• Madeleine Delbrêl: Prophetin der Nachkonzilszeit
Bild 1: @ zettberlin/photocase.com (Collage)

Madeleine Delbrêl: Prophetin der Nachkonzilszeit

Madeleine Delbrêl zählt zu den interessantesten katholischen Mystikerinnen des vergangenen Jahrhunderts. Sie suchte und fand Gott mitten im Alltag ihres lauten Pariser Vororts. Die Theologin und Exerzitienbegleiterin Dr. Annette Schleinzer führt ein in Leben und Werk der Französin, der die aktuelle Ausgabe des Jesuiten-Magazins gewidmet ist. 

Wer ist diese Frau, die damit ernst machte, Gott in allen Dingen zu finden? Poetin – Sozialarbeiterin – Mystikerin: Das sind nur drei der zahlreichen Attribute, die Madeleine Delbrêl kennzeichnen. Sie gilt nicht nur als Vorläuferin des Zweiten Vatikanischen Konzils, sondern auch als „Prophetin der Nachkonzilszeit“. 1904 wurde sie in Mussidan im Südwesten Frankreichs geboren. In ihrer Jugend war sie eine überzeugte Atheistin. „Gott ist tot“, schrieb sie mit 17 Jahren. Doch eine tiefe Lebenskrise und die Begegnung mit jungen Christ*innen leiteten die Wende ein: „Ich habe geglaubt, dass Gott mich gefunden hat.“ – So beschreibt sie, was sie zeitlebens als Übergang vom Tod zum Leben erfahren hat. Im Evangelium hat sie eine Form dafür gefunden, aus diesem „unerhörten Glück“ zu leben und es an andere weiterzugeben. Sie war davon überzeugt, dass dies die Berufung aller Christ*innen sei. Alle seien, schreibt Madeleine Delbrêl, wie eine Batterie „mit Gott geladen“.

Nachdem sie sich zur Sozialarbeiterin hatte ausbilden lassen, lebte sie über 30 Jahre lang mit einigen Gefährtinnen unter den Menschen des kommunistischen Arbeitermilieus in Ivry, einer Stadt in der Pariser Banlieue. Dort versuchten sie, „Gotteszeuginnen zu sein, in Armut und Selbstvergessenheit […] unter denen, die außerhalb der sichtbaren Pfarreigrenzen leben“, wie es eine ihrer Gefährtinnen beschrieben hat. Denn „den Pfarreien sind heutzutage die Arme an den Ellbogen abgetrennt; diejenigen, die sich nicht nur in der Pfarrei engagieren, bilden meiner Ansicht nach die ‚Ersatz-Arme‘ dieser amputierten Glieder“, so Madeleine Delbrêl. Schon in den vierziger Jahren wurden diejenigen auf sie aufmerksam, die nach neuen pastoralen Möglichkeiten in der zunehmend entchristlichten Kirche Frankreichs suchten: die Arbeiterpriester und die Pioniere der Mission de France, einer römisch-katholischen Missionsgesellschaft in Frankreich. Für viele von ihnen wurde sie zur geistlichen Begleiterin und Beraterin. Vor allem in ihren letzten Lebensjahren wurde sie immer häufiger zu Vorträgen eingeladen und um Erfahrungsberichte gebeten, bis hin zur Bitte um Mitarbeit bei den Vorbereitungen des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Als sie am 13. Oktober 1964 ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb, hinterließ sie trotz alledem nicht viel: ein Buch und zahlreiche unveröffentlichte Texte und Manuskripte; einen Freundeskreis, der kaum weiterreichte als über die Grenzen einer kirchlichen Minderheit in Frankreich hinaus. Doch 60 Jahre nach ihrem Tod ist sie für viele Menschen aus allen Kontinenten längst zu einer Gefährtin geworden, die sie ermutigt, den Glauben unter den Bedingungen der heutigen Zeit zu leben. Sie rät dazu, „heute, in der heutigen Welt und heutigen Zeit zu lauschen, was der Herr seit jeher für heute von uns will, für die heute lebenden Menschen, für unsere heutigen Nächsten, und zu bitten, dass wir es sehen und begreifen“.

Dr. Annette Schleinzer

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