1 / 2
Foto: stock.adobe.com, Gorodenkoff; SJ-Bild

"Kann Krankheit für etwas gut sein, Pater Batlogg?"

2017 sollte der Jesuit Andreas R. Batlogg SJ nach siebzehn Jahren aus der Redaktion der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit" ausscheiden, die er als Herausgeber und Chefredakteur geleitet hatte. Ein Flug nach Israel war bereits gebucht, in Jerusalem wollte er den ersten Teil einer mehrmonatigen Sabbatzeit verbringen. Doch es kam ganz anders: Diagnose Darmkrebs, mehreren Operationen gingen Chemotherapie und Bestrahlung voran. In dem Buch „Durchkreuzt“ betrachtet und beschreibt er sich mit erstaunlicher Offenheit während dieser Zeit, fast live. Noch im Krankenhaus reflektiert er, wie er diese Lebenskrise erlebt, welche Sicherheiten ins Wanken geraten, inwieweit ihm sein Glaube hilft, was ihm Trost schenkt. Der Krebs ist seither nicht wiedergekommen. War er womöglich, rückblickend, auch für etwas gut?

P. Batlogg, wie geht es Ihnen?

Soll ich jetzt „gut“ sagen? Ich habe gute Blutwerte, die berüchtigte 5-Jahres-Gefahrenzone für Metastasen ist um, der Krebs ist nicht zurückgekommen. Der künstliche Darmausgang wurde zurückverlegt, und ich kann wieder einigermaßen normal leben. Ich spüre zwar weiter die Folgen von Chemotherapie und Bestrahlungen, aber körperlich bin ich wieder gesund, und dafür bin ich sehr dankbar. Also ja: Es geht mir körperlich wieder gut.

Und innerlich?

Da wird es interessanter. Der oft geäußerte Wunsch „Hauptsache gesund“ stimmt höchstens zur Hälfte. Denn wer medizinisch gesehen gesund ist, muss noch lange nicht heil sein, was ja sprachlich das Ergebnis der Heilung einer Krankheit wäre. Und andersherum gibt es schwer kranke oder von einem Unfall gezeichnete Menschen, die mit sich im Reinen sind, ausgeglichen, versöhnt, und die das auch ausstrahlen, meist ohne große Worte. In ihren Gesichtern leuchtet dann eine andere Wirklichkeit als sie ihr Körper vorgibt. Diese Menschen sind heil.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Krebsdiagnose und den Weg, den Sie seither gegangen sind, können Sie in der Krankheit einen tieferen Sinn sehen?

Als Extremerfahrung kann ich das niemandem wünschen, und ich habe ja auch immer noch Kollateralschäden: Ich bin bei weitem nicht mehr so ausdauernd und belastbar wir früher. Ich brauche längere Pausen, muss jährlich zur Kontrolluntersuchung, und jede Darmspiegelung löst Ängste aus. Bei Stress bin ich immer noch nicht vor Inkontinenz gefeit, auf Reisen habe ich Pampers dabei. Es liegt also sicher kein Sinn in Krankheit, wie man es oft hört: Alles, was Dich nicht umbringt, macht Dich stark. Es ist eher das Gegenteil.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich morgens unter der Dusche stehe und meine Narbe am Bauch betrachte, dann ruft mir diese Narbe ins Bewusstsein, dass ich verwundet bin, und zwar nicht nur körperlich. Narben sind Augen. Sie zeigen Verletzungen auf, Brüche, Ausgrenzung, sie sind ja erst einmal Stigmata. Aber durch Wunden, nicht durch Siege, kommt christlich verstanden Erlösung. Bei Jesaja heißt es über den Gottesknecht: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Über dieses Bild habe ich sehr oft gepredigt, aber heute weiß ich, dass ich es eigentlich nie in Gänze verstanden habe. Erst durch die Augen meiner Narbe sehe ich meine Verwundungen klarer, und das möchte ich mir bewahren. Es ist für mich als Jesuit unglaublich tröstlich, dass Ignatius von Loyola in seinem Lieblingsgebet die geradezu intime Bitte vortrug: „Birg in deinen Wunden mich“! Geborgen sein in den Wunden Jesu – was für ein starker Gedanke!

Was bedeutet er?

