• Stefan Kiechle SJ
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Sich entscheiden müssen

„Sich zu entscheiden ist Begabung und Auftrag, Lust und Last“, schreibt Stefan Kiechle SJ im Editorial der neuen Ausgabe "Stimmen der Zeit". Die „grandios bunte Welt“ ist wie ein Supermarkt voll von unüberschaubaren Möglichkeiten an Produkten, Erlebnissen, Lebensweisen. Die Fülle dieser Optionen kann aber auch lähmen und Emotionen vernebeln. Dagegen braucht es das „Empowerment“ junger Menschen, sich orientieren zu können, auch anhand bewährter Werte und Ordnungen.

Vielleicht das Kennzeichen unserer Zeit ist, dass wir uns ständig entscheiden müssen. Die Welt ist ein Supermarkt: überladen, überhitzt, bildüberflutet, hyperaktiv. Das ständige Schaffen und Shoppen, das Kulturkonsumieren und hektische Reisen, die hohe Erlebnisdichte und das permanente Kommunizieren strengen an und erschöpfen. Laufend müssen wir entscheiden, was wir tun, wie wir etwas tun und wie wir leben wollen, in der Arbeit und wohl noch mehr in der Freizeit, in Beziehungen, im Aktivsein. – Der brutale Bruch dafür war Corona, denn wo Möglichkeiten radikal wegbrechen, gibt es weniger zu entscheiden. Mancher hat den Bruch ein wenig genossen, uneingestanden, natürlich zeitlich begrenzt und mit bürgerlicher Absicherung – aber eben doch dankbar für die Konsumpause, für die Entscheidungs-Ruhe. Andere leiden unendlich, unter Enge und unter Existenzängsten, unter grausamen Verlusten…

Leif Randts neuer, noch vorcoronarer Roman Allegro Pastell bringt es auf den Punkt. Tanja und Jerome, beide Anfang 30 und selbstständig in kreativen Berufen tätig, leben eine Fernbeziehung. Sie entscheiden im Minutentakt und selbstverständlich immer ästhetisch reflektiert nicht nur, was sie tun, sondern sie steuern ebenso aktiv ihr emotionales Leben: wie eng ihre Liaison ist, welche Gefühle sie erreichen wollen und welches Verhalten präzise diese gewollten Gefühle produziert. Alles Leben ist achtsam und reflektiert, es wird perfekt kontrolliert und auf Selbstoptimierung angelegt – und bleibt dabei eigenartig lauwarm, kaum ekstatisch oder gar selbstvergessen. Drogen und Sex gehören zum Lifestyle – man nutzt sie ordentlich, regelt aber am Abend vorher gleich auch den Kater des nächsten Morgens. Weil das Ende des emotionalen Kicks schon eingeplant ist, empfindet man vorher „vorauseilende Wehmut“. Weil zum Selbstbild gehört, nicht nachtragend zu sein, ist man bei Konflikten eben „schnell versöhnt“. Weil Kinder das Leben außer Kontrolle bringen, hält man lieber ein Haustier. Eine Heirat wird in der Fantasie schon mal durchgestylt – aber man heiratet nicht. Die Liebesbeziehung der beiden bleibt lange Zeit „relativ okay“; schließlich zerbricht sie, aber nicht durch einen Mangel an Emotion, eher durch ein Übermaß an emotionaler Kontrolle – was aber auch „ganz okay“ zu sein scheint.

In einer Abiturrede im Kolleg St. Blasien beschreibt eine Schülerin ihre als grenzenlos erlebte Freiheit. Ihre Optionen sind unendlich: beruflich sowieso, aber auch etwa in der Liebe und in der Frage, ob sie überhaupt jemanden lieben will; auch muss sie entscheiden über ihre sexuelle Orientierung und am Ende darüber, ob sie Mann oder Frau sein will. In dieser Situation zu bestehen, setze – so sagt sie – sehr viel Selbstreflexion und Selbsterkenntnis voraus – was in ihrem Alter viele überfordere. Angst hat sie davor, im Entscheiden Fehler zu machen, denn dann würde sie sich schuldig fühlen – alles wird zwar toleriert, aber die Folgen muss man alleine tragen. Was hilft? Nicht strikte Vorschriften wie zu Großmutters Zeiten will die Schülerin, sondern sie ruft nach einem Geländer, nach Stützen: gesellschaftliche Maximen, ethische Grundsätze... Aber sie will das Geländer auch wieder loslassen dürfen, und selbstverständlich soll dieses Loslassen dann toleriert werden.

Was ergibt sich gesellschaftlich-politisch aus dieser reichlich diffusen Situation, aus Unsicherheit und Überforderung im Entscheiden? Der Ruf nach klaren Identitäten und nach starken Führern – wen wundert’s? – tönt schon lange. Die Corona-Verunsicherung stärkte in vielen Staaten die vorher totgesagte exekutive Gewalt: Regierungen und ihre Experten, auch Regierungsparteien gewannen die Oberhand – die Wirtschaftsführer blieben seltsam verzagt und riefen als Nothelfer gleich die Politik herbei, die sie vorher missachteten. Starke Frauen und Männer konnten mancherorts ihre Stärke ausbauen, auch missbräuchlich. Schwache Führungspersonen hingegen verloren an Statur, nicht nur in den USA. Ist das politische Entscheiden nur etwas für Starke?

Sich zu entscheiden, ist Begabung und Auftrag, Lust und Last. Ein wenig Kontrollverlust und Risiko gehören dazu: Randts moderne Großstadtnomaden sollten lernen, dass nur, wer sich mit Leidenschaft einsetzt und sich bindet – auch emotional –, ins Weite geführt wird, hin zu aktiver Gestaltung des Miteinanders und zu erfülltem Leben. Junge Menschen brauchen beim Start ins Leben Leitplanken; Erwachsene dürfen sich nicht davor drücken, diese ihnen – in Freiheit –vorzuschlagen. Sind die Kirchen fähig, hier Hilfe zu geben, oder sind sie schon viel zu weit weg von dieser Generation und ihrem Befinden?

Ein gutes Stichwort könnte Empowerment sein: Es gibt starke und schwache Frauen und Männer. Pädagogik und Politik haben die Aufgabe, alle so zu ermächtigen, dass sie lernen, verantwortlich und partizipativ zu entscheiden. Politikerinnen und Lehrer zeigen Leitplanken auf: Werte und Ordnungen, aber diese sind erfahrungsgesättigt und durchdacht, außerdem wertschätzend, und sie schaffen Versöhnung und Gerechtigkeit. Die wild bewegten Geister dieser grandios bunten Welt recht zu unterscheiden, tut Not, mehr denn je.

Autor:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

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