Wir sind die Höhlenbewohner von Morgen

Faszinierende Felsenbilder im Museum Rietberg lassen mich eintauchen in eine längst vergangene Vorzeit. Die Menschen wählten Motive, Farben, Formen, die bei Klee, Picasso, Miró, Pollock, Giacometti wieder auftauchen. Wie werden uns die Menschen in ferner Zukunft interpretieren, wenn sie all unsere Corona-Darstellungen entdecken? ­­­

Es gibt neben der Pandemie auch noch andere Themen. Der Besuch einer Ausstellung bildet eine derartige willkommene Gelegenheit. So zum Beispiel «Kunst der Vorzeit» im Museum Rietberg in Zürich-Enge, die noch bis zum 11. Juli 2021 gezeigt wird. Zu sehen sind faszinierende Felsenbilder einer längst vergangenen Vorzeit und ihr Einfluss bis in die Moderne.

Eine vielschichtige Ausstellung. Zur Einführung wird mir vor Augen geführt, dass die Zeichnungen in den folgenden Sälen ursprünglich aus einer wissenschaftlichen Dokumentation über  jahrtausendalte Höhlen- und Felsmalereien stammen. Während den abenteuerlichen Entdeckungs- und Forschungsexpeditionen von Leo Frobenius (1873 – 1938) schuf er mit seinem Team vor Ort von den ursprünglichen Vor-Bildern massstabgetreue Ab-Bilder. Damals fehlte die Möglichkeit der Farbfotographie. 

Die ausgestellten Bilder sind von archaischer Kraft und lassen mich eintauchen in eine mythologische Welt von Farben und Formen. Wir haben als Betrachtende keine weiteren Informationen zu den Künstlerinnen und Künstlern noch zu den Kulturen, in denen sie geschaffen wurden. So muss ich  einerseits eine zeitliche Distanz von mehreren tausend Jahren aushalten. Gleichzeitig finden sich viele Anknüpfungspunkte in der Kunstgeschichte, wie die Ausstellung aufzeigt: Werke berühmter Kunstschaffenden basieren auf diesen archaischen Formen – genannt werden unter anderen genannt werden unter anderen Klee, Picasso, Miró, Pollock und Giacometti.

Was hat die Menschen vor Jahrtausenden  bewogen, diese Bilder zu schaffen? Welche Erfahrungen wollten sie abbilden? Was wollten sie mit diesen Abbildungen kommunizieren? Die Religionsgeschichte nennt als ein wichtiges Motiv das Ringen des Menschen, um aus der lebensbedrohlichen Erfahrung des Chaos zu einer Lebensraum gewährenden Ordnung zu finden. Das Suchen nach einem Bild von der Wirklichkeit, das die Welt zu ordnen vermag. In der jüdisch-christlichen Tradition im Buch Genesis ist dies metaphorisch beschrieben: Aus dem Tohuwabohu, aus dem von Martin Buber umschriebenen Irrsal und Wirrsal, entsteht durch ein ordnendes Wort Lebensraum für die Menschen – der Garten Eden. 

Ob es auch in mir so etwas wie ein Höhlenbewohner-Gen gibt? Wie oft habe wir uns seit Beginn der Pandemie Visualisierungen des Corona-Virus vor Augen geführt. Sie stellen selbst in den höchsten Auflösungen bestenfalls eine Annäherung dar. Sichtbar gemacht werden kann das Virus nur über Elektronenmikroskope. Und diese liefern nur Schwarzweissabbildungen. Bei all den bunten Bildern vom Corona-Erreger und anderen Viren, die sich verbreiten, stammt also die Farbe aus dem Reich der künstlerischen Freiheit.
Und so stelle ich mir vor, wie es den Menschen in ferner Zukunft gehen wird, wenn sie all diese Corona-Darstellungen entdecken. Wie werden sie uns wohl interpretieren? 

Autor:

Missionsprokurator der Jesuiten in der Schweiz. Jahrgang 1964. Nach kaufmännischer Lehre und Berufstätigkeit Erwachsenenmaturität 1989 in St. Gallen. Anschliessend Studium der Theologie in Fribourg und Innsbruck und Berufseinführung in die Pfarreiarbeit in der Diözese St. Gallen. 1996 Noviziat. 1998-2001 Studierendenseelsorge an den Zürcher Hochschulen. 2001-2004 Masterstudium in Entwicklungssoziologie Ateneo de Manila, Philippinen. Von September 2004 bis April 2023 Missionsprokurator und verantwortlich für das Hilfswerk Jesuiten weltweit in Zürich, verbunden mit vielfältiger Projekt-Reisetätigkeit in Afrika, Asien und Südamerika. Engagiert in Netzwerken der Gesellschaft Jesu wie Xavier Network. In der Ausbildung als Jesuit 2011/12 vier Monate Mitarbeit beim Jesuit Refugee Service in der Zentralafrikanischen Republik. Seit 2018 Mitglied der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz im Bereich Weltkirche und Mission. Mitleiter von Studienreisen. Seit Mai 2023 Leiter des Lassalle-Hauses in Bad Schönbrunn.

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