Interview mit dem Arzt und Jesuiten P. Eckhard Frick SJ über den Einsatz von Spiritualität in der Medizin, wie Patienten darauf reagieren und was sie zur Traumabewältigung bei geflüchteten Menschen beitragen kann. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie befasst er sich seit langem mit psychosomatischer Gesundheit und leitet die Forschungsstelle Spiritual Care am TUM Universitätsklinikum der Technischen Universität München.
Pater Frick, was genau versteht man unter Spiritual Care?
Spiritual Care bedeutet: In Medizin, Pflege und Psychotherapie entwickeln wir eine Sensibilität dafür, dass viele Menschen eine Erkrankung auch in einem existenziellen Sinn interpretieren, dass sie Krankheit über das rein Körperliche hinaus deuten und darin einen tieferen Sinn suchen. Wenn wir das als Ressource begreifen, können wir diese nutzbar machen für die Behandlung, denn die innere Haltung eines Patienten oder einer Patientin ist für die Therapie und Heilung von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Kann Krankheit denn irgendeinen Sinn haben?
Sicher nicht in dem Sinn, dass man der Patientin einen Sinn verabreicht wie eine Transfusion und er damit dann seine Krankheit in einem neuen, positiven Licht deuten könnte. Das wäre keine Therapie, sondern fehlgeleitete Verkündigung und würde die Autonomie der Patienten verletzen. Karl Jaspers hat sogar gemahnt, dass die Sinnfrage keine ärztliche oder psychotherapeutische Aufgabe sein dürfe.
Sondern?
Es geht darum, dass Ärzte und andere, die sich um den Patienten kümmern, aktiv erfragen und dann im weiteren Verlauf berücksichtigen, welche spirituelle Orientierung er hat. Wenn so etwas heute geschieht, dann nicht systematisch, sondern eher zufällig, weil Arzt und Patient ähnliche Orientierungen haben. Das sollten wir systematisieren und professionalisieren.
Warum ist das wichtig?
Nach dem heutigen Forschungsstand lässt sich gut begründen, dass die spirituelle Dimension eine potenzielle Ressource für die Verarbeitung und den Verlauf einer Krankheit darstellt.
Woran liegt es dann, wenn diese Ressource nicht besser genutzt wird?
Seit der klassischen Epoche Griechenlands besteht im abendländischen Denken die hippokratische Trennung zwischen Religion und Medizin. Neben der traditionelle Priestermedizin entstand im vierten vorchristlichen Jahrhundert die empirische, wissenschaftliche Medizin, die trotz des griechischen Götterhimmels bereits erstaunlich modern und säkularisiert war. Die Trennung zwischen Religion und Medizin blieb im Grunde bestehen in der abendländischen, jüdisch-christlich geprägten Tradition. Dadurch ist die Ressource, die in der Spiritualität von Menschen für die Medizin liegt, verlorengegangen. Gläubige Menschen wissen um diese Kraft. Muslime, die zu uns kommen, wundern sich über den rein biologisch-körperlichen Ansatz der Medizin. Dass es Dimensionen der menschlichen Existenz gibt, die darüber hinausreichen, ist fast so etwas wie ein Tabu. Wir sind stolz auf die Aufklärung. Aber wir zahlen dafür auch einen Preis, indem wir Schätze verloren haben.
Ist es wirklich ein Verlust, dass es keine Teufelsaustreibungen mehr gibt?
Natürlich gab und gibt es immer die Gefahr einer pathologischen Religiosität. Und schon immer ist Religion auch missbraucht worden, um Menschen einzuschüchtern, zu kontrollieren oder zu unterdrücken. Daher darf Spiritual Care auch keinen Sinn, keine Erklärung für Krankheit oder Heilung vorgeben. Wir dürfen aber auch nicht aus Angst um die Autonomie des Patienten das Spirituelle meiden oder gar tabuisieren. Der Mittelweg ist richtig: das Spirituelle berücksichtigen, ohne etwas vorzugeben.
Wie geht das?
Zunächst, indem wir den Patienten in einer spirituellen Anamnese fragen: Ist er ein gläubiger, spiritueller, ein religiöser Mensch? Welchen Platz hat diese Dimension in seinem Leben? Wie praktiziert er sie? Ist er integriert in einer religiösen Gemeinschaft?
Wie reagieren Patienten auf solche Fragen?
Die meisten sind zunächst überrascht. Sie fragen sich, wieso sich die Ärztin jetzt nicht nur um die körperliche Dimension kümmert. Sehr wichtig ist deshalb das Taktgefühl des Arztes. Der Patient muss selbst definieren, worüber er reden möchte und worüber nicht.
Ist das Bedürfnis nach Religion und Spiritualität in einer immer säkulareren Gesellschaft tatsächlich so groß?
Auch wenn die Bindungskraft der christlichen Kirchen schwächer wird – nicht nur organisatorisch, sondern auch was ihre Botschaft betrifft – sind doch viele Menschen in einer spirituellen Suchbewegung. Wir dürfen uns als Kirchen und Theologen nicht dagegen verschließen und sie abtun, nur weil diese Suche nicht mehr innerhalb der Kirchen stattfindet und sie auch immer seltener zu den Kirchen führt. Das spirituelle Suchen existiert, und wir tun gut daran, es anzunehmen und damit umzugehen, eben auch in der Medizin.
