Ein bekanntes Zitat des Ignatius lautet: «Wenige Menschen ahnen, was Gott aus ihnen machen würde, wenn sie sich nur ganz seiner Führung anvertrauten.» P. Beat Altenbach SJ spricht im Interview mit der Schweizerischen Kirchenzeitung über den Schatz ignatianischer Spiritualität.
Meister in Exerzitien, gefragte geistliche Begleiter, Kenner der Unterscheidung der Geister und Gefährten Jesu – das verbinde ich mit Jesuiten. Da und dort begegne ich Elementen aus der ignatianischen Spiritualität wie dem anziehenden «magis» (Mehr), der anspruchsvollen Haltung der Indifferenz, dem Gebet der liebenden Aufmerksamkeit oder dem «ad majorem Dei gloriam» (alles zur grösseren Ehre Gottes). Die ignatianische Spiritualität ist reich. Diesen Schatz will ich näher erkunden. Dafür treffe ich mich mit P. Beat Altenbach SJ. Er lebt seit gut einem Jahr in der Kommunität in Carouge Er ist Oberer dieser Kommunität und arbeitet darüber hinaus in der Gefängnisseelsorge und als geistlicher Begleiter in der Jugendpastoral. Wir sitzen in seinem Büro. Auf dem Tisch brennt eine Kerze, eine kleine Ikone steht da. Der Kaffee verströmt einen feinen Duft.
SKZ: P. Beat Altenbach, welches ist der grösste Schatz ignatianischer Spiritualität? Welches ist der Kern, aus dem sich alles andere entfaltet?
Beat Altenbach SJ: Jetzt müsste ich eigentlich sagen: die Exerzitien. Doch für mich liegt der grösste Schatz in der Unterscheidung der Geister, der Pädagogik, die hinter den Exerzitien steht und die ich auch jenseits der Exerzitien leben kann. Worum handelt es sich? Kurz gesagt, es geht darum, seine Erfahrungen wahrzunehmen und zu reflektieren und dies im Blick auf Gott und im Gespräch mit Gott. Es handelt sich hier um die Grunderfahrung des hl. Ignatius während seiner langen Genesungszeit. Er lag nach seiner Kriegsverletzung monatelang auf dem Krankenlager und hatte als Lektüre einzig ein Buch mit Heiligenlegenden und die «Vita Christi» des Kartäusers Ludolf von Sachsen. Während den vielen Wochen auf dem Krankenbett gab er sich Tagträumen hin, wie er als Ritter durch Europa reitet, für seinen Dienstherrn kämpft und siegt. Es waren Heldenfantasien. Angeregt durch seine Lektüre begann er auch, sich vorzustellen, wie er als armer Bettler für Christus durch Europa pilgert. Dabei beobachtete er, dass die Vorstellungen unterschiedliche Wirkungen auf ihn hatten: Bei den Ritterträumen war er nachher müde und leer; bei den Bettlerträumen fühlte er sich wach und lebendig. Er merkte, dass seine Tagträume einen je unterschiedlichen Nachgeschmack haben. Das war für ihn kein Zufall. Die einen, so sagte er sich, führen eher zu Gott hin und die anderen eher von ihm weg, die einen kommen eher von Gott, die anderen eher nicht. Daraufhin begann er, mehr auf seine inneren Regungen zu achten und seine Wahrnehmungen zu systematisieren. Das war der Ursprung der Unterscheidung der Geister. Diese Erfahrung von Ignatius kann im Prinzip jede und jeder nachvollziehen. Genuin an Ignatius ist, dass er diesen Reflexionsprozess in einen geistlichen Übungsweg gepackt hat, die sogenannten Exerzitien.
Ich achte auf meine inneren Regungen, nehme sie wahr und reflektiere sie. Das ist der Kern.
