eine Enteignung rechtfertigen. Wir haben eine gemeinsame und unterschiedliche Verantwortung für diese Güter, und deshalb müssen sie auch über die Nationalstaaten hinaus kollektiv-demokratisch verwaltet werden. Die Europäische Union ist dafür ein Beispiel.

Doch Pessimisten befürchten, daß gerade die Corona-Krise die Auflösung der Europäischen Union vorantreibt. Am Anfang gab es in der Tat den Reflex "Jedes Land sorgt für sich selbst", was der Idee der Union diametral entgegengesetzt ist. Wie schon in der Flüchtlingskrise fühlten sich vor allem in Italien die Menschen allein gelassen. Inzwischen hat die EU mit einer Reihe von Maßnahmen zur Solidarität zurückgefunden: französische und italienische Patienten in kritischer Verfassung, die in deutschen Krankenhäusern aufgenommen werden; der Austausch von medizinischem Material. Diese Solidarität sollte dringend auf die Flüchtlinge ausgedehnt werden, die unter unmenschlichen Bedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln leben und von dem Virus akut bedroht sind. Längerfristig wird die entscheidende Herausforderung sein, im Geist der Solidarität auch den verheerenden Auswirkungen für den Sozialstaat und die Wirtschaft zu begegnen. Papst Franziskus hat es in seiner bewegenden Andacht auf dem leeren Petersplatz am 27. März in ein eindrückliches Bild gebracht: Wir sitzen im selben Boot und werden gemeinsam überleben oder untergehen.

In einer Reihe von Zeitungsartikeln wurden in den vergangenen Wochen sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen: über den Sinn des Lebens und den Zweck all unserer Tätigkeiten, über die tragenden Werte. Es war von einer "säkularen Fastenzeit" die Rede, die uns dazu zwingt, viele Dinge zu relativieren, die wir bis jetzt als unverzichtbar und unantastbar angesehen haben. Man sollte die aktuelle Krise nicht zur Rechtfertigung von christlichen Werten instrumentalisieren. Aber die Prinzipien christlichen sozialen Denkens wie Menschenwürde, Solidarität, die Option für die Armen und Nachhaltigkeit können zu Leitprinzipien für den Aufbau einer neuen Gesellschaft und einer neuen Wirtschaft nach der Pandemie werden.

In Zeiten von Katastrophen stellt sich unvermeidlich die Frage: Wo ist Gott in all dem? – Gott ist in den Opfern der Pandemie, er ist in den Ärzten und dem Pflegepersonal, die sich für die Kranken aufopfern, er ist in den Wissenschaftlern, die Tag und Nacht nach einem Impfstoff forschen, er ist in den Freiwilligen, die für alte und einsame Menschen sorgen, er ist in den Arbeitern und Angestellten, die den Alltag am Laufen halten. Gott ist in allen, die in diesen Tagen für die anderen beten und die Hoffnung lebendig erhalten.

Autor:

Martin Maier SJ

Pater Martin Maier SJ, geboren 1960 in Meßkirch/Deutschland, trat 1979 in den Jesuitenorden ein. Er studierte Philosophie, Theologie und Musik in München, Paris, Innsbruck und San Salvador. 1988 wurde er zum Priester geweiht. Von 1989 bis 1991 war er in El Salvador Pfarrer einer Landgemeinde. 1993 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. P. Maier war von 1995 bis 2009 Redaktionsmitglied (seit 1998 auch Chefredakteur) der „Stimmen der Zeit“. Von 2009 bis 2014 war er Rektor des Berchmanskollegs in München. Als Experte für Theologie der Befreiung ist er Gastprofessor an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador. Von 2014-2020 war er Beauftragter für Europäische Angelegenheiten im Jesuit European Social Centre (JESC) in Brüssel. Seit 2021 ist er Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerkes Adveniat in Essen.

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