• Religionsunterricht während der Wallfahrt der fahrenden Völker in Saintes-Maries-de-la-Mer, Südfrankreich.

Seelsorge mit den Fahrenden

Die Schweiz beging im 20. Jahrhundert einen kulturellen Genozid. Die Familien der fahrenden Völker wurden zwischen 1926 und 1973 systematisch auseinandergerissen. Als Seelsorger der Fahrenden frage ich mich: Wo stehen die Jenischen und Sinti heute in unserem Land? Was bedeutet ihre Geschichte für eine kirchliche Pastoral, die ihrer Kultur angemessen ist?

Genozid wird in Artikel II der UNO-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes unter anderem so definiert: «Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind», sowie «gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe», um die Identität eines Volkes auszulöschen. Genau das wurde im 20. Jahrhundert in der Schweiz während nahezu 50 Jahren praktiziert mit dem Ziel, die nomadischen Kulturen in unserer Gesellschaft zum Verschwinden zu bringen.

In diesem Zeitraum wurden mindestens 1100 Kinder von Eltern der Jenischen und der Sinti weggenommen und in Institutionen oder Familien der sesshaften Bevölkerung platziert. Die Dunkelziffer ist hoch, oft wurde Akteneinsicht verweigert; Studien rechnen mit insgesamt mehr als 2000 Fällen. Hauptbeteiligte waren die Stiftung Pro Juventute mit der Aktion Kinder der Landstrasse unter der Leitung von Alfred Siegfried, seiner Mitarbeiterin Ordensschwester Clara Reust und seinem Nachfolger Peter Döbeli. Siegfried hatte die Aktion Kinder der Landstrasse auf der Grundlage der Rassentheorien Josef Jörgers und Robert Ritters gegründet. Obwohl diese Praxis des Kinderraubs seit Jahren bekannt war, wurde sie erst 1973 – ein Jahr nach Siegfrieds Tod – beendet: Mittels einer Kampagne von Hans Caprez in der Zeitschrift Beobachter war der Druck auf Nachfolger Döbeli sowie auf einige einflussreiche Leute in Politik und Gesundheitswesen genügend gross geworden. Siegfried und Döbeli wurden zudem wegen sexuellem Missbrauch an Kindern verurteilt. Alfred Siegfried als Französischlehrer bereits vor der Gründung von Pro Juventute, Peter Döbeli nach 1973. Auch hier ist festzustellen: Wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich Opfer ihrer Gewalt wurden, ist und bleibt wegen fehlender Akten eine offene Frage.

Eine problematische Rolle spielten auch kirchlich getragene Institutionen wie das Seraphische Liebeswerk Solothurn, 1919 als Sozialwerk der Kapuziner gegründet. Kindern sollte ein Zuhause vermittelt werden, deren Eltern dazu nicht im Stande waren – im Fokus aber stand die beabsichtigte Ausrottung der nomadischen Lebenskultur. Das Seraphische Liebeswerk Solothurn wurde zur «Drehscheibe in der katholischen Deutschschweiz» für die zwangsweisen Fremdplatzierungen von Kindern der fahrenden Völker und selbst für die Trennung von Geschwistern.

Dass die katholische Kirche in der Schweiz nicht viel früher schon zur Verteidigung der Jenischen und Sinti schritt, und dass sie als internationale Institution bis in die Gegenwart so massiv in die Skandale von geistlichem und sexuellem Machtmissbrauch und deren Vertuschung verwickelt ist, bringt die katholischen Jenischen und Sinti gegenüber den evangelikalen Fahrenden immer wieder in Verlegenheit. Umso mehr erfahre ich als Verantwortlicher der katholischen Seelsorge für die Fahrenden in der Schweiz, wie viel ihnen jede positive Geste von Pfarreien und Ordensgemeinschaften bedeutet – etwa wenn sie für Versammlungen in Kirchen und Gemeindesälen willkommen sind oder andere Unterstützung erfahren. Was bei diesen pastoralen Begegnungen theologisch, ekklesiologisch und kulturell auf dem Spiel steht, möchte ich weiter unten noch deutlicher ausführen.

Heute sind die Jenischen und Sinti als Minderheiten gemäss ihrer Selbstbezeichnung anerkannt, was allerdings nur schrittweise möglich wurde; dies auch dank des in Europa fortschreitenden Prozesses im Zusammenhang mit dem Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, an dem die Schweiz teilhat. Mittlerweile wurde die nomadische Kultur sogar in den Schweizer Katalog der Lebendigen Traditionen aufgenommen.

