• Hannah Arendt auf dem ersten Kulturkritikerkongress, 1958
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Bild 1: Adobe Stock; Bild 2: Wikimedia Commons (Barbara Niggl Radloff)

Neu geboren werden

„Fürchtet euch nicht!“ heißt es in der biblischen Weihnachtsgeschichte. Ihr seid „nicht geboren, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen“, fügt die US-amerikanische Philosophin Hannah Arendt hinzu. Die Freiheit des Menschen, immer wieder neu anfangen zu können, ist für sie der Dreh- und Angelpunkt. Was dieser Ansatz mit Weihnachten zu tun hat und konkret für unser Weihnachtsfest bedeutet, erklärt P. Karl Kern SJ in seiner Betrachtung zu Weihnachten als Menschheitsfest.

Die Weihnachtsgeschichte von der Geburt des göttlichen Kindes im Stall von Bethlehem (Lk 2,1–14) ist bis heute noch immer im allgemeinen Bewusstsein. Sie berührt religiöse wie nichtreligiöse Menschen. Weihnachten ist das christliche Fest geworden – ein Fest allerdings, das Religionsgrenzen sprengt. Um diese seltsame Attraktivität von Weihnachten zu verstehen, müssen wir nach einer weiten, umfassenden Antwort suchen.

„Natalität“

Hannah Arendt (1906–1975) zeigt uns einen ganz eigenen Blick auf die Weihnachtsgeschichte: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die ‚Frohe Botschaft‘ verkünden: ‚Uns ist ein Kind geboren‘.“ Die deutsch-jüdische, US-amerikanische Philosophin entwickelte in ihrem 1958 erschienenen Werk „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ den Begriff der „Natalität“ („Gebürtlichkeit“). Sie stellt die Freiheit des Menschen, immer neu anfangen zu können, in den Mittelpunkt ihrer Philosophie. Jeder „Neuankömmling“ hat die Fähigkeit, „selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln“.

Nicht Tod, sondern Geburt

Vielleicht ist diese jüdische Sicht auf die Weihnachtsgeschichte und das gesamte Neue Testament treffender als das, was christliche Theologen über Jahrhunderte gelehrt haben. Vor allem in der westlichen Variante christlicher Theologie standen die Passionsgeschichte und der leidende Heiland im Mittelpunkt: Jesus erlöste die Menschheit durch seinen Opfertod und rettete sie aus Sünde, Tod und Verderben. Das Kreuz wurde zum Zeichen der Erlösung.
Hannah Arendt dagegen sieht „das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet“, in der weihnachtlichen Geburtsgeschichte. Vergebung und Geburt machen einen neuen Anfang möglich. Dieser Neuanfang ist ein „Wunder“, „schlechterdings unerwartet und unberechenbar, denn er lässt sich nicht aus dem vorher Gewesenen und Geschehenden berechnen und vorhersagen“.

Wort, das Fleisch wird

Der Evangelist Johannes formuliert in seinem Prolog einen Basissatz, der sein ganzes Evangelium umgreift: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Damit ist das gesamte Leben Jesu in eine weihnachtliche Perspektive gerückt: Gott, der durch sein schöpferisches Wort alles erschaffen hat, setzt in einem Menschen aus Fleisch und Blut einen neuen Anfang. „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir auch euch“ (1 Joh 1,1–3).
Diese Sätze aus dem Ersten Johannesbrief beschreiben den Zauber des Anfangs: die leibhaftige Begegnung mit einem Menschen, der unerhört vertraut von und zu Gott sprach und dessen Augen einen unvergesslichen Glanz ausstrahlten. Dieser einzigartige Mensch ließ sich berühren und wandte sich zärtlich und heilsam anderen zu, besonders den Kranken und Ausgestoßenen. Er konnte Menschen faszinieren und Gemeinschaft stiften. Das Mitgefühl und die Weitherzigkeit, aber auch die Entschiedenheit und Souveränität Jesu bei Ablehnung und Widerstand und schließlich seine Treue bis in den Tod hatten sich tief in die Herzen seiner Anhängerinnen und Anhänger eingegraben. Dem Menschen Jesus begegnet und von seiner Person bleibend ergriffen zu sein, ist Anfang und Quintessenz des Christentums.

Jesus – der Neuanfang

Für den Evangelisten Johannes ist Jesus von Nazareth Ziel und Erfüllung der jüdischen Offenbarungsgeschichte. Ähnlich sehen es auch die anderen Verfasser des Neuen Testaments, die allesamt gläubige Juden waren und blieben. Die ersten Gefährtinnen und Gefährten Jesu erlebten seine intime Vertrautheit mit Gott in allem, was er sagte und tat. Jedes Wort, jede Geste war wie ein Fingerzeig auf den verborgen-anwesenden Gott Israels, den er seinen „Abba“ nannte.
Menschen, die ihm begegneten, spürten intuitiv: Mit ihm hat unser Gott einen neuen Anfang gesetzt. Der unfassbare Gott kam in ihm erfahrbar nahe – und doch blieb das göttliche Geheimnis gewahrt. Deshalb konnte der engere Kreis um Jesus ihn auch nur in Bildern beschreiben, die seine geheimnisvolle Gestalt umkreisten: als Brot, das ewiges Leben nährt, als Licht für jeden Menschen, als Tür zu Gott, als Hirt, der das Leben mit Gott hütet, schließlich als einen, der schon jetzt zu einem neuen Leben auferstehen lässt, je mehr sich Glaubende auf ihn einlassen und im eigenen Leben die verborgene Wahrheit entdecken – als Zuwachs an Freude, Frieden und Liebe sowie an innerer Lebendigkeit, die zur Tat wird.

