Industrie, Gesundheitswesen, Verkehr, Religion – das sind nur vier der unzähligen Einsatzbereiche von Künstlicher Intelligenz (KI). Moment. Religion? Dieser Zusammenhang liegt auf den ersten Blick nicht auf der Hand. Dass Religion und KI sehr wohl zusammenpassen, wie KI religiöse Aufgaben übernehmen kann und ob es eines Tages Technopriester geben wird, darüber spricht der Organisationsforscher Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani im Interview. Er schlägt vor, dass Religionen eigene Standpunkte zur KI entwickeln und sich an der Diskussion beteiligen.
Herr Prof. Dr. Dr. Al-Ani, wie passen Religion und Künstliche Intelligenz zusammen?
In dem Maße, in dem der Mensch mit Technologie verschmilzt, sollte sich Religion mit Technologie und KI befassen. In einem posthum erschienenen Interview des Philosophen Martin Heidegger wies dieser bereits 1966 darauf hin, dass der Mensch von der Macht der Technik, die er selbst nicht mehr beherrscht, extrem beansprucht wird. Überraschenderweise suchte Heidegger auch im religiösen Kontext nach Antworten und Handlungsanleitungen, wenn auch in einer eher apokalyptischen Art und Weise: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“ Und auch wenn nicht ganz klar ist, wie das gemeint war, bleibt die Vorstellung, dass es sich hier um eine völlig neue Situation handelt, die den Menschen herausfordert, weil dieses System so mächtig, so umfassend wird.
Wollen Religionsgemeinschaften überhaupt etwas mit KI zu tun haben?
Kirchen in Deutschland arbeiten bereits mit digitaler Technologie, stimuliert vor allem durch die Abhaltung von Online-Gottesdiensten während der Pandemie. Man könnte vermuten, dass viele Gläubige eher technologisch konservativ eingestellt sind. Umso auffälliger ist die Erkenntnis der aktuellen Studie „Digitalisierung im Raum der Kirchen“, dass zwanzig Prozent der Gläubigen religiösen Influencern folgen.
KI spielt in dieser Befragung allerdings noch kaum eine Rolle. ChatGPT und andere sogenannte „Large Language Models“ sind Entwicklungen, die erst letztes Jahr ausgerollt wurden. Sie haben das Bild aber schon dramatisch verändert. Ich vermute, dass zum Beispiel nun Predigten mit dieser Technologie entworfen beziehungsweise redigiert, religiöse Standpunkte aus Texten abgerufen, Fragen von Gläubigen und Lernenden beantwortet werden und der Schriftverkehr unterstützt wird. Das funktioniert mit diesen Systemen erstaunlich gut.
Was sehen Sie noch für mögliche Anwendungsbereiche?
Vom Zielzustand her kann man sich vorstellen, dass Künstliche Intelligenz eine Partnerin des Menschen werden soll. Diese soll alle menschlichen Interaktionen mitsteuern und unterstützen. Das gilt auch für das Generieren von religiösen beziehungsweise philosophischen Grundlagen für alle möglichen Entscheidungen.
Künstliche Intelligenz kann heute schon beim Suchen religiöser Inhalte in Texten helfen. Sie kann diese interpretieren und so zu einem spirituellen Wegweiser für mich werden. Sie kann mich bei religiösen Ritualen unterstützen und im Prinzip eine Art geistige Hilfe für mich darstellen. Der Vorteil dieser Partnerin ist, dass sie 24 Stunden, sieben Tage die Woche ortsunabhängig verfügbar ist und sich sogar auf mein Nachfrageprofil einstellen kann. Die Beziehung zu mir wird so stetig vertieft und mehr Vertrauen geschaffen.
Kann KI den großen Sinnfragen des Menschen begegnen?
Heute verwenden wir mit dem Maschinellem Lernen eine schwache Form der KI, welche Antworten auf Basis verfügbarer Daten und Informationen generiert. Die letzten, großen Fragen kann KI derzeit nur im Rahmen verfügbarer Informationen beantworten. Es ist umstritten, ob KI irgendwann eigenes Wissen generieren kann oder nur neue Zusammenhänge erkennt, was aber auch schon sehr viel ist.
Beim Thema Vergänglichkeit und Leben nach dem Tod allerdings kann KI heute schon eine gewisse Abhilfe schaffen. Künstliche Intelligenz kann Avatare eines Menschen generieren, diesen so vor dem Vergessen bewahren und damit in gewisser Weise am Leben erhalten. Museen arbeiten schon an experimentellen digitalen Systemen, welche Informationen über Personen archivieren und deren Fertigkeiten nach ihrem Tod wiedererlernbar machen. Vielleicht haben diese Avatare irgendwann sogar ein rudimentäres Bewusstsein?
Können Sie sich vorstellen, dass KI eines Tages Religionsvertreter wie Priester oder Gurus ersetzen wird?
Das ist eine Frage, die man sich in allen Lebensbereichen stellen muss, in denen KI menschliche Aufgaben und Entscheidungen übernehmen kann. Tendenziell würde ich das so sehen. Ich denke, dass es im ersten Schritt zwar nicht zu einer Substitution, aber durchaus zu einer Unterstützung der Religionsvertreter durch Künstliche Intelligenz kommt. Sie werden dann durch die Nutzung dieser Tools – unwissentlich – zu Trainern der KI in religiösen Fragen. Je besser, umfangreicher und mächtiger KI durch diese eingelesenen menschlichen Erfahrungen wird, desto größer werden dann auch die Möglichkeiten einer Substitution.
Was können Religionsvertreter, das KI niemals können wird? Sofern es so etwas gibt.
