Am Tag nach der Graduierungsfeier in Bamyan fuhren wir mit einer Gruppe von Studentinnen zu einem Skihang auf 3000 m, an dem die Männer einen Abfahrtslauf veranstalteten. Skifahren war bislang die Domäne der Männer. Drei junge Frauen hatten schon vor einiger Zeit mit dem Skifahren begonnen, völlig ungewohnt und undenkbar vor 5 Jahren. Es kam auch eine Gruppe weiterer Studentinnen mit, die noch nie auf Skiern standen. Wir hatten zusätzliche Skier vom Skiclub Bamyan dabei, und alle probierten es aus, rutschten mutig zum ersten Mal auf den Brettern den Hang hinunter. Sie hatten ihren Spass und sie werden es wieder tun. Der Skiclub der Frauen von Bamyan war geboren. Es ist dieses Selbstvertrauen, das in den jungen Frauen im Studium wächst, die Erkenntnis, ihren männlichen Kommilitonen gegenüber gleichgestellt zu sein. Im JWL Computerlabor sind Studentinnen und Studenten ungezwungen und respektvoll zusammen.
Nach dem Skifahren trafen wir uns am Spätnachmittag noch mit dem Fahrradclub der Mädchen. Viele junge Frauen müssen oft über eine Stunde zu Fuss laufen, um in des Lernzentrum von JWL zu kommen. Die Jungs nehmen das Fahrrad oder manche auch des Moped. So entschied sich eine Studentin vor 2 Jahren, das Fahrradfahren zu lernen. Sie wurde von den Jungs im Dorf beschimpft und mit Steinen beworfen. Ihr Vater jedoch, der selber Imam ist, versicherte ihr, dass es keine Stelle im Quran gäbe, die den Mädchen und Frauen das Fahrradfahren verbieten würde. Sie blieb standhaft, fuhr mit dem Fahrrad und brachte anderen Mädchen das Fahrradfahren bei. Der daraus entstandene Fahrradclub der Mädchen gewann schon einen Preis bei einem Rennen in Kabul. Die junge Frau sagte, dass sie auf dem Fahrrad die Freiheit spüre, dorthin zu fahren, wohin sie möchte.
Die Studentinnen von JWL sind Vorreiterinnen einer sanften Befreiung der Frauen aber auch der Männer. Im Studium gewinnen sie das Selbstbewußtsein, mit dem Sie den Mut haben zu jenen Veränderungen, die ihnen helfen. Das kritische Denken, das mit dem Grundstudium in Liberal Arts gefördert wird, läßt sie Fragen stellen und manche unterdrückende Tradition verändern. Es ist keine militante und gewaltsame Veränderung, wie jene der Taliban, denn Gewalt ist nicht befreiend sondern unterdrückend, sie ist dumm und hält dumm. Befreiung kann nur sanft sein, ja, vielleicht kann man sagen, mit weiblicher Sanftheit befreiend. Die Studentinnen machen ihre männlichen Kommilitonen nicht herunter, sie wollen nur gleiche Rechte und Chancen haben. Indem sich die jungen Frauen durch kritisches Hinterfragen und neues Handeln sanft von ihren eigenen Unfreiheiten befreien, befreien sie auch ihre Brüder, die verantwortlich sind für die unterdrückenden Verzerrungen. Es hat wohl einen tiefen Sinn, dass es in Bamyan immer eine Statue des männlichen und eine des weiblichen Buddhas in Komplementarität gab. Es ist nicht einfach, beide Statuen aus dem zerbröseltem Stein neu aufzurichten, aber es ist möglich und noch wichtiger die Werte einer toleranten und freien Kultur in den Herzen und Köpfen der neuen Generation in Bamyan aufzurichten.
In Bamyan sind die Menschen freier und in Bamyan sind die Menschen auch friedlicher. Während in anderen Teilen Afghanistans noch die blinde Gewalt herrscht, besteht in Bamyan und an manch anderen Orten in Afghanistan, aber auch in den Lernzentren von JWL in Herat, Gibrael und bald Sheikmiran in der Daikundi Provinz wie in Bamyan ein friedlicher Raum, in dem sich durch Bildung eine sanfte Befreiung vollzieht. Das ist die Generation, die Afghanistan in wenigen Jahren lenken wird, so die Hoffnung von JWL. Es werden vor allem die Frauen sein, die diese Befreiung ihrer selbst und ihrer Brüder bewirken.
Dieser Artikel ist zuerst auf dem Blog feinschwarz.net erschienen.