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Pater Karl Kern in der Kirche St. Michael in München
Bild 2: Society of Jesus

Pater Karl Kern SJ: Ist der Friede Jesu realisierbar?

Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind ein Grundmanifest für die Lebensvision Jesu. Mit ihnen skizziert der Mann aus Nazareth auch eine Art Selbstporträt. Einer seiner markanten Sätze lautet: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,9)! Für Jesus ist der Friede etwas Aktives. Der Friede erfordert den Einsatz des ganzen Menschen. Denn „Frieden“ ist für ihn kein selbstverständliches Gut, sondern man muss ihn „stiften“. Jesus selbst wollte in einer religiös, wirtschaftlich und politisch zerklüfteten Gesellschaft, in seinem von der Weltmacht Rom besetzten Heimatland eine innerjüdische Sammlungsbewegung initiieren, eine Friedensbewegung im umfassenden Sinn, die Israel neu seinem Gott zuführen und dann auf die ganze Welt ausstrahlen sollte.

Gescheiterter Friedensstifter

Mit dieser Mission ist Jesus gescheitert. Er drang mit seiner Botschaft beim breiten Volk nicht durch. Wichtiger als der sichtbare Erfolg seiner Friedensmission war ihm, dass er einer weiteren Seligpreisung als Lebensmaxime treu blieb: „Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Das ist spiritueller, wahrer Friede: ein universales und zugleich ganz persönliches, das heißt von innen her geformtes Lebenskonzept, das aus der Einheit mit dem allbarmherzigen Gott kommt und deshalb Frieden für alle stiften will. Das ist christlicher Friede im Vollsinn des Wortes. Nietzsche schrieb einmal sehr lakonisch, vielleicht gar prophetisch: „Es gab im Grunde nur einen Christen und der starb am Kreuz“ (Der Antichrist).

Christlicher Friede

Aus reinem Herzen Frieden zu stiften, überfordert jeden. Deshalb heißt es, sein Vermächtnis an den inneren Jüngerkreis im Abendmahlssaal zu bedenken: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“ (Joh 14,27). „Friede“ ist hier nicht aktives Handeln, sondern eine Gabe Jesu, die er verheißt. Am Ostertag wird er dieses Versprechen einlösen. Er tritt geheimnisvoll durch verschlossene Türen ein und durchbricht den Ring der Angst. Daraufhin breiten sich Freude und Vergebung aus (vgl. Joh 20, 19-23). Christlicher Friede ist nur im Zusammenspiel von Gott und Mensch als Gabe und Aufgabe möglich.

Weltlicher Friede

Der weiteste Begriff weltlichen Friedens lautet: Frieden ist die Abwesenheit von Krieg. Jesus sieht dagegen den gewaltsamen Verlauf der Geschichte voraus: „Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! … Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben“ (Lk 21,9-10). Unser Traum von Frieden meint oft: „Ich wünsch mir nur eines: Frieden in der Familie!“ Auch dieses Ideal gehört nicht zu den Verheißungen Jesu: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34)! Er will keinen faulen Harmoniefrieden, auch nicht im engsten Kreis. Jesus steht ein für einen tieferen und umfassenderen Frieden. Das Kreuz ist für ihn ein Zeichen für Frieden und Versöhnung! Gott wollte „durch ihn alles versöhnen ..., der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut“ (Kol 1,19f).

Gewaltloser Friede

Die gängige Logik zur Friedenswahrung ist das Gleichgewicht des Schreckens. Jesus sieht sehr klar: Den Mächtigen geht es um ihre Macht, und die wird meist zur Unterdrückung der Völker missbraucht (vgl. Mk 10,42). In der Ölbergszene will einer der Jünger den Meister mit dem Schwert verteidigen. Jesus verwehrt ihm das: „Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Mt 26,52). Weltgeschichte als dauernder Machtkampf wird für Jesus nur in immer neuen Katastrophen enden. Seine Gegenstrategie: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand“ (Mt 5, 39)! Natürlich meint er: Leistet dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln Widerstand! Vielmehr mit intelligenten, oft verblüffenden Lösungen der Gewaltlosigkeit! „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ Der Schlagende müsste für die linke Wange seinen anderen Arm benutzen oder, was als besonders entehrend galt, mit dem Handrücken schlagen. Auf diesen Moment des Innehaltens kommt es Jesus an.

Protest gegen Gewalt

Es geht Jesus um den symbolischen Protest gegen den Regelkreis der Gewalt. Durch aktive, provokative Kontrasthandlungen soll ein anderes Verhalten geweckt und freigesetzt werden. Solche paradoxen Interventionen wirken durch ihren Überraschungseffekt und können nicht dauernd wiederholt werden. In unseren Tagen sollten wir in der Diskussion um Waffenlieferungen und die indirekte Beteiligung am Krieg Russlands gegen die Ukraine unterschiedliche Entscheidungen von Christen akzeptieren. Es gibt keine christlich normierten Patentlösungen, wohl aber die christliche Grundvision von Gerechtigkeit und Frieden für alle.

