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Nebenexperimente – Wider eine ungesunde Nabelschau

Wer ist denn das? Ein Neuer? − Ne, ich hab gehört, das ist ein Pfarrer oder sowas. − Komisch, so schaut der gar nicht aus... Ungefähr so wurde ich fast jeden Samstagnachmittag begrüßt. Das war in einem großen Hof, umringt von einer meterhohen Mauer und inmitten von 20 bis 40 Jugendlichen, die mich jedes Mal wieder anfangs argwöhnisch beäugten. Der Hof gehörte zur Jugendarrestanstalt Nürnberg, die ich im Rahmen des ersten Abschnitts meiner Ordensausbildung über ein Jahr hinweg wöchentlich besuchte.

Dieser erste Abschnitt im Ordensleben eines Jesuiten heißt Noviziat und ist geprägt von einer klar gegliederten Tagesstruktur, viel Stille und Zurückgezogenheit. Damit ein solches Programm aber nicht zu einer ungesunden Nabelschau wird, gibt es für jeden Novizen ein "Nebenexperiment". Dabei handelt es sich um ein wöchentliches Kurzpraktikum, innerhalb dessen man Zeit mit Menschen in schwierigen oder besonderen Lebenssituationen verbringt. Diese Praktika sind auch noch nach dem Noviziat während der verschiedenen Studien vorgesehen, damit wir nicht irgendwann unseren privilegierten Elfenbeinturm als einzig bedeutende Realität missverstehen. Viele Jesuiten behalten diese Praxis der Nebenexperimente auch noch weit über die offizielle Ausbildung hinaus bei. Über zwei meiner bisherigen Praktika möchte ich hier schreiben.

Das Nebenexperiment während meines zweiten Noviziatsjahres sollte ich im Jugendarrest verbringen. Bis zu vier Wochen befinden sich dort Jugendliche, die zwar eine Straftat begangen haben, für die eine echte Jugendstrafe aber noch zu hart wäre. Die Bandbreite an Straftaten, die mir dort begegneten, reichte vom Schulschwänzer bis zum 17-jährigen, heroinsüchtigen Mädchen, das de facto am Hauptbahnhof lebte und sich ihre Sucht mit Prostitution finanzierte. Also zurück zum Innenhof von vorher: Hier startete üblicherweise mein Besuch in der Arrestanstalt. Eine Stunde pro Tag haben die Arrestanten die Möglichkeit, Zeit an der frischen Luft zu verbringen, sich zu bewegen und dort die meisten anderen Jugendlichen der Anstalt zu treffen. Als "einer von draußen" und noch dazu sowas wie ein Pfarrer (was ein Novize ist, konnte man schwer vermitteln - das Konzept war ihnen einfach zu krass) war ich zwar irgendwie interessant, aber auch zugleich ein Fremdkörper. Nichtsdestotrotz mischte ich mich schnell unter die Leute, wurde öfters selbst für einen Arrestanten gehalten, spielte eine Runde Basketball mit oder startete ein Gespräch mit denen, die auch in diesem Kosmos eher Einzelgänger waren. Manchmal entstanden in diesem Kontext richtig gute Gespräche.

Mein Highlight der Besuche war aber die anschließende Gesprächsrunde, zu denen ich die Jugendlichen einlud. Eine Stunde lang redeten wir über alles, was ihnen am Herzen lag, denn die Themen, um die es gehen sollte, durften sie selbst bestimmen. Hauptsächlich ging es um Themen wie Ideale, Süchte, langfristige Ziele, wie sie Ordnung in ihr Leben bekommen können und wie man mit der Situation, in so einer Arrestanstalt zu sein, umgehen sollte. Nicht so selten ging es auch um Gott und wie einem Religion in schwierigen Situationen Halt geben könnte.