Ich würde sagen: Schmerz zulassen, nicht wegreden oder wegbeten. Mit den eigenen Verletzungsgeschichten umgehen, sie aushalten und damit leben lernen. Ich bin neulich über einen Satz des Publizisten Heribert Prantl gestolpert: „Wunden lassen sich nicht wegostern.“ Das stimmt, denn Auferstehung heißt ja nicht, dass alles wieder gut ist. Der auferstandene Jesus trägt Wundmale. Seine Wunden bleiben sichtbar, aber sie sind überwunden. Mir scheint heute, dass Menschen ihre Wunden manchmal nur zukleistern wollen, weil sie nichts mehr davon wissen wollen. Das ist aber keine Heilung. Manche Lebenswunden müssen offenbleiben! Da kann man nur um die Kraft zum Aushalten bitten.

Das hört sich nicht immer einfach an. Wie kann man das schaffen?

Meine Erfahrung ist: indem ich versuche, in Beziehung zu gehen mit dem Gekreuzigten. Durch meine Krebserkrankung habe ich ganz neu entdeckt, was diese Beziehung bedeuten kann – über 30 Jahre nach meinem Ordenseintritt und obwohl ich mich schon in meiner Doktorarbeit mit den „Mysterien des Lebens Jesu bei Karl Rahner“ befasst hatte. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich da tatsächlich etwas spürte, dass ich mich wirklich geborgen fühlte. Papst Franziskus hat einmal zum Welttag der Kranken geschrieben, dass eine Krankheit, besonders wenn sie schwer ist, den Glauben an Gott einerseits auf die Probe stellt, aber andererseits sein ganzes positives Potenzial offenbart. Franziskus schreibt: „Nicht weil der Glaube die Krankheit, den Schmerz oder die daraus entstehenden Fragen zum Verschwinden bringt, sondern weil er einen Schlüssel anbietet, mit dem wir den tieferen Sinn dessen entdecken können, was wir erleben: ein Schlüssel, der uns zu sehen hilft, dass die Krankheit Weg zu einer größeren Nähe zu Jesus sein kann, der mit dem Kreuz beladen an unserer Seite geht.“ Früher hätte ich solche Gedanken beiseite gewischt oder gar nicht erst gelesen. Seit meiner Erkrankung weiß ich: Es stimmt! Also: Jesus ist da! Er geht mit, er kennt mein Leid, er steht mir zur Seite.

Also: an Jesus denken, und dann geht es einem besser?

Natürlich wirkt das nicht, wie wenn ich ein Aspirin schlucke, und das Kopfweh verschwindet. Meine Erfahrung war die: Der Gedanke an Jesus, das Sprechen mit ihm, mein Beten zu ihm, das ständige Wiederholen des Gebets führte mich über die Enge meiner Diagnose, meiner Angst hinaus, über mein Krankenhausbett, den OP-Tisch, meine Panik, den Gedanken: Was, wenn ich nach der Operation nicht mehr aufwache? Wartet da einer auf mich? Dass ich mir die Gegenwart meines Gefährten immer wieder vergegenwärtigte, hat mir tatsächlich geholfen. Das war nicht eingeredet und auch keine Selbstüberlistung. Ich habe diese Erfahrung gemacht und wünsche sie allen, die sich neu auf Jesus einlassen wollen. Ich erinnere noch sehr genau den Moment, als ich im Januar 2018 nach mehrwöchiger Chemo- und Strahlentherapie in den OP-Saal geschoben wurde, nicht wissend, wie lange die Operation dauern würde und ob der Tumor vollständig entfernt werden könnte. Plötzlich durchzuckte es mich: Was, wenn du behindert aufwachst? Oder überhaupt nicht mehr? In diesem Moment erinnerte ich mich an die in der Kammeroper „Weiße Rose“ von Udo Zimmermann festgehaltene, historisch verbürgte letzte Begegnung von Magdalena Scholl mit ihrer Tochter Sophie kurz vor deren Hinrichtung in München-Stadelheim: „Gelt Sophie, Jesus, Jesus, Jesus.“ – „Aber auch du, Mutter …“ Ich ersetzte Sophie durch Andreas, das war mein letzter Gedanke.

Sind so auch die Heilungen zu verstehen, die im Evangelium berichtet werden, dass Jesus allein durch seine Gegenwart heilt?

