• Spielendes Kind vor einer zerstörten Kirche in Lukaschiwka (Nordukraine) im April 2022. © Caritas Spes
  • Ausgebombte Wohnhäuser in Borodianka (nahe Kiew) im April 2022. © Caritas Spes
  • Die Stadt Charkiw nahe der russischen Grenze war besonders heftigen Angriffen ausgesetzt. © Caritas Spes.
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Wiederkehr des Bösen

„Irgendwie glaubten wir ja alle, das Böse sei verschwunden“, schreibt Stefan Kiechle SJ in seinem neuen Editorial in "Stimmen der Zeit". Die Themen Sünde, Schuld und Vergebung verschwanden weitgehend aus der Katechese, der Religionspädagogik und der Predigt. Zu moralisieren war verpönt, ebenso die Rede von Teufel, Hölle und Gericht. „Mit Macht kehrt nun das Böse zurück“, so Kiechle: „Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen, brandschatzen und morden? Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben? Was in Kirchenführern, die den Angriff moralisch und religiös rechtfertigen? Was in Fernsehmoderatoren, die dreist lügen?“ Wie kann eine christliche Antwort auf das Böse heute aussehen?

Irgendwie glaubten wir ja alle, das Böse sei überwunden, eine Macht des Bösen gebe es nicht. Jeder Mensch ist im Kern gut. Gott ist barmherzig, er heilt die Wunden und vergibt die Schuld – insofern jemand überhaupt schuldig werden kann. In der Katechese oder Religionspädagogik, auch in der Predigt war es verpönt zu „moralisieren“, also verwerfliches Verhalten zu benennen, öffentlich zu verurteilen oder gar Verhaltensänderung anzumahnen. Die Themen Sünde, Schuld und Vergebung brauchte es im Grunde nicht mehr, sie verschwanden weitgehend aus der Unterweisung und der Liturgie, auch aus der theologischen Lehre. Die Praxis der Beichte wurde vergessen, sie tendiert heute in weiten christlichen Kreisen gegen Null. Erst recht verschwanden Themen wie Kreuzesleid und Sühne, Strafe und Gericht, Teufel und Fegefeuer und Hölle. Lieber schaute man solidarisch auf leidende Menschen als Opfer ungerechter Verhältnisse oder auch böser Mächte. Opfer sind verletzt und bedürfen der Heilung – Jesus wurde vor allem als Heiler, als Therapeut oder auch als Kritiker der sozialen Verhältnisse gesehen. Alles nicht falsch. Allerdings wurden kaum mehr die persönlich verantwortlichen Täter des Bösen oder Jesus als deren Erlöser beachtet, zumindest nicht in der theologischen oder spirituellen Deutung.

Mit Macht kehrt nun das Böse zurück: Das beginnt mit der Klimakatastrophe, die ja einerseits „natürlich“ ist, aber doch auch menschengemacht: In einem einzigartigen Akt der Lebens- und Konsumgier zerstört die Menschheit gerade – kollektiv und individuell – ihre Lebensgrundlage. Weiter geht es mit der Corona-Pandemie: Auch diese ist „Natur“, aber vielleicht doch mit erheblichen menschlichen Verstrickungen? In der weltweiten Kirche wird sexualisierte Gewalt entdeckt: Diese ist sicher nicht nur pathologisch verursacht, sondern sie zeigt die Fratze des Bösen, sowohl in einzelnen Tätern als auch indirekt im systemischen Versagen. Schließlich der Ukraine-Krieg, der nicht nur die Bosheit eines hegemonialen Anspruchs enthüllt, sondern auch dessen toxisches soziales und politisches Umfeld, nicht nur eine fundamentalistische national-religiöse Ideologie, sondern auch eine riesige Militärmaschinerie von Gewalt und Grausamkeit.

Das Böse ist zurück. Spricht man nun wieder von der Macht des Bösen, von dem Bösen, gar vom Dämon oder Teufel? Gibt es so etwas wie eine Besessenheit durch das Böse oder den Dämon? Individuell in einem Diktator und in den zahlreichen Kriegsverbrechern oder auch kollektiv in der kriegerischen Administration und in den oft rauschhaften Gewaltorgien des Militärs? Theologie und Spiritualität müssen hier schmerzhaft ein altes, lange vermiedenes Thema neu bearbeiten.

Das Böse manifestiert sich in der Gewalt, sei diese psychische oder physische Gewalt. Zuvor und gleichzeitig zeigt es sich in der Lüge – durch die ganze Geschichte und immer wieder. Die Bilder von Butscha oder Mariupol und ihre unterschiedlichen Deutungen zeigen diese Dynamik des Bösen. Übrigens steht das alles schon in der Bibel – wir wollten es nicht sehen.

Abgründige Fragen stellen sich: Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen, brandschatzen und morden? Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben? Was in Kirchenführern, die den Angriff moralisch und religiös rechtfertigen? Was in Fernsehmoderatoren, die dreist lügen? Wer hat sie alle dazu erzogen, ihren Geist vergiftet? Und das in einem kultivierten, christlichen Land? Oder: Wie konnten wir im Westen das alles übersehen? Situationen immer wieder schönreden, zu unserem geheiligten Vorteil? Zu Recht zeigen wir heute mit dem Finger auf Russland – aber auch im Westen gibt es Naivität und Dummheit, Lüge und Machtgier, Stolz und Rassismus, ja auch Unterdrückung und Gewalt. Müssen wir nicht lernen, das Böse neu ernst zu nehmen, es zu identifizieren und zu benennen, es zu verurteilen und zu bekämpfen? In diesem Sinn also zu moralisieren, im Kleinen bei uns selbst ebenso wie im Großen der Weltpolitik? Und dann neu die Botschaft des Evangeliums zu verstehen, nämlich wie der Weg zur Versöhnung zu beschreiten ist, ohne das Böse und den Ernst des Ethischen zu verharmlosen?

Das Böse verändert auch unser Jesus-Bild: Jesus predigte gegen Heuchelei und Unrecht, gegen Gewalt und Missbrauch. Er drohte Gericht und Hölle an. Er war Therapeut der Opfer des Bösen und zugleich Ankläger der Täter des Bösen. Weil jedoch das Böse den nicht ertrug, der es demaskierte, brachte es Jesus grausam um. Und die Auferweckung? Sie ist Überwindung des Todes, aber zugleich auch Überwindung der Macht des Bösen. Sie ist neues Leben, aber zuvor und zugleich auch Gericht. Als Richter über Lebende und Tote wird Jesus Christus wiederkommen. Ohne Gericht wird Gott das Gute nicht durchsetzen. Sünder sollen das Gericht durchaus fürchten – off en bleibt, ob sie dies zur Umkehr bewegen wird. Eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten innergeschichtlicher Umkehr ist nicht unchristlich. Wir Christen dürfen hoff en, dass die Hölle kraft göttlicher Gnade leer sein wird, aber wir wissen es nicht.

Autor:

Stefan Kiechle SJ

Pater Stefan Kiechle SJ ist 1982 in den Jesuitenorden eingetreten und wurde 1989 zum Priester geweiht. Er war von 1998 bis 2007 Novizenmeister und hat in verschiedenen Aufgaben in der Hochschulseelsorge und Exerzitienbegleitung gearbeitet. Von 2010 bis 2017 war er Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten. Er ist Delegat für Ignatianische Spiritualität und Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit".

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