Ja, ich befrage meine Alltagsrealität und wie ich sie erlebe. Ich mache mir bewusst, was in mir passiert und um mich herum geschieht. Ich nehme wahr, reflektiere, unterscheide und entscheide mich dann für das, was mehr lebendig macht, mehr Kraft und Freude schenkt und inneren Frieden gibt. Es ist eine Weise, mein Leben ganzheitlich wahrzunehmen. Beispielsweise nehme ich in einer Situation Angstgefühle wahr. Ich benenne sie. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen mir und den Gefühlen. Ich habe sie, aber ich bin nicht identisch mit ihnen. Darauf folgen die Schritte der Unterscheidung und Entscheidung. Ich frage nach den Gründen der Angst, ich unterscheide Motive. Es ist ein Reflexionsprozess. Hierdurch wird ein Raum innerer Freiheit eröffnet. Einen solchen Prozess können alle machen. Dazu braucht man nicht religiös zu sein. Doch Ignatius selber stellt diesen Prozess in die betende Begegnung mit Gott. Er suchte in allem die Stimme Gottes. Dieses Hinhorchen auf die inneren Regungen wird zum Ort der Kommunikation mit Gott. Ich kann diesen Prozess auch mit anderen zusammen machen, beispielsweise mit meinen Mitbrüdern. Oder jemand kann ihn mit seiner Partnerin oder seinem Partner machen. Dieses Zusammenspiel von Erfahrung und Reflexion ist der Schlüssel ignatianischer Spiritualität, ihre innere Pädagogik. Es macht diese Spiritualität so modern; sie ist ganzheitlich – Erfahrung und Reflexion, Gefühle und Vernunft.
Wie pflegen Sie diesen Reflexionsprozess?
Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, der abendliche Tagesrückblick, ist der Ort par excellence, wo wir diese Pädagogik einüben und pflegen. Es ist der betende Blick auf die Erfahrungen des vergangenen Tages, bei dem ich übe, die verschiedenen inneren Stimmen zu unterscheiden und nach den Momenten des «brennenden» Herzens zu suchen (vgl. Lk 24,32). Kennen Sie die Tagebücher von Etty Hillesum?
Ja, ich habe sie vor Jahren gelesen.
Die deutsche Übersetzung trägt den Titel «Das denkende Herz». Dieser Titel fasst die ignatianische Spiritualität für mich zusammen. Ich habe das Buch mit ignatianischer Brille gelesen. Etty Hillesum praktiziert die Unterscheidung der Geister, wohl ohne je von ignatianischer Pädagogik gehört zu haben. In ihrem Tagebuch schreibt sie: «Morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‹mich nach innen wenden›, horchen nach dem, was in mir ist. ‹Sich versenken›.» Und ganz ignatianisch, dass ich bei mir beginnen muss, das Leben zu ordnen, ist folgender Satz: «Die Schlechtigkeit der anderen ist auch in uns vorhanden […] Ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äusseren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Innern gebessert haben.»
Ich finde dieses Wahrnehmen, Reflektieren, Unterscheiden und Entscheiden sehr anspruchsvoll, von den grossen Exerzitien ganz zu schweigen. Welche Erfahrungen machen Sie als Exerzitienleiter und geistlicher Begleiter von jungen Menschen?