Wir wissen gar nicht so genau, wie Jesus geheilt hat. Meistens ist gar nicht beschrieben, was genau er getan hat, wie er es gemacht hat. Aber wir erfahren: „Dein Glaube hat dir geholfen“, oft verbunden mit der Aufforderung „Geh“ oder „Steh auf“. Jesus schenkt den Menschen offenbar ein Zutrauen, dass etwas geschehen kann, das sich physikalisch oder medizinisch nicht erklären lässt. Das ist der sprichwörtlich Berge versetzende Glaube. Eben kein Hokuspokus, sondern Ermutigung und der Beginn von etwas in einem selbst.

Demnach wäre Heilung ein Losgehen?

Genau. Heilung ist ein langer Weg, der mit der Krankheit erst beginnt und mit körperlicher Genesung nicht unbedingt zusammenfallen muss. Wenn man das Lassalle-Haus verlässt, das Bildungshaus der Schweizer Jesuiten oberhalb des Zuger Sees, passiert man an der Ausfahrt eine Stele. Deren Inschrift zerstört jeden frommen Wunsch, man habe in den Exerzitien aufgetankt und gehe gestärkt zurück in den Alltag. Auf der Stele steht: „Der Weg beginnt jetzt – auf Wiedersehen.“ So ist es auch nach einer schweren Erkrankung. Wer sie überlebt, spürt schnell: es beginnt ein womöglich langer Weg, zu Ende ist nur die Behandlung. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, den früheren Menschen, den von vor der Erkrankung, mitzunehmen.

Man wird also kein neuer Mensch durch eine schwere Erkrankung?

Nein, das wäre eine Illusion. Ich hatte durch den Krebs keine zweite Geburt. Ich bin immer noch nicht viel ausgeglichener als vorher, immer noch oft zu emotional, manchmal aufbrausend und ungerecht zu anderen. Man trägt auf dem Weg nach der Krankheit schon weiter seine Natur, sein Temperament, seinen Charakter und seine ganz konkreten Verhaltensmuster mit. Trotzdem gibt es diese Lebenszäsur zwischen vor und nach dem Krebs.

Was ist bei Ihnen seither anders?

Ich habe im Krankenhaus angefangen, darum zu beten, dass ich mir meiner Verwundungen bewusst bleibe. Denn das verändert etwas in mir, und dadurch bin ich auch aufmerksamer und empathischer für die Verwundungen anderer. Auch für die, die ich anderen zufüge. Ich wünsche mir, dass ich meine Wunden – die an meinem Bauch ebenso wie die meines Lebens – fruchtbar machen kann für meinen Umgang mit Menschen. Ich mag das Motto der Vorarlberger Hospizbewegung: „Endlich leben!“ Das kann man ja so oder so lesen: Wird das „endlich“ betont, dann heißt das, dass unser Leben begrenzt und einmal zu Ende ist. Der Blick auf das „endlich“ ist vielleicht mein Gewinn aus der Krankheit. Je mehr mir bewusst ist, dass ich tot sein könnte, desto mehr kann ich die Betonung auf das zweite Wort legen: „leben“. Das lässt sich einüben.

„Leben“ kann man aber auch so oder so.

Ich meine, „leben“ heißt, dass man bewusst lebt, nicht einfach so dahinlebt, das Leben nicht vergeudet, sondern achtsam bleibt und dankbar.

Heilt Zeit eigentlich Wunden?

Ja, aber nicht automatisch. Ich muss schon an meinen Verwundungen arbeiten. Ich muss sie sehen und durchmachen wollen. Als Theologe würde ich sagen: Was nicht angenommen ist, kann nicht erlöst werden.

Interview: Gerd Henghuber

Zur Person:

Andreas R. Batlogg SJ

Andreas R. Batlogg SJ ist 1962 in Lustenau/Vorarlberg geboren und 1985 in die österreichische Provinz der Jesuiten eingetreten. 1993 wurde er zum Priester geweiht. Er hat Philosophie und Theologie in Innsbruck, Israel und Wien studiert und eine Promotion über Karl Rahners Christologie abgeschlossen. Er war bis Dezember 2017 Herausgeber und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit" und Mitherausgeber der „Sämtlichen Werke“ Karl Rahners. Heute ist er Publizist und Mitglied des Seersogeteams von St. Michael in München. Zuletzt erschienen "Der evangelische Papst. Hält Franziskus, was er verspricht?" (Kösel, 2018) und "Durchkreuzt. Mein Leben mit der Diagnose Krebs" (Tyrolia, 2019).

Newsletter

Das Magazin „Jesuiten“ erscheint mit Ausgaben für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Bitte wählen Sie Ihre Region aus:

×
- ×