Feindesliebe

Gipfel jesuanischer Friedensethik ist ohne Frage die Feindesliebe: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet …“ (Mt 5,43-45). Jesus spricht hier vom Feind in ungeschminkter Härte. Er begründet seine Forderung mit der Einsicht, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Der Leitfaden für alle seine Forderungen ist die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20). Jesus will nicht einfach ein quantitatives „Mehr“ an menschlicher Eigenleistung, sondern er lädt ein, sich von der überfließenden Liebeskraft Gottes ergreifen zu lassen. Feindesliebe ist das Zeichen von Gottes Ja zu jedem Menschen.

Die Besatzungsmacht

Jesu politische Einstellung verdeutlicht der Satz: „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“ (Mt 5,41)! Ein römischer Soldat konnte nach Besatzungsrecht jeden zwingen, sein Gepäck eine Meile weit zu tragen. Wieder rät Jesus zu einer überraschenden Intervention: Geh einfach noch eine Meile mit! Dabei könnte sich ein entspanntes Gespräch entwickeln! Wiederum sehen wir das Muster: Die Welt Gottes bricht in die reale Welt von Herrschaft und Gewalt ein. Mit dieser Strategie des gewaltfreien langen Atems wäre es nicht zum jüdischen Krieg und dem Verlust der Eigenstaatlichkeit Israels gekommen. Die „Sanften“ werden nach der Vision Jesu „das Land erben“ (vgl. Mt 5,5).

Impulse für heute

Doch welche Impulse lassen sich aus Jesu Friedensbotschaft heute gewinnen? An folgenden Richtlinien sollten wir uns orientieren:

• Das Christentum ist eine universale Friedensbewegung, ein realer, verantwortungsbewusster Pazifismus. Konkrete Schritte auf die Friedensvision Jesu hin verlangen eine realistische Analyse bestehender Machtverhältnisse, gepaart mit der Hoffnung auf das schier Unmögliche.

• Christen sollten mit Formen des gewaltlosen Widerstandes vertraut und gleichzeitig soweit militärisch gerüstet sein, dass man sich auch mit Gewalt verteidigen könnte. Verteidigungskriege sind legitim.

• Seit der Enzyklika „Pacem in terris“ von 1963 ist der Einsatz von Atomwaffen durch nichts zu rechtfertigen. Das war die Antwort von Johannes XXIII. auf Mauerbau und Kubakrise. Ein Atomkrieg zerstört, was er schützen soll. Konflikte im atomaren Zeitalter sind „nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen“.

• Auch im Krieg muss man miteinander reden, selbst wenn kein Friedenswille vorhanden ist! Es führt kein Weg an Verhandlungen vorbei!

• Der Ausgleich für alle muss das Ziel sein. Siegerrhetorik hilft nicht weiter. Die bedächtige Art des Bundeskanzlers ist zielführender.

• Unsere Sprache sollte auch im Krieg bei aller klaren moralischen Position nüchtern bleiben und nicht in Propaganda oder moralischen Rigorismus abdriften.

• Lüge, Angst und Machtbesessenheit sind die Väter des Krieges. Auch wenn wie im Ukraine-Krieg der Aggressor klar benannt werden muss, ist jedoch vor aller Schwarz- Weiß-Malerei zu warnen.

• Feindesliebe heißt: Den Gegner auch in seiner Verstiegenheit und Lüge verstehen lernen und den ersten Schritt auf ihn zu wagen.

• Keine noch so verworrene Lage ist aussichtslos. Der Christ vertraut, auch wenn er nicht weiter weiß, auf die Kraft und die Möglichkeiten Gottes.

• Die Politik jeder Konfliktpartei sollte auf die Mütter hören. Sie sind Anwältinnen des Lebens und damit Anwältinnen Gottes!

• Eine christliche Weltsicht weiß, dass jede irdische Macht und Diktatur ein Ende haben wird.

• Die christliche Weltsicht ist empfindsam für das Leid der Opfer. Das Kreuz ist ein Zeichen des Protestes gegen die Empfindungslosigkeit der Gewalttäter.

• Der Friede und die Toleranz zwischen den Religionen ist Voraussetzung für den Weltfrieden.

• Die Rede vom „heiligen Krieg“ sollte aus allen Religionen verbannt werden. Sie ist eine Schande für das Christentum.

• Für die Menschheit ist die Frage des universellen Friedens die Überlebensfrage: Ökologisches Gleichgewicht, soziale Gerechtigkeit für alle und internationaler Ausgleich müssen ins Gleichgewicht kommen.

Die große Lebensvision Jesu war nichts anderes als die Verwandlung unserer Welt in die Welt Gottes, die einmal als neue Schöpfung kommen wird. Ist der Friede Jesu realisierbar? Für Menschen unmöglich, aber nicht für Gott! Der Friede Jesu ist realisierbar für Menschen, die die Geisteskraft Gottes in sich einlassen, sich für Frieden einsetzen und selbst im Scheitern aller Friedensbemühungen an den Sieg des göttlichen Friedens glauben.

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