Es gibt Prognosen, die davon ausgehen, dass Künstliche Intelligenz noch in diesem Jahrzehnt genauso klug oder klüger als der Mensch sein wird, vielleicht bald klüger als alle Menschen zusammen. Bleibt die Frage, ob nicht das menschliche Bewusstsein einen maßgeblichen Unterschied zur KI darstellt. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte, dass die Maschine durch ihre eigene Wirkung unbeeindruckt ist. Sie kann etwa nicht leiden. Heute können Systeme bereits Emotionen wie Trauer simulieren. Reicht das für eine emphatische Beziehung zwischen Mensch und Maschine? Zumindest die Large Language Models scheinen wohl den Turing-Test bestehen zu können: Es ist für das Individuum kaum mehr möglich, zu erkennen, dass es mit einer Maschine kommuniziert.
Was bleibt dann noch ausschließlich menschlich?
Eine positive Vision der Menschheit ist, dass Maschinen und KI dazu verwendet werden, um die menschlichen Grundbedürfnisse zu decken. Aber auch, um dem Individuum die Möglichkeit zu bieten, selbstgesteuerter Dinge und Leistungen zu erstellen und so zum Beispiel eine Arbeit zu verrichten, die das Individuum wirklich, wirklich tun will – und nicht nur ein passiver Konsument ist, dessen Talente durch die Arbeitsteilung verschüttet wurden. KI ist eine Partnerin, die etwa künstlerische Ausdrucksweise verstärken, aber auch meine Arbeitsfertigkeiten steigern kann.
Technologie hat also das Potenzial, den Menschen von vielen Zwängen zu befreien. Damit wird aber klar, dass die Menschheit einen gesellschaftlichen Plan braucht, wie mit dieser Technologie zu leben und diese Befreiung zu erreichen ist. Warum sollten denn die bisherigen Machtstrukturen eine solche Befreiung tolerieren? Bei der Entwicklung dieses Plans können auch Religionen eine Rolle spielen.
Wäre es möglich, dass KI eine ganz neue Religion entwirft?
Large Language Models können auf Basis der vorhandenen religiösen Texte und Informationen synthetische religiöse Ansichten und vielleicht auch rudimentäre Religionen generieren. Was wären die menschlichen Interessen dahinter? Sollen zum Beispiel bestehende Religionen angepasst oder Nischenreligionen gestärkt werden?
Es ist eine spannende Frage, ob KI zu mehr Religiosität führen wird, weil ich mir mein eigenes spirituelles, philosophisches Weltbild zimmern, quasi personalisieren kann. Wie gehen dann große Religionen damit um, dass ihre Inhalte adaptiert und neu kombiniert werden können? Damit ist ein gewisser Kontrollverlust verbunden. Auf jeden Fall ist erwartbar, dass die Inhalte durch die neue technologische Form verändert werden.
Kommen wir mit KI in die Sphäre des Göttlichen hinein?
Man wird Künstliche Intelligenz auch dazu verwenden, um globale Systeme mit ihren ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Gesetzmäßigkeiten besser zu verstehen. Wenn ich all die heute verteilten Informationen zusammenführe und analysiere, entsteht hier so etwas wie ein KI fundierter „Gaia-Zwilling“ – ein Abbild unseres Planeten, der Menschheit, aller Lebewesen und der Natur und ihrer Interdependenzen. Das ist ein extrem mächtiges und allwissendes System, das nicht nur Dinge transparent machen, sondern auch Vorhersagen treffen kann: über das Wetter, das Klima, aber auch über menschliche Verhaltensweisen. So ein mächtiges System kann ich auch mit religiösen Partikeln aufladen, weil dieses System alles weiß, sogar die Zukunft.
Dieses System würde die Gott zugeschriebenen Fähigkeiten durchaus schon übersteigen. Im Christentum und Islam etwa ist es so, dass der Mensch selbst entscheidet, ob er gläubig ist oder nicht. Gott kann ihm das nicht aufzwingen und hier auch nicht das Verhalten des Individuums prognostizieren. Diese Systeme können allerdings mein Verhalten ziemlich gut vorhersagen bzw. meine Entscheidungen steuern.
Wird die KI auch allmächtig sein?
Die Technologie tut zunächst das, was der Mensch programmiert. Deswegen würde ich als Politikwissenschaftler nicht nur technologische Fragen stellen, sondern vor allem verstehen wollen, von welchen Menschen die KI-Zivilisation gesteuert werden soll und wieviel Macht ihnen zugestanden wird. Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz war bisher kein politischer oder gesellschaftlicher Prozess, sondern ein Projekt, welches von einzelnen Individuen, Institutionen und Unternehmern getragen und in abgeschotteten Konferenzräumen und Laboren diskutiert und entwickelt wurde.
Die Menschen, die hinter diesen Systemen stecken, haben nun eine Macht, die fast unvorstellbar erscheint. Wenn KI immer komplexer wird, werden immer weniger Personen in der Lage sein, diese Systeme zu verstehen und zu beherrschen. Man könnte überlegen, ob diese Techno-Elite dann nicht schon etwas Priesterhaftes annimmt. Schon heute kann man das erahnen, etwa wenn diese Gurus in ritualisierter Form ihre Produkte dem verzückten Publikum vorstellen. Und haben manche Tech-Stores nicht schon etwas Sakrales?
Werden auch Religionen anfangen, sich an dieser Entwicklung zu beteiligen? Die Frage nach einer gerechten Gesellschaft ist durchaus eine, die religiöse Institutionen und Gemeinschaften auf den Plan rufen sollte. Es gibt etwa auf universitärer Ebene bereits erste Projekte und Gruppierungen, die das versuchen. Die Frage wird sein, ob und wie sich Religionsgemeinschaften an dieser Entwicklung, die kein inklusiver Prozess ist, noch beteiligen wollen oder überhaupt können.
Interview: Eva-Maria Hartinger