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Bild 1: Wolfgang Stahl / Bild 2: Wolfgang Stahl / Bild 3: Christian Ender

Warum geht der Gesellschaft etwas verloren, wenn katholische Schulen geschlossen werden?

Schulen in eigener Trägerschaft sind ein Exportschlager der katholischen Kirche. Doch in Hamburg, Mainz, Eichstätt und Köln werden immer mehr von ihnen geschlossen. Ist das ein rein innerkirchlicher Vorgang, oder geht es die Gesellschaft etwas an, wenn die Kirche Schulen schließt? Ein Beitrag von Wolfgang Thierse und P. Klaus Mertes SJ.

Der äußere Grund für die Entscheidungen sind die Finanzen. Die Personalkosten, besonders die erheblichen Pensionslasten, sind auf Dauer nicht mehr zu tragen. Dahinter aber verbirgt sich ein langer Prozess, mit dem eine große Geschichte zu Ende zu gehen droht. Über Jahrhunderte hinweg haben insbesondere katholische Männer- und Frauenorden – finanziell gesehen: aufgrund ihres Armutsgelübdes – eine Bildungsbewegung getragen, die Generationen von Jungen und Mädchen sozialen Aufstieg und Partizipation ermöglichte. Die Kirchen blieben auch dann die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Partner für Bildung und Erziehung, als der Staat im 19. Jahrhundert nach und nach immer mehr Verantwortung für Bildung übernahm. Das hat sich geändert. Heute hängen die kirchlichen Schulen, nicht zuletzt wegen des Rückgangs der Orden, immer mehr am Tropf staatlicher Förderung. Sie erfüllen zwar nach wie vor – meist kostengünstiger als die staatlichen Schulen – einen Auftrag als „Ersatzschulen“ und entlasten damit den Staat. Würden die kirchlichen Kitas und Schulen wegfallen, müsste der Staat einsteigen. Aber auf Dauer geht den Diözesen und Orden offensichtlich für ihre verbliebenen Schulen die Puste aus.

Doch Finanzen sind nicht alles. Es gibt auch innere Gründe für das gewachsene bildungspolitische Desinteresse in den Diözesen und Orden. Die Motivation schwindet, mit eigener, intrinsischer Motivation dem Staat als starker zivilgesellschaftlicher Partner bei der Bildung zur Seite zu stehen. Das kirchliche Leben zieht sich selbst postmodern immer mehr auf Gemeinde zurück. Die allgemeine Stimmung, dass der Staat für Bildung zuständig zu sein habe, dass er es ist, der sich um alle gesellschaftspolitischen Themen und Probleme zu kümmern habe – diese Stimmung findet auch in kirchlichen Kreisen Widerhall. Wozu dann überhaupt noch katholische, kirchliche Schulen?

In katholischen Kitas und Schulen mangelt es nicht an Nachfrage

Dabei ist unbestritten, dass die Schulen in eigener Trägerschaft bis heute der Exportschlager der katholischen Kirche schlechthin sind. Das sehen die Verantwortlichen in der Kirche durchaus. Wenn es irgendwo der Kirche an Nachfrage nicht mangelt, dann in ihren Kitas und Schulen. Das Vertrauen weiter Elternkreise hat trotz der Missbrauchsenthüllungen nicht nachgelassen. Dies wohl auch deswegen, weil das Schweigen und die Passivität an staatlichen Schulen zu diesem Thema eher misstrauisch macht, während an den kirchlichen Einrichtungen ein bemerkenswerter Gewinn an Kompetenz zu verzeichnen ist, wenn es um Intervention, Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt geht. Die katholischen Schulen werden als sicherer Ort wahrgenommen und zwar nicht, weil man sich wie früher in einem geschlossenen konfessionellen Raum sicherer fühlte, sondern weil sie sich Kompetenz im Umgang mit komplexen pädagogischen Aufgaben erworben haben, wie sie an allen Schulen zu lösen sind. Sie erheben nicht den Anspruch, sich dadurch auszuzeichnen, dass angeblich „bestimmte Probleme“ bei ihnen nicht vorkommen, sondern dadurch, wie sie sich auf diese einstellen und mit ihnen umgehen.   