Die Offenheit und Aufgeschlossenheit der meisten Jugendlichen beeindruckten mich tiefgehend. So manche Vorurteile, die ich über "Knastis" hatte, musste ich grundlegend revidieren und einige strikte Moralvorstellungen aufgeben, um den Menschen hinter den Arrestanten besser sehen zu können. Viele der Insassen waren junge, aufgeweckte, ehrliche Menschen, die etwas vom Leben wollten, aber auch einsehen mussten, dass es gerade in eine Richtung ging, die sie so eigentlich nicht wollten. Im Austausch mit den Jugendlichen dort wurde mir immer klarer bewusst, dass ich als Ordensmann auch nicht besser oder schlechter als einer von ihnen bin. Ich darf aber dankbar sein, dass mein Leben an den entscheidenden Stellen eine Richtung genommen hat, die mich glücklich sein lässt und aus der auch eine Verantwortung für andere Menschen erwächst. Mit anderen Worten: Die Jugendlichen im Arrest haben mich meiner Berufung zum Jesuiten näher gebracht.

Als ich später nach München kam, um mit meinem Philosophiestudium zu beginnen, wurde der neue Ort meines Nebenexperiments ein Flüchtlingswohnheim, das vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten betrieben wird. Freitagnachmittags half ich den Kindern der Unterkunft bei ihren Hausaufgaben und spielte anschließend mit ihnen. Aufgrund des schönen Wetters im Sommersemester wurde die Hausaufgabenhilfe immer mehr zur spielerischen Nachmittagsgestaltung mit den Kindern, von denen die meisten im Grundschulalter waren.

Die ganze Woche beschäftigte ich mich mit hochspekulativen und schwierigen philosophischen Konzepten. Dann kam der Freitag und ich wurde durch das Spielen mit den Kindern auf ganz andere Weise gefordert. Dort kann man sich nicht hinter Konzepten und schönen Worten verstecken, sondern die Kinder merkten, ob ich gerade authentisch da war und sie einfach so mochte, wie sie gerade da sind. Während ich also unter der Woche im Denken geschult wurde, ging ich am Freitagnachmittag in die Herzensschule bei den Kindern in der Unterkunft.

Anfangs ertappte ich mich dabei, wie ich "politisch" an dieses Nebenexperiment heranging. Ich sagte mir, wie wichtig es denn sei, gerade in dieser Zeit zu Flüchtlingen zu gehen. Die Kinder aber sahen sich selbst nicht besonders als Flüchtlingskinder aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan, sondern einfach als Kinder. Ähnlich wie die Jugendlichen im Arrest lehrten die Kinder im Flüchtlingsheim mich, sie jenseits der politischen Diskurse einfach als Kinder zu sehen.

Letztlich ist wohl genau das der Sinn der Nebenexperimente, dass wir uns durch den Kontakt mit Menschen, die am Rand stehen und mit denen wir sonst nichts zu tun haben, anfragen lassen. Wenn wir aus unseren selbstgebauten Blasen ausbrechen, kann es sein, dass so manche vereinfachenden Konzepte und Vorurteile auseinanderbrechen. Genau das hilft mir aber wieder, offener und damit liebevoller auf meine Mitmenschen zuzugehen. Insofern hoffe ich, auch so ein Jesuit zu werden, der sich das Nebenexperiment auch nach der Ausbildung erhält.

Autor:

Gerald Baumgartner SJ

Gerald Baumgartner wurde 1994 in Oberösterreich geboren. Er machte seinen Zivildienst in Jerusalem und studierte daraufhin in Graz Theologie. Dort lernte er auch die Jesuiten kennen und trat 2016 ins Noviziat in Nürnberg ein. Nach seinem Philosophiestudium in München hat er im Libanon Arabisch gelernt und im Sozialbereich mitgearbeitet. Von Sommer 2021 lebte er für zwei Jahre in Homs (Syrien) und war dort in der Jugendarbeit tätig. Seitdem schließt er seine theologischen Studien an der Theologischen Fakultät in Innsbruck ab.

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