Trotz allem Abschiedsschmerz: Der Sommer war sehr gross

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Herr: es ist Zeit. 

Vergangene Woche haben wir meinen Vater zu Grabe getragen. Ein erfülltes und gesegnetes Leben ist zu Ende gegangen. Er starb im 90. Lebensjahr. 

Doch litt mein Vater seit fünf Jahren an schwerer Demenz. Hinzu kam in den vergangenen Monaten eine starke Pfegebedürftigkeit. So wurde dieser erste Satz des bekannten Herbstgedichtes von Rainer Maria Rilke das Stossgebet unserer Familie. Herr: es ist Zeit. 

Was für eine demütigende Erfahrung. Schritt für Schritt musste Vater seine Sinne und seine Körperfähigkeiten abgeben. Wie herzzerreissend war es mit anzusehen, wenn Vater tränenaufgelöst auf der Couch im Wohnzimmer lag, weil er die Welt nicht mehr verstand. 

Wie wichtig und wertvoll waren für meinen Vater und meine Mutter dann die Präsenz von Luzia, die serbische Pflegefachfrau sowie die aufmerksamen Nachbarn und Freunde, die täglich bei meinen Eltern vorbeischauten. Als Komplikationen auftraten, sollte Vater ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mutter weigerte sich. So konnte Vater in Frieden zu Hause sterben. 

Der Sommer war sehr gross. 

Trotz allem Abschiedsschmerz: Für Vater und für die ganze Familie war sein Heimgang eine Erlösung. Und erst jetzt konnten wir den grossen Lebenssommer richtig wertschätzen, den Vater und meine Familie erlebt hatten. Glückliche Umstände ermöglichten, dass wir drei Kinder und unsere Mutter nach dem Tod des Vaters eine ganze Woche geschenkt wurde, die wir gemeinsam verbringen konnten, um gemeinsam Abschied zu nehmen. Viel Gespräche, Spaziergänge im bunten Herbstwald, das Lauschen klassischer Musik und der Familienklassiker: das Domino-Spiel, bei einem guten Glas Wein. 

Sicher werden auch die einsamen Stunden und der Schmerz nicht auf sich warten lassen, insbesondere bei meiner Mutter. Was uns dann helfen kann, ist der dankbare Blick auf den grossen Sommer. Die Verbundenheit mit dem Vater auch über den Tod hinaus. Das Gespräch mit unserem Herrn und Bruder, der für uns da ist, nicht nur, wenn wir Stossgebete Richtung Himmel schicken. Und ganz praktisch: der Telefonanruf zwischendurch. 

Auf dem Bild: Hugo Karcher, Vater von Tobias Karcher SJ

Autor:

Tobias Karcher SJ

Pater Tobias Karcher ist 1961 in Weinheim bei Heidelberg geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur Studium der Philosophie und Theologie in Freiburg im Breisgau, Paris und Frankfurt/ St. Georgen. Auslandeinsatz mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Bataan/ Philippinen. 1989 Eintritt in das Noviziat der Jesuiten, anschliessend Aufbaustudium in Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule für Philosophie in München. 2003-2009 Leiter des Heinrich Pesch Hauses und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) in Deutschland. Von November 2009 bis April 2023 leitete er das Lassalle-Haus, seit 2016 ist er Leiter des Lassalle-Instituts in Edlibach ob Zug.

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