• Lukas Ambraziejus SJ (l.) hier mit Gerald Baumgartner SJ aus Österreich bei einer Wanderung.
  • Lukas Ambraziejus SJ (l.) bei seiner Gelübdefeier in Nürnberg.
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Was halten junge Litauer von Europa?

Das Jahr 2004 war ein wichtiges Datum für die EU. Estland, Litauen und Lettland traten am 1. Mai mit einigen anderen Ländern der europäischen Staatengemeinschaft bei. Für das knapp drei Millionen Einwohner zählende Litauen war es ein herausragendes Ereignis, sagt der junge Jesuit Lukas Ambrazeijus SJ. Wir haben mit ihm gesprochen, wie junge Litauer zu Europa stehen.

Lukas Ambraziejus: Sehr viele junge Litauer nehmen Europa als etwas Selbstverständliches wahr. Die vielen Möglichkeiten werden genutzt, und Litauen profitiert enorm. Allerdings nehme ich auch wahr, dass es eben wenig Initiativen gibt, für Europa zu kämpfen und dafür Verantwortung zu übernehmen, weil die EU gerade bei den Jugendlichen einfach als zu selbstverständlich wahrgenommen wird.

Welche Vorteile siehst du für dich persönlich?

Ambraziejus: Zu den Vorteilen gehören auf jeden Fall, ohne größeren finanziellen und zeitlichen Aufwand ins Ausland reisen zu können und dort vielleicht sogar für längere Zeit oder ein Semester studieren zu können. Natürlich erleichtert der Euro auch vieles, wenn ich kein Geld mehr wechseln muss. Das sind alles Dinge, die für die Generation meiner Eltern unvorstellbar waren.

Was erzählen deine Eltern und Großeltern, wie haben sie 2004 erlebt?

Ambraziejus: Es war für alle deutlich, dass Europa und der EU-Beitritt ein großer Gewinn ist. Für alle. Als kleines Land mit drei Millionen Einwohnern hat man nicht die Wahl, eigenständig auf beiden Beinen zu stehen. Meine Eltern haben schon seit der Wende wahrgenommen, dass Freiheit nur innerhalb einer internationalen, staatlichen Ordnung erreicht und erhalten werden kann. Da waren alle sehr, sehr froh, weil die Alternative zur EU für viele osteuropäische Länder der große Bruder im Osten ist, und diese Alternative versetzt Menschen in Schrecken.

Insofern ist die EU von vornherein in einer privilegierten Position, die Zuneigung der Menschen in Osteuropa für sich zu gewinnen. Ich würde sogar sagen, dass die wahre Wende der baltischen Länder hin zum Westen 1989 war. Am 23. August 1989, am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, bildeten die Bewohner der drei Baltischen Länder von Tallinn bis nach Vilnius (650 Kilometer) eine lebendige Menschenkette mit dem Rücken zum Osten und der Brust zum Westen - ein sehr starkes Zeichen, das den Akzent gesetzt hat: In Zukunft wollen wir uns nach Westen richten. 2004 war daher nur die logische Konsequenz dieser früheren Entscheidung.

Außer der errungenen Freiheit, war denn für die Litauer die wirtschaftliche Frage ein wichtiges Faktum?

Ambraziejus: Klar, Litauen profitiert vor allem finanziell sehr. Litauen verzeichnet seit 1991 ein enormes wirtschaftliches Wachstum und seit 2004 nochmal stärker und dies ist auf die Investitionen zurückzuführen sowie auf die internationalen wirtschaftlichen Beziehungen nach dem EU-Beitritt. Wenn auf den Autobahnen Renovierungsarbeiten verrichtet werden, dann sieht man dort große Schilder mit der Aufschrift „unterstützt von der Europäischen Union“. Zum großen Teil sind das deutsche Geldgeber, die das ermöglichen. Insofern ist klar, dass die wirtschaftlichen Beziehungen immer enger an den Westen gebunden sind, und das schätzen alle.

Es gibt aber auch ein ABER und jetzt komme ich zu den Problemen: Zu den Schwierigkeiten gehört einmal, dass eine Ungleichheit besteht zwischen Westen und Osten. Seit wir ein Teil der EU sind, sind sehr viele Menschen ausgewandert aufgrund der neuen Möglichkeiten, im Ausland zu arbeiten und zu wohnen. Die Menschen gingen vor allem in die englischsprachigen Länder, aber auch nach Deutschland. Die Zahlen sind wirklich riesig. Seit 2004 sind 20 Prozent der Bevölkerung ausgewandert, das sind vor allem die jüngsten und aussichtsreichsten Bürger. Das ist ein riesiger Verlust für unser Land. Ich habe vier Geschwister und momentan lebt keiner in Litauern. 

Hier in Deutschland gibt es ja auch dieses Phänomen, dass junge Leute mal für ein Jahr ins Ausland gehen. Sie kommen dann aber wieder zurück. Wie ist das in Litauen? Gibt es den Wunsch zurückzukehren? Bietet der Staat Anreize, dass die Jungen wieder zurückkommen?

Ambraziejus: Das ist wahrscheinlich eines der Topthemen in der litauischen Politik: Was können wir tun, damit wir wieder attraktiv werden? Bis jetzt wurde keine befriedigende Lösung gefunden. Es werden Anreize geschaffen und die Löhne steigen, aber leider viel zu langsam. Das Beispiel von einem Physiklehrer bei uns in Litauen macht dies deutlich: Er verdient in Litauen lediglich ein Drittel von dem, was ein Amazon-Paketzusteller in Deutschland verdient. Daran sieht man, dass die Unterschiede sehr groß sind.

Allerdings kenne ich einige, die im Ausland studiert haben und überlegen zurückzukehren. Aber das ist eine Minderheit. Es muss noch vieles passieren. Nicht nur die Löhne müssen sich weiterentwickeln, sondern vor allem die Bildung. Das Bildungssystem in Litauen ist noch ziemlich von Gestern.

Welche Rolle spielt die Kirche in Litauen?

Ambraziejus: Litauen ist überhaupt nicht atheistisch. Wir unterscheiden uns da von Estland. 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung würden sich als Katholiken bezeichnen. Insofern ist Litauen Polen sehr ähnlich. Die Werte und Traditionen sind für viele das, worin sich Litauen von anderen Ländern unterscheidet; was seine Identität ausmacht und aufrechterhält. Gerade in einer Staatengemeinschaft mit vielen größeren Ländern ist diese Identität ja bedroht.

Ich glaube, die Fragen nach Werten, Traditionen und Identität sind sehr wichtige Fragen. Weniger für die, die ausgewandert sind, sondern mehr für die, die geblieben sind. Was macht Litauen zu Litauen, außer dass es ein kleiner Fleck in Europa ist?

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