Identität durch Abgrenzung

Vieles ist seit dem Fall der Mauer anders gekommen, als die Menschen damals erwartet hatten; statt einer friedlicheren Welt kam schon bald der Krieg im früheren Jugoslawien. Wie konnten so viele Grausamkeiten entlang nationaler, religiöser und ethnischer Linien geschehen? Ein Land zerbrach in Einzelstaaten, in ein katholisches Kroatien, ein orthodoxes Serbien, ein muslimisches Bosnien. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt viele Konflikte durchlitten, die meisten davon Bürgerkriege zwischen ethnischen, kulturellen und religiösen Gruppen der Bevölkerung.

Identität ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Jeder Mensch hat einen Namen und definiert sich zu einem guten Teil von seiner Herkunft – sei es die Familie, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Kultur oder Wertesystem. Die Religion ist sehr entscheidend für die Identität der Mehrheit der Weltbevölkerung. Menschen verstehen sich als Muslime, Christen, Buddhisten, Hindus, Atheisten… Menschen kämpfen, wenn ihre Identität bedroht ist.

Unsicherheit und Angst um die eigene Identität

Da uns unsere Identität wie eine zweite Natur Sicherheit und Zugehörigkeit, eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft gibt, liegt der Wunsch nahe, diese Identität für immer fixieren zu wollen. Einzelne, Gruppen und Organismen definieren ihre Identität immer auch in Abgrenzung. Diese gehören dazu, jene nicht. Das ist nachvollziehbar. Die Versuchung liegt darin, die eigene Identität höherzustellen als die der Anderen. Die Versuchung aller Menschen ist immer, die eigene Identität zu verabsolutieren, darauf stolz zu sein und sich gegenüber anderen Menschen arrogant zu verhalten. Sich höher zu fühlen als die anderen, ist die tiefe Versuchung der Ehrsucht und des Stolzes, die Ursache von Rassismus, Nationalismus und Fundamentalismus. An den Fremden, Migranten und Flüchtlingen macht sich diese Angst um die eigene Identität fest und projiziert alle Unsicherheit auf diese Minderheiten.

Autor:

Peter Balleis SJ

Pater Peter Balleis SJ ist 1981 in den Jesuitenorden eingetreten. Er war viele Jahre in der Flüchtlingsarbeit in Afrika tätig und wurde 1988 in Simbabwe zum Priester geweiht. Er leitete von 2000 die deutsche Jesuitenmission für Entwicklungsprojekte und Missionsarbeit weltweit und war von 2007 bis 2015 International Director des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes "Jesuit Refugee Service" mit weltweiter Tätigkeit und Sitz in Rom. Seit 2016 ist er Geschäftsführender Präsident von "Jesuit Worldwide Learning" mit Sitz in Genf, einer Initiative von Jesuiten-Universitäten, die rund um den Erdball Flüchtlingen, Armen und anderen Menschen am Rand via Internet Zugang zu Hochschulbildung und Studienabschlüssen ermöglicht.

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