Was also geht der Gesellschaft verloren, wenn immer mehr katholische Schulen geschlossen werden? Zunächst und vor allem ein zivilgesellschaftlicher Partner, dessen Stärke darin besteht, sich selbst einem am Allgemeinwohl orientierten Anspruch zu stellen und daran auch messen zu lassen. Gerade für den Bildungsbereich gilt, dass der Staat angewiesen ist auf eine Gesellschaft, die sich selbst als Subjekt von Bildung versteht. Subjektwerdung ist ja gerade das Wesen von Bildung. Eine „Bildungsrepublik“ gibt es nur, wenn aus der Gesellschaft selbst heraus am Allgemeinwohl orientierte Antworten auf die bildungspolitischen Herausforderungen formuliert werden, statt bloß Ansprüche an den Staat zu stellen. Der Staat allein kann die „Bildungsrepublik“ nicht machen und sollte es auch besser nicht versuchen! Es war deshalb keineswegs ein gönnerhaftes Angebot des Staates, als das Grundgesetz 1949 privaten Trägern ein Recht auf die Einrichtung von Schulen zusagte. Vielmehr steckte dahinter die Einsicht, dass es für die Gesellschaft wünschenswert ist, wenn der Staat nicht alleiniger Träger von Bildung ist. (Wie das in der DDR der Fall war. Gerade im Bildungswesen wurde sichtbar, dass und wie sehr sie ein vormundschaftlicher Staat, eine weltanschauliche Erziehungsdiktatur gewesen ist.)

Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch als Gewinn

Katholische Schulen stellen einen öffentlich erkennbaren Anspruch an sich selbst, an dem sie sich messen lassen. Das ist für die Gesellschaft ein großer Wert. Er ermöglicht Vergleich, Selbstreflexion und Auseinandersetzung. Das Scheitern an dem Anspruch ist natürlich nicht ausgeschlossen. Für die katholischen Schulen war in dieser Hinsicht die Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch von großer Bedeutung. Sie hat zu einer kritischen Relecture der eigenen pädagogischen Konzeption und Praxis geführt und damit auch das eigene Profil neu geschärft. Das ist ein Gewinn, der auch für die staatliche Schule fruchtbar gemacht werden könnte, die beim Thema Missbrauch bis heute eher schweigt. 

Katholische Schulen bringen Erfahrungen und Kompetenzen im Umgang mit den religiösen Fragen von Schülerinnen und Schülern ein. Schon längst haben sich die katholischen Schulen der konfessions- und religionspluralen Nachfrage geöffnet, einschließlich der Nachfrage von religiös Suchenden, die an ihren Türen anklopfen. Sie integrieren theologische Bildung in ihr pädagogisches Konzept – nicht nur im Sinne des Erwerbs von Wissen über Religion, sondern auch im Sinne der Befähigung zu einem eigenen kritischen Urteil. „Ausgrenzender Humanismus“ (Charles Taylor) an staatlichen Schulen tendiert hingegen dazu, theologische Fragen aus einem Allgemeinbildungskonzept auszuklammern. Die „Frage nach Gott“ wird auf Folklore, oder seriöser: auf „Werte“ reduziert. Oder sie wird lediglich in Krisensituationen thematisiert und zwar als Problem, wenn es wieder einmal zu „konfrontativen Religionsbekundungen“ einzelner Schüler oder Schülergruppen gekommen ist. Doch was macht es mit unserer Gesellschaft, wenn eine in religiösen Fragen sprachlose Lehrerschaft auf religiös geprägte oder religiös suchende Jugendliche stößt, die es weiterhin geben wird – und zwar nicht nur unter Jugendlichen aus konfessionell gebundenen Herkunftsmilieus, sondern unter allen Jugendlichen, die in sich Fragen nach Sinn und Bedeutung des Ganzen des Lebens entdecken? Je mehr ihre Fragen vom Bildungsbetrieb als irrelevant abgetan werden, um so mehr liefert der Betrieb die Kinder und Jugendlichen denjenigen aus, die sie mit den einfachen Antworten in die religiöse Unmündigkeit locken. Ohne kirchliche Schulen ginge der säkularen Gesellschaft ein Partner verloren, der Erfahrungen mit theologischer Bildung hat und dazu über nachvollziehbare Qualitätskriterien verfügt.