Dennoch braucht es wohl noch einige Schritte zur Sensibilisierung des kollektiven Bewusstseins in der Schweizer Bevölkerung. So begegnen die Fahrenden im Alltag immer noch oder neu wieder zahlreichen Formen von Diskriminierung und Ablehnung von Seiten der sesshaften Bevölkerung. Die Vorurteile gegenüber nomadisierenden Familien verhindern oft gute Kontakte. Die schmerzhafte Geschichte ist noch längst nicht aufgearbeitet – auch in der Gesellschaft der Sesshaften nicht, welche die eigene gewalttätige Vergangenheit im Grunde ignoriert.

Wenn Schweizer Fahrende heute einen Platz suchen, auf dem sie für ein, zwei Monate oder auch nur für drei, vier Wochen bleiben wollen, geschieht es immer wieder, dass Verantwortliche auf Gemeindekanzleien zwar sagen, laut Gesetz und nach ihnen persönlich seien sie willkommen. Doch ob sie auf diesem Parkplatz oder auf jener Wiese tatsächlich ihre Wohnwägen stationieren könnten, hänge von den Grundbesitzern ab. Das ist manchmal eine Firma, manchmal ein Bauer, manchmal auch die Gemeinde selbst. Gibt eine Gemeinde eine Zusage, kommt es oft zu aggressiven Aktionen aus der Bevölkerung, die mit alten Vorurteilen Angst in der Nachbarschaft wecken und gelingende Begegnungen verhindern. Es kommt auch zu Situationen, wo Bauern den Fahrenden zwar ein Feld als Platz vermieten, doch die Abgaben an die Gemeinde sind höher als die Miete, die sie von den Fahrenden verlangen können. Erneut eine verpasste Chance für einen guten gegenseitigen Kontakt.  – Ich beobachte an mir selbst, wie sehr sich die Grundhaltung gegenüber anderen Menschen auf die Art und Weise der Interpretation meiner Wahrnehmung auswirkt: Bin ich grundsätzlich misstrauisch gegen jemanden, empfinde ich sein oder ihr Verhalten viel schneller als etwas Störendes, Problematisches und potentiell Gefährliches. Und anders herum: Wo ich eine grundsätzlich positive Grundhaltung pflege, erfahre ich Begegnungen mit Menschen anderer Kultur oft als grosse Bereicherung. 

Seit dreieinhalb Jahren begleite ich als Seelsorger die katholischen Jenischen und Sinti in der Schweiz. Dabei erfahre ich aus erster Hand, wie gross einerseits die Erleichterung über ihre offizielle Anerkennung und kulturpolitische Wertschätzung ist. Andererseits bekomme ich auch mit, wie widersprüchlich die Entwicklung bezüglich ihrer konkreten gesellschaftlichen Akzeptanz ist. Besonders wertvoll sind für mich Kontakte wie zu L. Gerzner, der sich als fahrender Jenischer an die Aufarbeitung der Geschichte und die Überwindung der aktuellen politischen Situation macht. Von ihm lerne ich, was die Verfolgungen der Jenischen und Sinti im 19. Jahrhundert mit heutigen, subtileren Formen ihrer Diskriminierung zu tun haben. Sein jüngster Artikel «Die Schweiz, eine schmerzhafte Vergangenheit» hat mich dazu inspiriert, diesen Blog zu schreiben. Der Beitrag ist in der Zeitschrift NEVI YAG des Comité Catholique International pour les Tsiganes erschienen.  

Für mein eigenes Lernen ist der Kontakt zu Fahrenden enorm hilfreich. Sie vertrauen mir oft auch schmerzhafte Erinnerungen aus ihrer Kindheit an. Es gibt in der Schweiz aufgewachsene Menschen, jünger als ich (54), die kaum zur Schule gehen konnten, weil sie als Kinder bei Verwandten versteckt lebten. Aus Angst, fern der Eltern und Geschwister in ein Heim gesteckt zu werden oder weil sie im Heim oder in einer Familie als Fremdplatzierte schon im Kindesalter als Arbeitskraft ausgenutzt wurden.

Mit ihnen zu sein, zu feiern und festliche wie auch bildungsrelevante Veranstaltungen zu planen, ist für mich nicht immer einfach. Wenn es gelingt, sind es wunderbare Gelegenheiten, in eine andere Art zu denken hineinzuwachsen und anhand ihrer gelebten Kultur einen neuen Blick auf Glaube und Gesellschaft, Religion und Weltanschauung zu gewinnen.

