Nach den jüngsten Entwicklungen im Wahlkampf ist Pater Klaus Mertes SJ noch unentschlossen, welche Partei er bei der Bundestagswahl wählen soll. Was ihn aus der Spur gebracht hat und welche Themen er vermisst, sagt er im Interview.
Was hat sie bisher im Bundestagswahlkampf überrascht?
Am meisten überrascht mich, dass ich seit Ende Januar nicht mehr so recht weiß, was ich wählen soll. Ich komme aus einer klassisch christdemokratischen Tradition: Soziale Marktwirtschaft, Europäische Einheit, NATO-Bündnis, Kompromiss in der Abtreibungsfrage, Subsidiarität im Bildungssystem, globale soziale Verantwortung, und so weiter. In der Asyl- und Migrationspolitik gab es bei mir durch meine Arbeit in der Härtefallkommission des Berliner Senats in den 00er Jahren eine Entfremdung von gewissen Tönen in der Union, wenn ich auch umgekehrt nicht jedes Statement aus dem kirchlichen Raum zu diesem Thema erleuchtend fand. Die Entscheidung von Frau Merkel im Sommer 2015, die Grenzen nicht zu schließen, fand ich richtig.
Was hat Sie jetzt aus der Spur gebracht?
Ende Januar geschah etwas für mich Neues: Ich sah die versteinerten Gesichter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als ihr Antrag im Bundestag eine Mehrheit mit der AfD bekommen hatte. Mir schien es so, als blickten sie mit Entsetzen über sich selbst in einen Abgrund, an dessen Rand sie sich manövriert haben. Selbst wenn sie dafür einige Prozentpunkte mehr bekommen werden: War es das wert? Die Polarisierung bekomme ich jedenfalls vor der Türe hautnah mit: Der Sohn eines Freundes von mir kandidiert in Berlin für die CDU. Am Wochenende wurde sein Büro von der Antifa besetzt. Seine Mitarbeiter wurden als Nazis beschimpft. Auf beiden Seiten der Extreme wird die Sprache immer hemmungsloser. Und die Mitte zerfleischt sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Kaum einer fasst sich nachdenklich an die eigene Nase. Das stößt mich ab.
Sehen Sie in der Situation trotzdem Hoffnungszeichen?
Einen der klügsten Sätze sagte kürzlich Ricarda Lang, sinngemäß: Wir von der Ampel müssen uns fragen, was wir falsch gemacht haben, wenn sich in unserer Regierungszeit die Stimmen für die AfD verdoppelt haben. Das wird sich die Union wohl auch demnächst fragen müssen. Das macht mir Hoffnung. Weder die Polarisierung, die die CDU/CSU-Fraktion – bis auf einige Ausnahmen – in der letzten Woche betrieben hat, noch die Gegen-Eskalation, die seitdem „gegen rechts“ stattfindet, helfen dem Land. Sie sind für mich eher Ausdruck von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit als Zeichen der Hoffnung.
Welches Thema vermissen Sie im Wahlkampf?
Das Migrationsthema steht jetzt oben an. Es ist natürlich ein wichtiges Thema, bei dem allerdings immer der Ton die Musik macht. Das Thema Klima ist verschwunden. Es wirkt auf mich so, als habe sich die Gesellschaft entschieden, den Kopf in den Sand zu stecken. Die anderen Themen sind bekannt – Ukraine, Wirtschaft, Bürgergeld, Entwicklungen in den USA … Ich will hier nicht alles aufzählen. Mir persönlich liegt besonders die Frage nach der Bildungspolitik am Herzen. Dazu herrscht großes Schweigen. Wir haben in Deutschland inzwischen ein Bildungsproblem jenseits der Messkategorien von PISA. Wer will noch Lehrer werden? Wer entlastet die Schulen von den materiellen und immateriellen Kosten der gesellschaftspolitischen Projekte, die auf ihre Schultern gelegt sind? Bildung ist und bleibt doch der Schlüssel für die Zukunft! Raum für "Herzensbildung" - das ist auch ein politisches Thema.
Was stünde auf Ihrem Wahlplakat?
Wir sind dankbar für 80 Jahre Frieden in Europa und bleiben weiter auf diesem Kurs.
Warum heißt Christsein, politisch zu sein?
Von Christen erwarte ich, dass sie nicht nur politisch predigen. Politik und Verantwortung gehören zusammen. Das gilt auch für Christen: Für Ämter kandidieren, in Vereinen und Verbänden mitmachen, Berufe anstreben, die für das Allgemeinwohl unverzichtbar sind. Nur wer ernsthaft Verantwortung übernimmt, lernt auch politisch. Von Christen erwarte ich auch, dass sie auch aufmerksam auf sich selbst sind. Die völkische Parole, dass "Nächstenliebe" nur für die eigenen Leute gelte, ist der toxische Kern der neuen Rechten. Der strahlt auch ins kirchliche Milieu hinein. Über 50 Prozent der Katholiken in den USA haben Trump gewählt. „Politisches Christsein“ wird zu einer Leerformel, wenn wir nicht zugleich anfangen, auch untereinander als Christen um die Inhalte zu ringen. Wir sind nicht die Besserwisser der Nation.
Und was werden Sie nun wählen?
Das werde ich entscheiden, wenn ich in der Wahlkabine stehe. Bis dahin schaue ich genau hin.