Was schenkt den Menschen in der Ukraine gut drei Jahre nach Kriegsbeginn Hoffnung? Pater Christian Marte SJ reiste vom 10. bis 15. März in die Ukraine, um sich ein Bild von der aktuellen Lage vor Ort zu machen. Begleitet wurde er von Danielle Vella vom Jesuit Refugee Service (JRS) in Rom und Pater Michael Stanchyshyn SJ, Jesuit aus der Ukraine. Es ist seine vierte Reise in die Ukraine seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022. Diesmal ging es zu den Menschen im Westen und Südwesten des Landes: Lemberg, Czernowitz, Stryi, Mukachevo und Uzhhorod (Transkarpatien).
Wie geht es den Menschen, denen Sie begegnet sind?
Der erste Eindruck ist: Es freut alle, dass Besuch aus dem Westen kommt. Es ist ein Zeichen, dass wir an die Menschen denken und mit ihnen mitfühlen. Im Gespräch wird dann rasch klar, dass viele Menschen unsicher sind und nicht wissen, wie es mit dem Krieg weitergeht. Sie sind damit beschäftigt, den schwierigen Alltag unter Kriegsbedingungen zu bewältigen.
Viele Männer sind an der Front. Die große Last im Hinterland tragen die Frauen, die ich wirklich sehr bewundere. In Transkarpatien, das von russischen Raketen bisher ziemlich verschont wurde, sagte mir eine Frau: „In jedes einzelne Haus hier ist eine ‚Rakete‘ eingeschlagen: Vater oder Bruder an der Front, Kinder und Verwandte geflüchtet, Ostern und Weihnachten alleine oder nur online.“
Was gibt den Menschen in dieser Situation Hoffnung?
Die größte Hoffnung ist, dass der Krieg endet. Jetzt, während des Krieges, hoffen die Mütter auf eine gute Schule für die Kinder. Viele Frauen sind aus dem Osten der Ukraine in den Westen geflüchtet. Dort sind sie „Internally Displaced Persons“, intern Vertriebene. Das tägliche Leben ist für sie sehr anstrengend: Wohnungssuche, Suche nach Arbeit, ein Arzt-Besuch, eine neue Umgebung. Eine Mutter sagte zu mir: „Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, dass Sie nie fliehen müssen.“ Das hat mich ins Mark getroffen. Die Frau hat ihre Wohnung verloren und lebt nun mit ihren zwei Kindern in einem Haus des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes JRS.
Viele Familien wurden durch Krieg und Flucht voneinander getrennt.
Die Familien sind oft weit auseinandergerissen worden – innerhalb der Ukraine und in ganz Europa. Für junge Menschen ist es ein Drama, dass sie keine Pläne für die Zukunft machen können. Welche Schule soll ich besuchen? Werde ich einen Arbeitsplatz finden? Werde ich studieren können? Wann sehe ich meinen Vater oder meinen Bruder wieder? All das ist ein großer Stress.
Was ist mit den Kriegsgefangenen?
Viele Familien wissen nicht, wo ihre Väter oder Söhne sind. Manche sind getötet worden, manche sind in Gefangenschaft, manche gelten als vermisst. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben von Diplomaten, Gefangenen-Austausche zu vermitteln. Der Vatikan bemüht sich hier auch sehr mit seinen Möglichkeiten.
Was bewegt die Menschen in der Ukraine mit Blick auf die politische Lage?
Es gibt das starke Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Die Luftangriffe seit drei Jahren durch Russland. Die fast täglichen Luft-Alarme, weil Russland mit Raketen und Drohnen ukrainische Städte und Dörfer attackiert. Vor allem die Schulkinder leiden. Bei Luft-Alarm müssen sie immer wieder in den Keller.
