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Kirche im postsäkularen Kontext

Die drei großen monotheistischen Religionen stehen in einem Ringen um ihre Form in einer postmodernen Welt. Christian Rutishauser SJ, Provinzial der Schweizer Jesuiten, beobachtet in seinem Editorial  in der aktuellen Ausgabe der 'Stimmen der Zeit' zwar eine Entchristlichung in westlichen Gesellschaften – aber das Religiöse selbst bleibt. Hier könne die Kirche anknüpfen.

Die europäische Moderne lebt aus dem Mythos der Säkularisierung: Fortschritt gebe es nur, wenn Religion überwunden und die Welt entzaubert werde. Die Zukunft gehöre der Aufklärung und Wissenschaft; Religion habe keinen Platz. Auch wenn diese weltweit zurückgedrängt wird und Wissenschaftsgläubigkeit dominiert, ist die klassische Säkularisierungsthese inzwischen falsifiziert. Säkularisierung bedeutet zwar Entchristlichung und Entkirchlichung, doch das Religiöse bleibt. Will man weiterhin von Säkularisierung sprechen, ist darunter ein Prozess der Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung des Religiösen zu verstehen. Viele Bereiche, die einst an die Kirche gebunden waren, wie das Diakonisch- Soziale, die Medizin, die Kunst, haben sich verselbstständigt. Sie werden nun von säkularen Institutionen getragen.

Säkularisierung ist also auch Ausdifferenzierung. Sie ruft in Erinnerung, dass die säkulare Gesellschaft aus der kirchlich geprägten herausgewachsen ist. Mit ihrem Humanismus ist Vieles in ihr wie „Christentum außerhalb der Kirche“. Dabei ist die säkulare Gesellschaft mit ihrer Weltanschauung nicht nur Religionsersatz, sondern stellt selbst eine Art religiöse Tradition dar, die mit ihren eigenen Riten, ihrer Ethik und Spiritualität funktioniert. Angesichts von Globalisierung, Digitalisierung und wissenschaftlicher Entwicklung ist die säkulare Gesellschaft aber genauso im Wandel, wenn nicht in einer Krise, wie die Kirche selbst. Daher greift die oft gestellte Frage, wie das Religiöse in der Gesellschaft Beständigkeit hat, viel zu kurz. Auch die Frage nach der Beständigkeit des Säkularen ist zu stellen. Wo sich Kirche und säkular-aufgeklärte Gesellschaft nämlich einst feindlich gegenüberstanden, sind sie heute zuweilen Partner.

So gilt der Hauptstreit heute nicht mehr der Frage: Religion ja oder nein? Es geht vielmehr darum, welche Religion die Gesellschaft will. Dies zeigt sich daran, dass sich asiatische Spiritualitäten und Religionsformen fast lautlos mit der Gesellschaft verbinden, die Präsenz des Islam aber kontrovers debattiert wird. Zur postsäkularen Gesellschaft passt nämlich individuelle, psychologische und kosmologische Religiosität. Sie wird absorbiert und stabilisiert die Gesellschaft. Zugleich wird diese mehr und mehr von asiatischen Denk- und Wertformen durchdrungen. Sie ist immer weniger christlich geprägt. Es macht sich breit, was man früher „natürliche Religion“ nannte. Der Islam aber, der sich mit dem politisch-gesellschaftsformendem Anspruch meldet, von einer Offenbarung eines universalen Gottes ausgeht und Glaube fordert, wird als inkompatibel bis feindlich erlebt.

Dies sollte erstaunen, denn seine Glaubenstradition hat viele Ähnlichkeiten mit Christentum und Judentum. Was trennt, ist weniger der Glaube als die Tatsache, dass die islamischen Kulturen vom Ausdifferenzierungsprozess der Säkularisierung und von der wissenschaftlichen Bildung der Moderne nicht so geprägt worden sind wie der Westen. Der Islam gleicht kulturell vormodernem Christentum. Jede der drei abrahamitischen Glaubenstraditionen will sich aber nicht in „natürliche Religion“ hinein auflösen. Alle drei stehen – wenn auch unterschiedlich – mitten in einem Ringen um ihre Form in einer postmodernen Welt. Nicht der Islam muss durch die Aufklärung, sondern alle drei stehen in einer umfassenden zivilisatorischen Transformation. Welchen Standpunkt soll dabei die Kirche einnehmen?

Die römisch-katholische Kirche hat stets die „natürliche Religiosität“ des Menschen, sein geistiges Suchen aufgenommen, dieses dann aber aus der Glaubenstradition heraus geformt. Dabei ist das inkarnatorische Prinzip leitend, da Gott in Christus Mensch geworden ist. Es besagt, dass der Geist des christlichen Glaubens bis in die menschlichen Leiber, in Institutionen, in die Materie hinein prägen will. Die Kirche ist eben nicht nur eine geistige Gemeinschaft aller Getauften, sondern auch handfeste Rechtsinstitution. Glaube ist nicht nur vergeistigte Innerlichkeit. Das Heil wird in konkreten Riten und Sakramenten vollzogen. Der inkarnatorische Gestus hat die Stärke, dass der Glaube inkulturiert wird, sichtbare Form annimmt. Er hat aber auch die Schwäche, dass das Geistige sich veräußerlichen kann. Der Rationalisierungsschub, die Vergeistigung und Individualisierung kämpften seit dem Vatikanum II dagegen an, ließen aber auch viel vom Brauchtum des katholischen Glaubens zerfallen. Daher braucht es heute eine neue Sichtbarkeit und handfeste Gemeinschaftsbildung. Von einer erkennbaren Glaubenssprache bis zu einer Ästhetik in den Institutionen der Kirche. Lebensräume müssen konkret erfahrbar vom Geist des Evangeliums durchdrungen werden. Auch die sorgfältige Gestaltung von Tages- und Jahreszeiten helfen, in der deregulierten Hektik und Aufgeregtheit des Alltags einen Glaubensraum zu schaffen. Kurz: Die leibliche, die raumzeitliche Dimension von Mensch und Gesellschaft gilt es von der breiten, christlichen Spiritualitätstradition und aus der Mitte der Glaubenstradition her neu zu durchformen.

Autor:

Pater Christian Rutishauser SJ ist der Delegat für Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Bis zur Gründung der neuen Provinz war er Provinzial der Schweizer Provinz. 1965 geboren und in St. Gallen aufgewachsen. Studium der Theologie in Fribourg und Lyon. Ein Jahr Pfarreiarbeit und anschliessend Noviziat der Jesuiten in Innsbruck. 1994-1998 Arbeit als Studentenseelsorger an der Universität Bern und Leiter des Akademikerhauses in Bern. Doktoratsstudium im Bereich Judaistik in Jerusalem, New York und Luzern. Dissertation zu Rav Josef Dov Soloveitchik (1903-1990) mit dem Titel «Halachische Existenz» im Mai 2002. Seither verschiedene Lehraufträge im Bereich jüdischer Studien, so an der Hochschule für Philosophie S.J. in München, am Kardinal-Bea-Institut an der Universität Gregoriana in Rom und am Theologischen Studienjahr an der Dormitio-Abtei in Jerusalem. Seit 2004 Mitglied der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission der Schweizerischen und seit 2012 auch der Deutschen Bischofskonferenz. Delegationsmitglied der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum seit 2004; seit 2014 in derselben Funktion ständiger Berater des Heiligen Stuhls.

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