Bei meiner Arbeit mit jungen Menschen beginne ich mit dem Wahrnehmen und Benennen von Erfahrung im Alltag und der Reflexion darüber. Exerzitien sind für die meisten ein zu grosser Schritt. Es braucht einen Weg dahin. Selbst das bewusste Wahrnehmen und das Reflektieren von inneren Erfahrungen sind sehr anspruchsvoll. Ich beobachte, dass viele Menschen überfordert sind, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, sie anzuschauen, sie auszuhalten. Manche Gefühle sind schmerzhaft, machen Angst, wecken Schuldgefühle. Auch in der Kirche sehe ich diesbezüglich Blockaden. Bei Exerzitien mit kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bin ich auch schon auf Widerstände gestossen. Es gibt Vorurteile gegenüber ignatianischen Exerzitien. Es seien «Gschpürschmi-Exerzitien». Exerzitien sind eine Übungsform. Sie sind ein Erfahrungs- und Begegnungsraum mit sich und mit Gott. Ignatianische Exerzitien sind eine besondere Art des Meditierens. Sie sind spielerisch. Derjenige, der die Übungen macht, versucht mit seiner Fantasie in die Szenen der biblischen Erzählung hineinzutreten, mit der Erzählung mitzugehen. Meistens überlegen wir bei einer biblischen Erzählung sofort, was will Gott mir durch sie sagen. Wir denken gleich darüber nach, reflektieren, ohne zuerst unsere inneren Regungen wahrzunehmen. Manchmal ist auch Leere da, passiert gar nichts. Auch sie habe ich wahrzunehmen, auszuhalten und anzunehmen. Die Übungen sind ein Weg, um vom Leistungsdenken wegzukommen, auch im Geistlichen. Ich muss im Gespräch mit demjenigen, der die Übungen gibt, nichts vorweisen. Ignatius schaffte damals einen genuinen Zugang zur heiligen Schrift von der Imagination her. Die Übung besteht darin, sich die Szene der biblischen Erzählung vorzustellen, in die Welt der Geschichte einzutreten. Dabei achte ich auf meine inneren Regungen, ich halte sie aus, nehme sie ins Gebet und bitte Gott auch um Hilfe, wenn ich sie nicht verstehe. Ich sehe diesen Weg als eine grosse Chance. Die Erzählung wird zum Erfahrungs- und Begegnungsraum mit mir selber und mit Gott.
Ich beobachte ebenfalls, dass das Leistungsdenken alle Lebensbereiche durchzieht.
Das Christentum hat sich zu einer Form von Ethik entwickelt. Jesus von Nazareth wird oft vor allem als ethisches Vorbild gesehen. In Predigten landauf und landab wird der christliche Glaube auf soziales und ökologisches Engagement reduziert. Wir sollen, müssen uns engagieren. Das ist ein fundamentales Missverständnis des christlichen Glaubens. Da fehlt das Wesentliche, der Kern, das Herz des Glaubens. Jesus zeigt uns, wer Gott ist. Im Johannesevangelium heisst es: «Wer mich sieht, der sieht den Vater» (Joh 14,9). Jesus zeigt, wer Gott ist und wer Gott für mich sein will. Das steht an erster Stelle. Die Frage nach dem Tun folgt daraus. Die Geschichte des Zachäus in Lukas 19 erzählt paradigmatisch: Gott ist der, der mich sieht, mich kennt, mich bei meinem Namen ruft und bei mir einkehrt. Ich empfange zuerst. Die Erzählung lädt mich ein, auch mich selbst im liebenden Blick Gottes wahrzunehmen, nicht durch Bewerten und Urteilen. In der Zachäuserzählung finden Sie keinen Vorwurf und keine Forderung von Seiten Jesu. Die Erfahrung des Erkannt- und Aufgehobenseins bei Gott macht mich frei und weckt in mir die Sehnsucht, etwas zu tun als Antwort auf diese Liebe. Zachäus will die Hälfte seines Vermögens den Armen geben. In den Exerzitien geht es darum, genau diese Erfahrung zu machen und dann zu fragen, wie ich selber auf die empfangene Liebe mit meinem Leben antworten möchte. Ignatianische Spiritualität ist ein Korrektiv gegen die Ethisierung des christlichen Glaubens. Die Exerzitien lösen eine Dynamik aus, die das Leistungsdenken zumindest etwas korrigiert. Das Evangelium ist die radikale Umkehr der Wenn-dann-Logik. Mir begegnen viele Menschen in den Exerzitien, die ihr Leben nach der Wenn-dann-Logik eingerichtet haben. Wenn ich gut bin, mich ganz in den Dienst stelle, dann .... Die Botschaft des Evangeliums lautet genau umgekehrt: Du bist gesehen, du bist von Gott geliebt. Gott sagt Ja zu dir. Aus dieser Erfahrung erwächst mein «ich will dies oder jenes tun», mein Engagement. Gott sehnt sich nach meiner Antwort, verlangt sie nicht. Bei ihm gibt es kein «du sollst, du musst». Verstehen Sie mich richtig! Der ethische Appell ist nicht falsch; aber er wird schwierig, wenn er vom Kern des Evangeliums losgelöst wird.