Das Gefühl der Ungerechtigkeit wird nun verschärft, weil die Menschen in der Ukraine den Eindruck haben: Es geht vor allem um seltene Erden, und jetzt wird unser Land verkauft. Wer interessiert sich wirklich für uns und hilft uns? Sind wir nur Objekte der Weltpolitik und werden herumgeschoben?
Welche Rolle spielen die Kirchen?
Die Kirchen sind für viele Menschen sehr wichtig, weil es dort Gemeinschaft gibt. Gemeinsames Beten, einander helfen und füreinander da sein. Die katholische Kirche, griechisch-katholisch und römisch-katholisch, ist international gut vernetzt. Damit gibt es viele Kontakte und auch Hilfe durch die Caritas, Renovabis, Kirche in Not und viele Diözesen. Hier sieht man: Wir brauchen eine starke Kirche für die Schwachen.
Ist die humanitären Hilfe ungebrochen?
Die humanitäre Hilfe wird vor allem im Land selbst geleistet. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert am besten. Die humanitäre Hilfe aus dem Ausland geht leider stark zurück. Das spüren die Caritas-Verantwortlichen, die für Suppenküchen zuständig sind oder für die Verteilung von Lebensmittel-Paketen an Pensionisten.
Hat die Seelsorge in Zeiten des Krieges einen Platz?
In Czernowitz haben die Jesuiten ein Haus eröffnet. Es heißt „Space of Hope“, Raum der Hoffnung. Dort treffen sich jede Woche Mütter von Soldaten und können ihre Sorgen miteinander teilen. Ein Jesuit begleitet die Gruppe. Ebenso treffen sich die Frauen von Soldaten dort. Soldaten, die zurückkehren, sind häufig traumatisiert und brauchen Orte der Aussprache. Wenn der Krieg endet, dann müssen viele Wunden der Seele geheilt werden. Es braucht niedrigschwellige Gesprächsmöglichkeiten – und das bieten die Pfarrgemeinden jetzt schon an. Es wird dazu aber auch professionelle Trauma-Therapie brauchen.
Wie sehen Sie selbst die politische Zukunft der Ukraine?
Für mich ist das Wichtigste, dass ich mir selbst ein Bild mache an Ort und Stelle. Ich betone immer wieder, wie wichtig Besuche von Bischöfen, Ordens-Oberinnen und Ordens-Oberen sind. Das stärkt die Menschen in der Ukraine – und zugleich kommt man weg von oberflächlichen Fern-Diagnosen.
Ich sehe zwei Möglichkeiten. Die erste, hoffnungsvollere ist, dass es bald zu einem Waffenstillstand kommt. Wenn dies gelingt, dann beginnt eine sehr große Aufgabe: Der Wiederaufbau des Landes, vor allem aber das Heilen der Wunden an Leib und Seele. Es werden auch interne Konflikte auftauchen, die man während der Kriegszeit zurückgestellt hat. Versöhnungsarbeit in jeder Form wird zentral sein.
Die zweite Möglichkeit muss man auch erwähnen: Der Krieg kann sich ausweiten, auf die Republik Moldau, auf Litauen, Lettland und Estland. Dieses Szenario muss man gedanklich durchspielen, nicht nur in der Politik und beim Militär. Auch die Hilfsorganisationen müssen sich darauf vorbereiten.
In Europa wird wieder verstärkt in die militärische Rüstung investiert. Ist das die richtige Konsequenz?
Ich habe eine Ahnung davon, was Krieg bedeutet. In den 1990er Jahren war ich für das Rote Kreuz oft in Bosnien unterwegs, während und nach den Kampfhandlungen. Ich sehe es als Verpflichtung des Staates an, die Menschen vor kriegerischen Angriffen zu schützen, wenn notwendig auch mit Waffengewalt.
Zugleich müssen wir als Menschen der Kirche immer wieder darauf hinweisen: Waffen sind langfristig gesehen nicht die einzige Lösung. Es braucht eine Kultur des friedlichen Zusammenlebens. Die Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften sollte man dabei nicht unterschätzen.