Neuwerden aus Glauben

Doch Jesus, dieser unerhörte Neuanfang Gottes in Israel, wurde von der Mehrzahl in seinem Volk nicht erkannt, obwohl es viele gab, die ihm wohlgesonnen waren. Gleich beim ersten Jerusalembesuch suchte ihn im Schutz der Nacht ein angesehener Pharisäer und Ratsherr auf (Joh 3,1–21). Der alte Nikodemus spürte etwas von der besonderen Kraft, die von diesem Rabbi ausging.
Jesus will den anerkannten „Lehrer Israels“ zu einer existentiellen Neuorientierung animieren: Nicht mehr sein bisheriges Wissen allein soll seine Identität bestimmen, sondern eine geheimnisvolle Neugeburt „von oben“, aus dem Geist Gottes, der unverfügbar weht wie der Wind. Jesus lädt Nikodemus ein, sich vertrauensvoll zu öffnen für diese unsichtbare Kraft, die ihm entgegenkommt und die zum Tun der Wahrheit und zu existentieller Klarheit führt. Das wäre das „Wunder der Natalität“ im hohen Alter!
Nikodemus aber verstummt und bleibt ratlos vor der Möglichkeit dieses Wunders. Das Gespräch mit Jesus versandet und wird zum Monolog Jesu. Ein neuer Mensch zu werden, noch dazu in seinem Alter, ist für Nikodemus offenbar schwer vorstellbar. Doch die Grunderfahrung der ersten Christen war ein unerwartetes existentielles Verwandlungserlebnis: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17)! Mit diesen begeisterten Worten umreißt Paulus seiner Gemeinde in Korinth das neue Lebensgefühl.

Die Mitte des Evangeliums

Im Nikodemusgespräch fällt ein Satz, der die weihnachtliche Dimension des christlichen Glaubens prägnant zusammenfasst: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab“ (Joh 3,16). Dieser Glaube besagt: Der unergründliche und verborgene Gott hat sich in einem Menschen selbst mitgeteilt. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist die Mitte des Evangeliums! Christus spricht vor Nikodemus nicht von der „Hingabe“, sondern von der „Gabe“ des Sohnes. Nicht die Preisgabe Jesu in den Tod, sondern das freie Geschenk des Sohnes an die ganze Menschheit ist das innerste Motiv des Vaters!
Damit sind alle Menschen eingeladen, aus dem Geist der Gotteskindschaft, neue Menschen zu werden: initiativ, aktiv, verantwortlich und innengeleitet zu handeln – ganz im Sinne der Natalität Hannah Arendts. Der Eine, der „von oben“ kam, will, dass alle durch ihn „neu und von oben“ (griechisch „anothen“) geboren werden! Die vertikale Inkarnation soll sich in der Horizontalen fortsetzen – gleichsam als menschheitlicher Zug, der dem „Stern der Erlösung“, dem Menschgewordenen, folgt. Das ist die weihnachtliche Vision des Christentums!

Weihnachten 2024

In der Vorweihnachtszeit wurden wir von der allgegenwärtigen Werbung bestürmt. Gemeinsames Glück und Familienidylle werden auch in unserem individualistischen Zeitalter beschworen – trotz zunehmender Vereinzelung und brüchiger Beziehungen. Die Illusion von heiler Welt will allerdings in einer Epoche voller Zukunftsangst und vorausgeahnter Katastrophen nicht so recht greifen, erst recht nicht die Aussicht auf Frieden in Zeiten neuer Kriege. Wie dann Weihnachten 2024 feiern?
Die Weihnachtsgeschichte malt uns keine rosige, doch sehr wohl eine offene Zukunft. Im Zentrum: ein Wickelkind, später ein freier Mensch, den sein Gottvertrauen so stark machte, ein selbstbestimmter Mensch, der das Gesetz verantwortlichen Handelns nie aus der Hand gab. In unserem Zeitalter der Algorithmen, des statistisch vorausberechneten Verhaltens, der sozialen Kälte, des Egoismus, der politischen Krisen und der drohenden globalen Katastrophen brauchen wir alle den Segen und die Kraft der Weihnachtsbotschaft – mit den Worten von Hannah Arendt und der Bibel: „Fürchtet euch nicht“, ihr seid „nicht geboren, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen“!

Von P. Karl Kern SJ

Dieser Text erscheint auch im Weihnachtsmagazin der Mediengruppe Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung.

Zur Person:

Karl Kern SJ

Pater Karl Kern SJ stammt aus Obernburg am Main in Unterfranken. 1968 trat er mit 19 Jahren in den Jesuitenorden ein und wurde 1976 zum Priester geweiht. Er hat als Hochschulseelsorger und Gymnasiallehrer gearbeitet. Ab 1996 hat er in Nürnberg die Cityseelsorge in der "Offenen Kirche St. Klara" aufgebaut. Von 2010 bis 2022 war er Kirchenrektor der Jesuitenkirche St. Michael in München. Seitdem ist er als Seelsorger sowie für das Fundraising der Hochschule für Philosophie in München tätig.

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