Die Gesellschaft Jesu hat sich für die Jahre 2019 bis 2029 vier weltweite apostolische Präferenzen gesetzt: einen Weg zu Gott finden helfen; an der Seite der Benachteiligten sein; mit jungen Menschen unterwegs sein; für und mit der Schöpfung leben. Wie setzen Sie diese um?
Bei den apostolischen Präferenzen handelt es sich nicht um Aufgaben, sondern um vier Perspektiven, unter denen wir all unser Tun reflektieren und ausrichten sollen. Sie sind eine Brille, mit der wir unser Tun anschauen. Sie helfen Akzente zu setzen und sind Kriterien bei Entscheidungen. Bei mir kommen alle vier Präferenzen zum Tragen. Als Gefängnisseelsorger bin ich an der Seite der Randständigen, als geistlicher Begleiter und Exerzitienleiter helfe ich Menschen, einen Weg zu Gott zu finden. Und da ich in der Jugendpastoral engagiert bin, halte ich meine zeitlichen Kapazitäten bewusst frei für junge Menschen. Zusammen mit der Kommunität vor Ort überlege ich, wie wir bewusster leben wollen, wo wir einkaufen, wie viel wir heizen sollen, wie wir mehrheitlich unterwegs sein wollen. Das Motto des ignatianischen Jahres heisst: Alles in Christus neu sehen. Als Gefährte Jesu blicke ich mit Christus auf die Welt, gehe ich mit ihm, sehe ich mit ihm die Leiden der Welt, gebe mit ihm die Liebe weiter und arbeite ich mit ihm an einer guten Zukunft für die Menschen. Ich bin ein geliebtes Kind Gottes und ich darf an seinem Projekt mitwirken. Mit den Präferenzen befrage ich meine Lebens- und Arbeitssituation. Ich frage mich: Wie will ich auf die Liebe Gottes antworten? Was ist der je grössere Wille Gottes? Wo kann ich mehr (magis) antworten und Frucht bringen? Auch da habe ich aufzupassen, dass ich nicht in eine Leistungsdynamik komme. Das Leistungsdenken wird immer mit uns sein, solange wir leben. Die entscheidende Frage lautet: Tue ich etwas, um zu empfangen? Oder habe ich empfangen und will nun etwas tun? Welche Dynamik ist ursprünglicher? Mein Tun ist meine liebende Antwort auf die Liebe Gottes. Darin liegt eine grosse innere Freiheit.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie haben Chemie studiert und in Naturwissenschaften promoviert. Wie kamen Sie dazu, Jesuit zu werden?
Als Kind und Jugendlicher war ich fasziniert von der benediktinischen Lebensweise und Spiritualität. Jesuiten lernte ich in der Schule kennen. Ein Religionslehrer war Jesuit. Dieser war immer positiv eingestellt, strahlte Lebensfreude aus und zeigte uns Jugendlichen die Schönheit der Schöpfung. Während meiner Studienzeit kam ich in Kontakt mit der Uniseelsorge, lernte die ignatianische Spiritualität kennen. Ich hatte in der Zeit keinen einzigen Gedanken an einen Lebensentwurf «Ordensmann». Gegen Ende meiner Promotionszeit ging ich für eine Woche zu den Benediktinern nach Mariastein, um an meiner Dissertation zu arbeiten. An diesem Ort kamen die Fragen nach meinem Lebensentwurf hoch. Die Dissertation ruhte. Am Ende der Woche war das Ergebnis: Ich kann und ich will. Es war eine innere Evidenz. Für mich war klar, ich werde Benediktiner. Doch geprägt durch die ignatianische Spiritualität wusste ich, wie wichtig bei Entscheidungen eine wählbare Alternative ist. Und so trat ich bewusst in einen Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess ein und liess mich dabei von meinem Studentenseelsorger, einem Jesuiten, geistlich begleiten. In diesem Prozess kristallisierte sich der Weg zu den Jesuiten heraus.