Mit ihnen gemeinsam an einer inkulturierten Kirche zu bauen, die sich als Teil der vielfältigen Weltkirche in Einheit verbunden weiss, ist für mich ein herausfordernder und wundervoller Auftrag. Dabei bin ich gleichermassen froh um die konkrete Zusammenarbeit im Seelsorge-Team mit hauptamtlichen und ehrenamtlichen Fahrenden und Sesshaften wie auch um den kirchenamtlichen Rückhalt. Diesen Rückhalt erhalten wir von Jean-Marie Lovey, Bischof von Sitten, der uns mit Grosszügigkeit diese Mission anvertraut; auch durch kirchliche Dokumente, denen eine speziell den Kulturen der fahrenden Völker angepasste Pastoral zugrunde liegen. So zum Bespiel das Schreiben «Orientierung für eine Pastoral der Zigeuner» von 2005, worin betont wird:

«Sich mit Liebe und mit dem Wunsch, die Frohe Botschaft zu verkünden, bei den Zigeunern vorzustellen, ist allein nicht ausreichend, um [...] ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, denn die Geschichte hat ihr Gewicht und nach so viel erlittenem Unrecht, bleibt die Zigeuner-Bevölkerung misstrauisch gegenüber den Initiativen, mit denen – wer auch immer – in ihre Welt einzudringen versucht. Diese erste Haltung kann nur durch konkrete Beweise der Solidarität überwunden werden oder vielleicht, indem man ihr Leben mit ihnen teilt. Jede Bezeugung und jeder Akt gegenseitiger Vergebung bestärken dann das Vertrauen und die Solidarität, wodurch sie den Aufbau positiver Beziehungen zwischen den Zigeunern und den gağé [Sesshaften] fördern. Hier mögen die Worte Gehör finden, die der Heilige Vater Johannes Paul II., am 12. März 2000 an die Gläubigen richtete, als er um Vergebung für die Verfehlungen bat, welche die Mitglieder der Kirche im Laufe der Geschichte den Zigeunern angetan haben, bat.»

Dass ich als katholischer Seelsorger Teil einer überaus ambivalenten Institution bin, wo es neben vielen wichtigen prophetischen Zeugnissen und guten spirituellen Bewegungen auch zutiefst beschämende Geschichten gibt, macht mir die Arbeit nicht einfach. Umso wichtiger sind alle offiziellen Stellungnahmen, die das angetane Unrecht benennen und sich verlässlich hinter alle aufrichtigen Bemühungen stellen, die neue Wege zur Versöhnung und zum Aufbau einer geschwisterlichen Kirche suchen.

«Mit Christus nämlich, von dem sie [die Mission] ausgeht, verschwindet jede Art der Diskriminierung. […] Das gesamte Gottesvolk muss jedoch empfindsamer werden, wenn die Feindschaft, die Zurückweisung und die Gleichgültigkeit nicht nur überwunden werden soll, sondern in eine deutlich offene und positive Einstellung gegenüber unseren Zigeunerbrüdern und -schwestern, verwandelt werden soll.»

Das sind klare Worte, die sich in erster Linie an die Katholikinnen und Katholiken in unserer Gesellschaft wenden, die aber auch von den Christinnen und Christen in anderen Konfessionen als Ermutigung zu einem an Christus orientierten Verhalten gehört werden können. Darüber hinaus ist es die Aufforderung, jegliche Art von Diskriminierung anderer nicht nur aufzugeben, sondern als Mitglieder einer aufgeklärten Zivilgesellschaft aktiv an deren Überwindung mitzuwirken.

Christoph Albrecht SJ

Autor:

Christoph Albrecht SJ

Auf dem Weg mit Flüchtlingen und Fahrenden in der Schweiz.

Christoph Albrecht, geboren 1966 in Basel, lernte in seiner Jugend Maschinenmechaniker und absolvierte danach das Studium zum Elektroingenieur HTL. Seit 1989 im Jesuitenorden, lebte zwei Jahre als Lehrer in Bolivien, studierte in München Philosophie und in Paris und Innsbruck Theologie, wo er 2004 über Luis Espinal SJ promovierte. 2004-2009 Mitarbeit in der Leitung des Bildungshauses Notre-Dame de la Route, Fribourg.  2009-2016 Universitäts- und Flüchtlingsseelsorger in Basel. Seit Sommer 2016 in Zürich verantwortlich für die katholische Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz und für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst der Schweiz.

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