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Was machen Jesuiten für Europa?

Die Gesellschaft Jesu ist seit ihren Anfängen eine europäische Gemeinschaft. Heute arbeiten acht Jesuiten aus sechs europäischen Ländern in den europäischen Werken in Brüssel. Die existentielle Krise der europäischen Union stellt sie vor besondere Herausforderungen.

Ignatius von Loyola hat in seinem Freundeskreis in Paris im Jahr 1534 bewusst Mitglieder aus unterschiedlichen europäischen Ländern zusammengebracht. Dies war die Keimzelle des Jesuitenordens, der europäisch in seinem Ursprung doch bald weltweit in seiner missionarischen Dynamik war. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Jesuiten das Projekt der europäischen Einigung seit seinen Anfängen begleitet haben. Einer der Pioniere war der Franzose P. Jean du Rivau SJ, der 1949 in Straßburg das „Katholische Sekretariat für europäische Probleme“ gründete. Mit der Verlagerung der europäischen Institutionen nach Brüssel wurde 1963 dort ein Büro der Jesuiten eröffnet. Seit 2012 heißt es JESC: die englische Abkürzung für Europäisches Sozialzentrum der Jesuiten. Derzeit arbeiten hier drei Jesuiten und sechs Laien.

JESC setzt sich für „Visionen und Werte“ in Europa ein. Nach den beiden mörderischen Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die europäische Einigung ein Projekt der Vergebung, der Versöhnung und des Friedens. Die Gründerväter waren mehrheitlich gläubige Katholiken und schöpften ihre Inspiration aus den Prinzipien der katholischen Soziallehre: Menschenwürde, Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität. Jean Monnet brachte das 1950 so auf den Punkt: „Wir sind hier, um ein gemeinsames Werk zu vollbringen, nicht um eigene Vorteile auszuhandeln, sondern um unseren Vorteil im gemeinsamen Vorteil zu suchen.“ Das ist die goldene Regel des europäischen Projekts.

Der Grundentscheidung des Jesuitenordens für Glaube und Gerechtigkeit und der vorrangigen Option für die Armen entsprechend möchte JESC die Stimme derjenigen sein, die in Europa keine Stimme haben. Nach den offiziellen Statistiken leben in der Europäischen Union mehr als 100 Millionen Menschen in Armut, 36 Millionen in extremer Armut. JESC steht in einem engen Kontakt mit der interfraktionellen Arbeitsgruppe des europäischen Parlaments zu extremer Armut und Menschenrechte. Traurig ist, dass sich unter den 28 Mitgliedern kein deutscher Abgeordneter findet. Das Europa-Büro des Jesuitenflüchtlingsdienstes setzt sich in Brüssel für die Migranten und Flüchtlinge ein, die an die Türen Europas klopfen. Eine Schande für Europa sind die unmenschlichen Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland. Eine wichtige Plattform nicht nur für Gottesdienste und ökumenische Gebete, sondern auch für Vorträge und Diskussionsveranstaltungen über europäische Themen bietet die Chapel for Europe – eine Kirche mitten im EU-Viertel.

Eine weitere Dimension der Arbeit von JESC ist es, Gruppen zusammenzubringen und zu begleiten, die sich für die Zukunft der Europäischen Union einsetzen. Eine dieser Gruppen heißt „Leidenschaft für Europa“. Ausgehend von der Rede von Papst Franziskus anlässlich der Verleihung des Karlspreises 2016 haben ihre Mitglieder einen programmatischen Text unter dem Thema „Das europäische Gemeinwohl wiederentdecken“ verfasst. Auf dieser Grundlage fand im November 2018 in unserer Kirche eine wichtige Debatte statt, an der der frühere Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy und Erzbischof Jean-Claude Hollerich SJ, der protestantische Pastor Christian Krieger und Marie de Saint-Chéron als führende Vertreter der Kirchen auf europäischer Ebene teilnahmen.

Angesichts der existentiellen Krise, in der die Europäische Union steckt, ist eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideen und Ideale überlebensnotwendig. Darum ging es bei einer Wochendtagung, die von JESC und „Leidenschaft für Europa“ im September 2018 in dem geistlichen Zentrum der belgischen Jesuiten La Pairelle in der Nähe von Namur organisiert wurde. Über 60 Teilnehmer aus 17 europäischen Ländern beschäftigten sich in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen mit dem europäischen Gemeinwohl. Eine Folgetagung im September 2019 hat die längerfristigen europäischen und globalen Herausforderungen von Migration, Demographie und Klimawandel zum Thema.

Ein neues Programm von JESC bietet einen fünfmonatigen Kurs zur Ausbildung zukünftiger europäischer Führungspersonen an. Bestandteile sind politische Bildung in Verbindung mit den EU-Institutionen, Gemeinschaftsleben, Führungstraining, geistliche Begleitung und ein sozialer Einsatz bei Bedürftigen. Die ersten Absolventen stammen aus Polen, Italien, Österreich und Aserbaidschan. In Zukunft wird dieses Programm in Kooperation mit europäischen Jesuitenuniversitäten einen Mastergrad verleihen. Es wird substantiell von der deutschen Bischofskonferenz unterstützt.

In einer seiner Ansprachen über Europa hat Papst Franziskus aus einem frühchristlichen Brief zitiert, in dem die Aufgabe der Christen in der Welt mit der Bedeutung der Seele im menschlichen Körper verglichen wird. Das erinnert an die Jacques Delors zugeschriebene Metapher von der „Seele Europas“. Die Arbeit der Jesuiten in Brüssel ist von der Hoffnung getragen, in diesem Sinn einen Beitrag für die Erneuerung der Europäischen Union leisten zu können.

Autor:

Martin Maier SJ

Pater Martin Maier SJ, geboren 1960 in Meßkirch/Deutschland, trat 1979 in den Jesuitenorden ein. Er studierte Philosophie, Theologie und Musik in München, Paris, Innsbruck und San Salvador. 1988 wurde er zum Priester geweiht. Von 1989 bis 1991 war er in El Salvador Pfarrer einer Landgemeinde. 1993 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. P. Maier war von 1995 bis 2009 Redaktionsmitglied (seit 1998 auch Chefredakteur) der „Stimmen der Zeit“. Von 2009 bis 2014 war er Rektor des Berchmanskollegs in München. Als Experte für Theologie der Befreiung ist er Gastprofessor an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador. Von 2014-2020 war er Beauftragter für Europäische Angelegenheiten im Jesuit European Social Centre (JESC) in Brüssel. Seit 2021 ist er Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerkes Adveniat in Essen.

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