Seit Wochen harren die Menschen in den Kellern des belagerten Stahlwerks in in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol aus. P. Willi Lambert SJ, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur ignatianischen Spiritualität, der heute in Berlin-Kladow lebt, schreibt darüber, was der Krieg in ihm auslöst.
Aufkommende Erinnerungen
„Ich erinnere mich…“, so ein Mitbruder beim Tischgespräch in unserem Seniorenheim Peter-Faber-Haus in Berlin Kladow. „Ich erinnere mich an die Nächte im Keller während des letzten Weltkriegs. Als eine Bombe auf unser Haus fiel, war alles dunkel, schwarz, und die verbleibende Luft stickig und staubig, luftraubend. Noch Jahrzehnte danach überfielen mich Gefühle der Panik, wenn eine Tür laut zukrachte.“
Was die gegenwärtige Kriegssituation bei Vielen weckt, sind Erinnerungen: Erinnerungen an Selbsterlebtes, an Erzählungen von Krieg und Flucht von Eltern und Bekannten, manchmal Entdeckungen von alten Briefen beim Aufräumen des Dachbodens. Bei manchen ist es das Aufkommen selbsterlebter Ängste, deren Ursprung im eigenen Leben „verarbeitet“ wurde oder noch im dunklen Untergrund unbewusster Erlebnisse und Prägungen verborgen sind und doch weiterwirken. In guter Umgebung kann Erzählen manchmal ein Aufatmen und Verstanden-Sein schenken.
Persönlich gesagt
Mir selber ist heute mehr als früher bewusst, dass ich ein „Kriegskind“ bin: Geboren 1944, ein halbes Jahr vor dem Tod meines Vaters in der Ukraine, etwa 50 Kilometer südöstlich von Lemberg/Lwiw. Hinterlassen hat er mir mich selber und über 200 Briefe an seine geliebte Frau. Sie sind mir nach dem Tod meiner Mutter zu einem großen Geschenk geworden.
Im Jahr 2005 entdeckte ich durch eine Reihe von Fügungen seine bis dahin unbekannte Grablage in Hoszow im Südosten Polens, nahe an der ukrainischen Grenze.
Europa durch Versöhnung
Am 8. August, dem Geburtstag meines Vaters (auch Jahrtag des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima) stand ich zusammen mit einem polnischen Priester und einem jungen Ukrainer aus Lemberg hinter einer schönen Holzkirche auf einer Wiese in Hoszow an dem Ort, wo er begraben wurde: Ein Deutscher, ein Pole, ein Ukrainer. Mir kam unmittelbar leise und doch klar: „Europa durch Versöhnung.“ Dass so etwas möglich geworden war, ist die Frucht von Friedenssehnsucht und Friedensarbeit gewesen. Wir beteten ein Vaterunser mit der Bitte um Vergebung und stellten ein Grablicht auf, das der Pole von einem Besuch am Grab von Johannes Paul II. mitgebracht hatte.
Freundschaftlich verbunden
Aus einem „europäischen Erleben“ kann eine freundschaftliche Beziehung entstehen. Der junge in Lemberg geborene Ukrainer, mit dem zusammen ich an der Grablage meines Vaters gewesen bin, ist dann 2007 Jesuit geworden; wir waren später gemeinsam in seiner Heimat für Exerzitien gewesen; in Lemberg arbeitete er in der Betreuung von Geflüchteten und legt seit Jahren in der Ukraine Spuren für Exerzitienangebote.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine erlebte er am 24. Februar 2022 während eines Exerzitienkurses. Seit 40 Tagen gibt er nun im Internet (apostol.ua) und auf Facebook geistliche Impulse. Er befindet sich momentan in Charkiw, einem der meist umkämpften Orte im Nordosten der Ukraine nahe der russischen Grenze. Er arbeitet dort in der Suppenküche und will den Menschen dort als Seelsorger nahe sein.
„Wir sind nicht allein in diesem Irrsinn des Jahrhunderts!“ schreibt er in seinen Briefen. „Kaum zu glauben! Mariupol leidet heute besonders stark… Es tut mir weh, dass ich nicht bei diesen Menschen dort sein kann… Danke, dass wir nicht alleine sind! Zusammen im Herrn sind wir stark, Deutsche und Ukrainer, und können vielleicht auch für Russland Gutes tun! – Im Gebet verbunden, Mykhailo.“
Unsere Sendung für Versöhnung und Gerechtigkeit
Auf der letzten weltweiten Generalkongregation 2016 gaben sich die Jesuiten als wegweisende Überschrift: „Gefährten in einer Sendung der Versöhnung und der Gerechtigkeit.“ Als biblisches Leitwort wurde angefügt: „Das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit Gott versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.“ (2 Korinther 5,18). Gemeint ist die Versöhnung mit Gott, mit den Mitmenschen, mit der Schöpfung und mit sich selber.
Mariupol – Marienstadt
Mariupol – der Name ist griechischen Ursprungs und bedeutet „Stadt Mariens“ oder Marienstadt. Die Stadt ist heute schon fast zu einem Sinnbild für menschliche Brutalität geworden. 2017 erschien von Natascha Wodin, die 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Deutschland geboren wurde, das Buch „Sie kam aus Mariupol“ über das persönliche Schicksal ihrer Mutter. Auch mein Vater schrieb Briefe aus Mariupol an seine Frau und meine Mutter, die Maria hieß. Er selbst schaute in seinen seelischen Nöten immer wieder auf die Schutzmantelfrau in der Liebfrauenkirche meiner Heimatstadt Ravensburg.
Dies alles kommt mir jetzt in den Sinn, wo mein Mitbruder Mykhailo Stanchyshyn SJ am Dienstag der Karwoche in den per Internet angebotenen „Großen Exerzitien“ den Blick auf die „Schmerzensmutter Maria“ lenkt: „Die Gottesmutter wird uns zum Vorbild in dieser schweren Zeit des Krieges, der unglaublichen und schmerzlichen Verluste, der Hoffnungslosigkeit und des Schmerzes, an Gottes Plan für uns zu glauben: Wie wir uns Gott öffnen und mit Seiner großen Gnade mit Vertrauen in ihn erfüllt werden! Wie du das, was für den Menschen unmöglich, aber für Gott möglich ist, in dein Leben lassen kannst! Und wie es am Ende inmitten der Prüfungen des Lebens möglich ist, in der Kraft des Geistes zu sagen: ‚Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.‘ (Lk 1,46)“
Willi Lambert SJ