Erfahrungsschatz, um Schlüsselsituationen des Lebens gemeinsam zu gestalten

Nicht nur das Curriculum setzt die Themen in den Schulen, sondern auch das Leben. Die großen existentiellen Fragen brechen immer wieder in den Schulbetrieb ein: Tod oder schwere Erkrankung eines Mitschülers oder einer Lehrerin, Umgang mit Spaltungen in Kriegen oder Pandemien, gegenseitige Befremdungen durch kulturelle Unterschiede, aber auch freudige Ereignisse wie Geburt, Begrüßungs- und Abschiedsfeste und Jubiläen. Katholische Schulen verfügen über einen reichen Fundus an Erfahrungen, wie eine Gemeinschaft Schlüsselsituationen des Lebens gemeinsam gestalten kann: Riten der Stille, wenn alle vor dem Größeren verstummen, das sich ereignet hat. Gesänge, um gemeinsamer Trauer, Sehnsucht oder Freude Ausdruck zu verleihen. Symbolhandlungen, die nicht erst in der herausfordernden Situation erfunden werden müssen. Als der Berliner Schulsenator in den Tagen nach 9/11 die Schulen in Berlin dazu aufforderte, eine Schweigeminute zu halten, protestierten viele Lehrerinnen und Lehrer mit dem Hinweis, die Schülerinnen und Schüler seien damit überfordert. Sie hatten wohl recht, denn Riten, und seien es nur kleine, unscheinbare, können erst dann in herausfordernden Situationen praktiziert werden und hilfreich sein, wenn sie eingeübt sind.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ihre Schulen bilden ein globales Schulnetzwerk. In vielen Ländern des globalen Südens sind die kirchlichen Schulen bis heute das Rückgrat des Bildungs- und Erziehungssystems. Katholische Schulen in Deutschland praktizieren traditionell eine Vielzahl von Partnerschaften mit Schulen aus aller Welt. Sie vermitteln dadurch ein Bewusstsein für den globalen Aspekt von Bildung. PISA und die OECD stellen zwar auch einen globalen Anspruch, setzen aber inhaltlich einen anderen Akzent. Sie leben vom Begriff der „Kompetenzen“. Der Sinn dieses Konzeptes besteht darin, internationale Vergleichbarkeit zu ermöglichen. So kann man dann die Leistung chinesischer Schüler mit denen europäischer Schüler vergleichen. Unter inhaltlicher Rücksicht erfolgt die Bewertung der Vergleichsergebnisse durch den Markt. Denn der Markt funktioniert tatsächlich global nach denselben Prinzipien. Er kann alle kulturellen Besonderheiten von Traditionen und Kulturen relativieren und sich ihrer im Fall der Fälle zu seinen Zwecken bedienen. Um aber die Frage nach der Gerechtigkeit zu stellen, ist mehr notwendig als Kompetenzvergleich. Es bedarf dazu eines ethisch gehaltvollen Begriffs von „Menschheit“, wie er (nicht nur, aber doch auch ganz entschieden) im moralischen Universalismus des christlichen Menschenbilds gründet. Der Gesellschaft würde mit dem Ende katholischer Schulen eine wichtige Stimme abhandenkommen, die die Gerechtigkeitsfrage als globale Frage in den Bildungskanon einbringt.

Für eine vielfältige Schullandschaft

Katholische, kirchliche Schulen sind Teil der kulturellen, religiös-weltanschaulichen Vielfalt unserer Gesellschaft und sollten es bleiben! Wer sich in Politik und Gesellschaft – manchmal geradezu pathetisch zu Diversität als Reichtum und als produktive Kraft bekennt, der muss ein Interesse daran haben, dass auch die Schullandschaft vielfältig bleibt. Und deshalb geht es die Gesellschaft etwas an, wenn die katholische Kirche Schulen schließt. Denn eine Gesellschaft der Freiheit darf keine der Nivellierung sein, sondern eine Gesellschaft sichtbarer Vielfalt, vielfältiger Sichtbarkeit – in Kultur, in Religion, in der Bildung!

Der Beitrag erschien in gekürzter Fassung in der FAZ vom 11. Mai 2023.

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