Aber ist das wirklich die Aufgabe des Arztes?
Wenn er das Beste für seinen Patienten will: ja. Aber natürlich nicht nur. Spiritual Care geht auch die Familie und die Angehörigen eines Patienten an, ebenso wie Pflegende, Therapeuten, natürlich die Seelsorgenden in der Klinik, alle, die sich um den Patienten kümmern..
Sie schulen unter anderem auch Flüchtlingshelfer in Spiritual Care, wieso das?
Ja. Mit dem Online-Kurs ReSpirCare haben meine Kollegin Prof. Dr. theol. Lydia Maidl und ich ein Angebot entwickelt speziell für Menschen, die Geflüchtete betreuen. Ziel ist es, ihnen eine Professionalität und ganz konkrete Tools zu vermitteln, damit sie sich einen Eindruck von der religiös-spirituellen Orientierung eines Menschen verschaffen können und diese dann nutzbar zu machen – sowohl für die Betroffenen zur Verarbeitung von oft schweren Erfahrungen wie auch für die Helfenden zur Selbstsorge.
Warum ist das wichtig?
Die meisten Geflüchteten kommen aus Kulturkreisen, in denen die Religion eine wichtigere und für die Persönlichkeit prägendere Rolle spielt als hierzulande. Wir behandeln im Kurs aber auch mögliche belastende Faktoren, die im religiösen Kontext wirken können. Angesichts dessen hatte ich mich gewundert, dass man diese Kraftquelle, die Religion ja für viele Menschen ist, nicht besser nutzt, etwa in der Trauma-Therapie.
Wie kann Spiritualität da helfen?
Nicht wenige der Geflüchteten haben schlimmste Schrecken erlebt: eine lebensgefährliche Überfahrt übers Mittelmeer, den Tod anderer, manchmal den eines geliebten Menschen, im schlimmsten Fall des eigenen Kinds, ohne dass sie womöglich etwas tun konnten. Diesen individuellen Traumata gegenüber stehen in den drei abrahamitischen Religionen kollektive Gewalterfahrungen, die von den Religionen sinnstiftend interpretiert wurden: die Versklavung und Flucht aus Ägypten für die Juden, der Kreuzestod Jesu für die Christen, die Hidschra des Propheten für die Muslime. Existenzielle Erschütterungen zu thematisieren, entspricht dem ureigenen Gehalt von Religion. Sie kann daher bei der Verarbeitung existenziell erschütternder Erfahrungen hilfreich sein.
Woher weiß man denn, ob für den einzelnen Religion wirklich eine Kraftquelle ist – oder nicht doch negativ, belastend, unterdrückend empfunden wird?
Indem man die Menschen fragt. Natürlich gibt es sehr autoritäre Gottesbilder, die den Menschen schwächen, klein und schuldig machen. Einen Gott, der durch Schicksalsschläge oder Krankheit straft. Wenn jemand ein solches Gottesbild hat, dann prägt genau dieses Bild seine Spiritualität, auch wenn wir es als falsch empfinden. Spiritual Care wird nicht versuchen, dem Patienten sein Bild auszureden – sondern es zu verstehen versuchen und als Ressource anzuerkennen.
Das klingt nicht einfach.
Ist es auch nicht. Es geht dabei im ersten Schritt ums richtige Sprechen darüber, dann ums Verstehen, schließlich darum, wie es gelingt, den Schatz der Spiritualität dieses Menschen zu heben. Für alle drei Schritte bedarf es einer Professionalität.
Ihre Professur für Spiritual Care ist an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Technischen Universität München angesiedelt. Ist die spirituelle Dimension vor allem etwas für Sterbende?
Auf keinen Fall. Spirituelle Fragen finden sich im ganzen Leben in allen Krisen, Phasen des Übergangs – aber auch in Momenten tiefen Glücks und großer Freude. Aber natürlich haben viele Sterbende einen ganz besonderen Bedarf an Religion und Spiritualität.
Das ist dann der Moment, wenn früher nach dem Priester gerufen wurde. Kommt da heute der Arzt?
Nein. Ärzte und Seelsorger haben unterschiedliche Aufgaben, auch wenn beide Berufe dieselbe Grundkompetenz erfordern, dem Patienten aufmerksam und sensibel zu begegnen. Der klassische christliche Krankenhausseelsorger kommt mit dem Schatz unserer jüdisch-christlichen Tradition, mit den vertrauten Ritualen und Erinnerungen. Der Seelsorger verkündet und tut das mit einer eigenen Authentizität, die sich von seiner kirchlichen Sendung herleitet. Das ist der große Unterschied zum Arzt, der auch authentisch sein soll, aber eben nicht authentisch durch die Sendung, sondern durch seine Kompetenz. Es geht nicht darum, Ärzte zu Seelsorgern zu machen oder Seelsorge zum Gesundheitsberuf. Wenn beide Spiritual Care als eine Chance aufgreifen und sich nicht defensiv, Besitzstand wahrend abgrenzen, profitieren beide – und vor allem der Patient!
Interview: Gerd Henghuber
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Spiritual Care | Professur für Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit