Was stört an der störenden Kirche?

Der Kirche wird immer dann das Recht am Wort abgesprochen, wenn sie sich gegen die Interessen von finanziell und politisch Mächtigen positioniert: gegen Waffenhandel, gegen Kriegsmaterial-Exporte, für eine die Menschenrechte achtende Asylpolitik und zurzeit akzentuiert für die Konzernverantwortung. Die entsprechende Initiative gelangt am 29. November zur Abstimmung, ist vielerorts in Gottesdiensten Thema und wird vom überkonfessionellen Zusammenschluss «Kirche für Konzernverantwortung» mitgetragen.

Womöglich in keiner lateinamerikanischen Militärdiktatur des 20. Jahrhunderts war die Zerstörung der Zivilgesellschaft so verheerend wie in Chile unter Pinochet. Das Regime etablierte seine Macht Schritt für Schritt und setzte auf Isolierung: Je mehr die Menschen vereinzelten, desto ohnmächtiger wurden sie als Individuen. Die Angst, als Gegnerinnen und Gegner des Regimes eingestuft zu werden, verbreitete sich. Wer ins Visier der Militärs kam, wurde abgeholt, verschleppt und verschwand in einem der Foltergefängnisse. Diese Angst, kombiniert mit der Forderung des Regimes, die Anderen zu bespitzeln, zerstörte jedes Vertrauen zwischen den Menschen. Man fürchtete sich, von Kolleginnen oder Freunden, ja von den eigenen Familienmitgliedern angezeigt oder durch ein Missgeschick verraten zu werden. Immer weniger Menschen wagten, frei zu denken, sich kritisch zu äussern, geschweige denn, sich im Widerstand zu organisieren. So hatten sich zwischen 1974 und 1978 praktisch alle zivilgesellschaftlichen Vereine und Organisationen aufgelöst. Eine Organisation aber bot am ehesten noch Orte des Vertrauens: Die Kirche. 

Sie stand im Land Pinochets für eine gewisse Unschärfe der Positionen. Einerseits fanden die von den zerstörten Sozialwerken betroffenen Menschen in zahlreichen Pfarreien letzte Reste einer solidarischen Kultur. Andererseits versuchte Putschist Pinochet selbst, die Kirche für die Legitimierung seiner Macht zu gewinnen. Deshalb war er bedacht, gegenüber der Kirche noch einen Schein des Respekts zu wahren, was seine totale Kontrolle etwas einschränkte. 

Was sagt uns diese historische Erfahrung von Chile und anderen lateinamerikanischen Diktaturen? Welche Rolle haben Kirchen in der gegenwärtigen ökonomisch globalisierten Apartheidgesellschaft? Was auch immer aus heutiger Sicht zum teils selbstverschuldeten Image- und Vertrauensverlust der Kirchen gesagt werden muss: Drei Dinge sind aus meiner Sicht zu erinnern und festzuhalten.
1. Als Trägerin der Botschaft der bedingungslosen Menschenwürde hat die Kirche gerade in unser heutigen Gesellschaft eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Mit Papst Franziskus an der Spitze der römisch-katholischen Konfession, aber auch zum Beispiel mit der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt es wichtige institutionelle Stimmen, die einen menschenwürdigen Umgang mit allen Menschen hochhalten als unverrückbare Ausgangslage für die Suche nach Lösungen. Deutlich wird das in allen Bereichen, wo schwächere Mitglieder einer Gesellschaft an den Rand gedrängt und entmenschlicht werden: Obdachlose, Erwerbslose, Geflüchtete, Menschen mit besonderer Begabung, psychisch Erkrankte, straffällig Gewordene, Rentnerinnen und Rentner, nicht Sesshafte, Sans-Papiers…  Die Kirchen bilden für viele Solidaritätsgruppen ganz unterschiedlicher politischer Verortung einen ideologischen Rückhalt. Dies ist umso wichtiger in einer Zeit der schleichenden Tendenz in der politischen Mitte, welche faschistoide Grundhaltungen in Politik und Gesellschaft immer mehr salonfähig macht.
2. Möglicherweise gerade deshalb ist eine regelrechte Dekonstruktion der Glaubwürdigkeit der Kirche (jeder Konfession) zu beobachten. Sie wird oft von Interessengruppen – manchmal gezielt, manchmal unbewusst – vorangetrieben, welche die Kirche in früheren Zeiten zur Zementierung ihrer Privilegien benutzten. Besorgniserregend ist zu sehen, was zurzeit in der Schweiz in den Diskussionen um Volksabstimmungen passiert, die sozial, ökologisch, ökonomisch und menschenrechtlich relevant sind. Gehen diesen Interessengruppen auf der inhaltlicher Ebene die Argumente aus, sprechen sie der Kirche die Legitimität ab, überhaupt etwas zu sagen.
Der Kirche als Institution wird immer dann das Recht zur Beteiligung an politischen Prozessen abgesprochen, wenn sie sich gegen die Interessen der finanziell und machtpolitisch Einflussreichsten positioniert. Gegen Waffenhandel, gegen Kriegsmaterial-Exporte, gegen Finanzierung von Kriegsmaterial produzierenden Firmen, für eine die Menschenrechte achtende Asylpolitik oder wie zurzeit vielerorts akzentuiert für die Konzernverantwortung: Die entsprechende Initiative, die am 29. November zur Abstimmung gelangt, wird in Gottesdiensten thematisiert. So etwa am vergangenen Sonntag in Ostermundigen, was politischen Kreisen der so genannten Mitte nicht passt, wie die Tagesschau berichtete.
3. Die Erfahrung der Kirche in den lateinamerikanischen Diktaturen sollte uns aufhorchen lassen, auch wenn die Bedingungen der kirchen- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen andere waren und sind. Der 1980 im Auftrag von Militärs entführte und ermordete Jesuit und Journalist, Medienwissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Luis Espinal erinnerte in Bolivien 1973, mitten in der Diktatur Bánzers, an das bedauerliche Verhalten der schweigenden Kirche in Cuba vor der sozialistischen Revolution und dessen Folgen danach mit diesen Worten: «Das Schlimmste ist, dass sich das Schweigen zur heutigen Situation auch auf die Möglichkeit des Sprechens von morgen auswirkt. Zum Beispiel in Cuba. Dort hat die Kirche in der Ära Baptistas geschwiegen; darum hatte sie dann auch keine Autorität, in der Zeit Castros zu sprechen.» (Luis Espinal, „Sin profetas“, in der Zeitung: Ultima hora, La Paz, Bolivien, 5.9.1973, 13; deutsch in: Christoph Albrecht, Den Unterdrückten eine Stimme geben, Luzern 2005, 169)

Heute hat die Kirche – nicht nur durch ihr Schweigen vor dem Unrecht, sondern auch durch manche selbstverschuldete Skandale – in breiten Kreisen der Bevölkerung kaum mehr Glaubwürdigkeit, geschweige denn Autorität oder Einfluss. 1969 schrieb der noch junge Theologe Joseph Ratzinger zur Unterscheidung des primären, unvermeidbaren Stein des Anstosses (skandalon) von den sekundären, zu vermeidenden Skandalen: «Dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten hat, (…) ist für den Menschen eine aufregende Zumutung. Diesen christlichen Skandal hat das Konzil (II. Vat.) nicht aufheben können und wollen. Aber wir müssen hinzufügen: Dieser primäre Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum aufheben will, ist in der Geschichte oft genug überdeckt worden von dem sekundären Skandal der Verkündiger des Glaubens.» (Joseph Ratzinger, Das neue Volk Gottes, Düsseldorf 1969, 317-318).

Luis Espinal hat diesen Unterschied in der Tiefe ausgelotet, lassen Sie mich hier einen grossen Teil seiner Kolumne wiedergeben:
«Wenn die Religion etwas Weltfremdes wäre, gäbe es keine Konflikte zwischen Religion und Politik. Wenn die Religion nur von einem Gott in den Wolken spräche, gäbe es keine Überschneidungen. Aber das Problem taucht in dem Moment auf, in dem die Religion sagt, dass Gott Mensch geworden und in die menschliche Geschichte eingetaucht ist. Das Problem verschärft sich noch, wenn die Religion sagt, dass der Mensch Kind Gottes ist und niemandes Sklave sein kann.
Die Religion kann nicht 'Opium für das Volk' sein, wenn wir Christus treu sind, der jede Ungerechtigkeit gegen Menschen als Ungerechtigkeit gegen Gott begreift. Darum kann die Religion nicht 'neutral' bleiben. […] Darum hat die Religion keine Probleme, solange sie von den Seelen im Fegefeuer spricht. Aber sie bekommt Probleme, wenn sie von der Befreiung des Menschen spricht. Einige wollen, dass die Religion eine Verbündete von Beerdigungsinstituten sei, die sich darum kümmert, die Menschen auf das Sterben vorzubereiten. Aber in Wirklichkeit interessiert sich die Religion viel mehr für das Leben als für den Tod; und sie hat die Rechte der Lebenden zu verteidigen. […]
Wenn die Religion im Namen der Politik angegriffen wird, dann ist es, weil die wirkliche Religion auch eine bewusstseinsstiftende Macht ist, welche die Würde des Menschen verteidigt. Es ist klar, immer weniger kann das Christentum als Vorhang zum Tarnen der Ungerechtigkeit herhalten, immer weniger, um den Unterdrückten die Resignation zu predigen. Es kann kein Beruhigungsmittel sein.
Viele möchten, dass die Kirche eine Kirche des Schweigens sei. Aber die Trägerin des Wortes Gottes kann nicht verstummen. Sicher gibt es eine Kirche des Schweigens, die all unseren Respekt verdient, die martyrisierte Kirche in der Unterdrückung, die schweigt, weil ihr Mund blutet, nachdem man ihr die Zunge abgeschnitten hat. Aber in diesem Fall spricht diese stumme Kirche weiter, weil ihre Wunden selbst eine Anklage sind. Aber es wäre eine stumpfsinnige Kirche des Schweigens, wenn sie aus Angst, die letzten Reste ihrer alten Privilegien zu verlieren, schwiege; wenn sie aus Feigheit und falscher Vorsicht schwiege.
Aus Treue zu Christus und zum Menschen kann die Kirche nicht schweigen. Eine Religion, die nicht den Mut hat, für den Menschen zu sprechen, hat auch nicht das Recht, von Gott zu reden. Darum ist es logisch, dass die Kirche stört, wo sie mit der schweigenden Allianz vor jeder Art von Unterdrückung bricht. Wenn es nicht so wäre, würde es den Verlust ihrer Kraft beweisen. Die Kirche kann nicht aufhören, eine Störende zu sein, solange sie sich erinnert, dass sie von einem hingerichteten Gott gegründet wurde. (Luis Espinal, in der bolivianischen Tageszeitung Ultima hora zweimal erschienen: 31.5.1972 und 6.12.1972; deutsch in: Christoph Albrecht, Den Unterdrückten eine Stimme geben, Luzern 2005, S. 168-169.)

Schweigen die Kirchen aus Angst vor weiterem Bedeutungsverlust, haben sie den Menschen von heute definitiv nichts mehr zu sagen. Doch glücklicherweise sehen wir: Durch mutige Stellungnahmen und tatkräftigen Einsatz – wie zum Beispiel in unzähligen Projekten zur Unterstützung von Geflüchteten oder vom überkonfessionellen Zusammenschluss «Kirche für Konzernverantwortung» – wird sie für die solidarisch engagierten Menschen und Organisationen mindestens ansatzweise zu einer verlässlichen Partnerin. Und zu einer Zeugin der Verheissung einer Welt, für die sich zu leben lohnt.

Zum Bild: Skulptur von Luis Espinal, geschnitzt aus einem alten Brett

Autor:

Christoph Albrecht SJ

Auf dem Weg mit Flüchtlingen und Fahrenden in der Schweiz.

Christoph Albrecht, geboren 1966 in Basel, lernte in seiner Jugend Maschinenmechaniker und absolvierte danach das Studium zum Elektroingenieur HTL. Seit 1989 im Jesuitenorden, lebte zwei Jahre als Lehrer in Bolivien, studierte in München Philosophie und in Paris und Innsbruck Theologie, wo er 2004 über Luis Espinal SJ promovierte. 2004-2009 Mitarbeit in der Leitung des Bildungshauses Notre-Dame de la Route, Fribourg.  2009-2016 Universitäts- und Flüchtlingsseelsorger in Basel. Seit Sommer 2016 in Zürich verantwortlich für die katholische Seelsorge der Fahrenden in der Schweiz und für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst der Schweiz.

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